Eine eher ungewohnte Betrachtung eines Verses des NT von unserem User ottonio.

1. Korinther 11:1-16
Die traditionelle sowie die WTG-Interpretation sagt:

Es ist eine Schande für den Mann wenn er sich beim Beten bedeckt. Es ist eine Schande für die Frau wenn sie sich nicht beim Beten bedeckt. ergo: Die Frau muss sich bedecken/verhüllen.

Die "alternative" Interpretation sagt:

Der Mann hat sich beim Beten nicht bedeckt. Es ist erniedrigend wenn sich die Frau bedecken muss. ergo: Die Frau muss sich nicht bedecken.

Obwohl ich mehr der alternativen Interpretation zuneige, gibt es da etwas, was mich bei beiden Interpretationen stört.

Es ist nämlich zu biblischer Zeit (christlich und vorchristlich) niemals (auch nicht im GESETZ) für den Mann eine Schande gewesen, lange Haare zu haben oder mit einer Kopfbedeckung zu beten und zu prophezeien! Die traditionelle und alternative Wiedergabe bezüglich des Mannes ist falsch und anachronistisch.

Bis zu der heutigen Zeit verwenden männliche Juden den Tallit, den Gebetsschal, den sie in der Synagoge bei wichtigen Gebeten sogar über den Kopf ziehen. Auch erinnern wir uns an die (authentischen) Bilder der Pharisäer (sogar in den WTG-Veröffentlichungen), die durchgehend eine Haube oder Schal auf dem Kopf hatten (wie die Scheichs). Dies um anzuzeigen, dass sie permanent im Gebet und heilig waren. Die Nasiräer hatten lange Haare, aber nicht weil sie masochistisch veranlagt waren und Schande auf ihr Haupt bringen wollten ("Demut", wie das die WTG so gern hinstellt), sondern weil sie, ähnlich wie Samson der Richter und Johannes der Täufer, eine heilige und gebetsvolle Pflicht zu erfüllen hatten.

Eine Übersetzung der Bibel ist m.E. nur dann korrekt, wenn sie die näheren Umstände nicht ausser Acht lässt, unter denen sie niedergeschrieben wurde.

Dies bedeutet nun:

Die Männer hatten beim Beten und Prophetisch-Reden einen Tallit, den sie sich über den Kopf zogen. Die Männer hatten Schwierigkeiten damit, dass auch Frauen in der Synagoge beten und prophetisch reden dürften. Sie fanden es zweifelhaft, dass die Frauen dasselbe wie die Männer durften und verweigerten den Frauen den Tallit, d.h. die Bevollmächtigung in der Synagoge/Versammlung ebenfalls beten und prophezeien zu dürfen. Paulus kämpft für das Recht der Frauen, vor Gott gleichberechtigt wie die Männer zu reden und zu prophezeien und somit den Tallit aufzusetzen.

Somit war die Bedeckung oder Verhüllung nicht ein Instrument der Erniedrigung der Frau, sondern ihrer Gleichstellung vor Gott.

siehe die moderne Analogie hierzu:

http://www.hagalil.com/bet-debora/journal/herweg.htm

Eine mögliche Wiedergabe von 1.Korinther 11:1-16, die all dessen Rechnung trägt, ohne in Anachronismus auszuarten wie die traditionelle Ansicht, habe ich mich bemüht zu erstellen. Mir ist bewusst, dass es nicht der Weisheit letzter Schluss ist und dass manches noch ziemlich "holprig" und nicht das "Original" darstellt, aber ich bin sicher: die Richtung stimmt.

1. Korinther 11:1-16, ohne Anachronismus, "Ottonio-Übersetzung der Hl.Schrift":

1 Werdet meine Nachahmer so wie ich Christi Nachahmer bin. 2 Nun, ich lobe euch, dass ihr in allem meiner gedenkt. Dass ihr euch an die Überlieferung haltet 3 – aber so wie ich sie euch übergeben habe – das will ich. Ihr wisst: Christus ist das Haupt des Mannes, der Mann ist das Haupt der Frau, Gott ist das Haupt Christi. 4 Jeder Mann, der mit etwas auf dem Haupt betet oder prophezeit: macht er seinem Haupt Schande? 5 Jede Frau, die mit unverhülltem Haupt betet und prophezeit macht ihrem Haupt Schande, denn ein- und dasselbe ist sie wie eine Kahlgeschorene. 6 Wenn die Frau sich nicht verhüllen darf, dann kann sie sich auch das Haar abschneiden lassen. Wenn es aber eine Schande ist, wenn eine Frau abgeschnittenes Haar oder geschorenes Haar hat, dann soll sie sich auch verhüllen können. 7 Soll sich der Mann nicht das Haupt verhüllen, da er Bild und Herrlichkeit Gottes ist? Die Frau hingegen ist die Herrlichkeit des Mannes. 8 Ist nicht der Mann aus der Frau? Die Frau ist aus dem Mann. 9 Der Mann wurde nicht wegen der Frau erschaffen. Etwa die Frau wegen des Mannes? 10 Dies ist daher der Grund weshalb die Frau die Bevollmächtigung haben soll auf ihrem Haupt: wegen der Engel. 11 Weder ist die Frau ohne den Mann, noch ist der Mann ohne die Frau. 12 Die Frau ist aus dem Mann, der Mann ist durch die Frau. Aber alles ist aus Gott! 13 Urteilt bei euch selbst: Ziemt es sich, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet? 14 Nicht einmal die Natur selbst lehrt, dass für einen Mann lange Haare eine Schande sind. 15 Wenn eine Frau lange Haare hat, ist es ihre Herrlichkeit. Das Haar wurde ihr anstelle einer Bedeckung gegeben. 16 Wenn aber jemand deswegen [unbedingt] streiten möchte: Wir haben keinen solchen Brauch, und auch nicht die Versammlungen Gottes.

Paulus zeigt (in dieser Übersetzung), dass sich lange Haare und Bedeckung nicht ausschließen. Im Gegenteil. Für den Mann sind weder lange Haare noch Bedeckung eine Schande, denn weder die Natur, noch die Tatsache „Herrlichkeit Gottes“ zu sein, hindert den Mann daran, lange Haare zu haben wie die Frau. Warum sollte man also eine Frau daran hindern, eine Bevollmächtigungs-Bedeckung zu haben wie der Mann? Allein die Tatsache, dass sie bereits lange Haare hat (die sowieso schon natur- und gottgegeben eine Bedeckung symbolisieren), zeigt wie unlogisch eine solche Vollmachts-Verweigerung ist. Ihr die Kopfbedeckung zu verweigern ist genauso lieblos wie eine eventuelle Anordnung, dass sich die Frauen den Kopf kahl scheren sollten.

Wieso haben die Frauen überhaupt die Berechtigung, eine Kopfbedeckung zu tragen? Weil sie gemeinsam mit den Männern dereinst über die Engel richten werden.

Für NWÜ-Leser noch interessant der Vers 16:

Statt "wir haben keinen solchen Brauch", sagt sie: "wir haben keinen anderen Brauch". Dies widerspricht dem Grundtext, wie er sich in der "Kingdom-Interlinear" befindet.