Die Anhänger von Joseph Smiths 1830 neu gegründeter „Kirche Christi“ bekamen von Kritikern sehr bald den Spitznamen „Mormoniten“ verpasst, was sich wenig später auf „Mormonen“ verkürzte.
Diese Bezeichnung erlitt durch die Ereignisse, die 1844 zum gewaltsamen Tod Smiths führten, eine erhebliche Schädigung. Die sich anschließend bildenden mormonischen Gruppierungen beziehen gewöhnlich eine klare Stellung zu dem alten Spitznamen. Nicht so jedoch bei der größten Gruppe, der HLT-Kirche.
Es ist verständlich, dass ihre Beobachter die „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ der Kürze halber lieber als „Mormonenkirche“ bezeichnen. Doch ganz richtig ist das nicht, denn die „Mormonen“ umfassen alle Gruppen, die sich auf Smiths Visionen und Kirchengründung berufen. Doch die größte Bekanntheit erlangte die HLT-Gruppe durch die in der Abgeschiedenheit des Salzseetals praktizierte Polygamie. Vielehen wurden dort mit Segen dieser Kirche bis 1904 geschlossen, als man auf staatlichen Druck hin diese Praxis endgültig mit einem kirchlichen Bann belegte. Doch ihre Einmaligkeit in der westlichen Welt sorgt dafür, dass sie bis heute in der öffentlichen Meinung als das charakteristischste Merkmal mormonischer Lehre angesehen wird.
Pragmatisch betrachtet spaltet sich das Lager der „Mormonen“ in polygame und nicht-polygame Gruppen. Dabei ist zu beobachten, dass sich die fundamentalistischen, die Vielehe praktizierenden Gemeinschaften, in der Regel stolz als „Mormonen“ bezeichnen, während die progressiveren, die Polygamie ablehnenden Gemeinschaften, lieber von der Bezeichnung distanzieren.
Die HLT-Kirche bildet hierbei eine Ausnahme, da ihre Doktrin die Vielehe zu einem Erfordernis für die „ewige Erhöhung“ erhebt, praktiziert werden darf sie aber seit dem Manifest von 1904 aufgrund geltenden US-Rechts höchstens sukzessive. Dabei ging diesem Polygamieverbot eine wechselvolle Geschichte voraus. Das Buch Mormon sprach sich 1829 deutlich gegen die Polygamie aus. Im Offenbarungsbuch Lehre und Bündnisse wurde 1835 ein Abschnitt aufgenommen, der in unmissverständlichen Worten den Glauben an die monogame Ehe beschreibt. Dennoch wurde Polygamie seit spätestens 1839 von einigen ausgewählten Führern praktiziert, allerdings wurde das der Öffentlichkeit gegenüber bis 1852 heftig abgestritten, obwohl die Praxis in den Felsengebirgen ein offenes Geheimnis war. Am 29. August 1852 wurde dann auf einer Konferenz der Kirche die „Pluralität der Ehefrauen“ oder einfacher ausgedrückt die „Vielweiberei“ erstmals öffentlich verkündigt. Aber erst 1876 tauschte man im Buch Lehre und Bündnisse den Abschnitt über die Einehe gegen eine Offenbarung Smiths aus dem Jahr 1843 aus, die die Polygamie vorschreibt. Im Jahr 1890 erlässt HLT-Präsident Woodruff nach der Beschlagnahmung des Kirchenbesitzes durch die Vereinigten Staaten ein Manifest, das die Vielehe verbietet. Heimlich wurden aber weiterhin polygame Ehen geschlossen, so dass sich HLT-Präsident Joseph F. Smith, der selbst fünffach verheiratet war, im Jahr 1904 genötigt sah, dieser Praxis mit dem erwähnten zweiten Manifest ein wirkliches Ende zu bereiten.
Diese mehrfache Veränderung in den HLT-Richtlinien übertrug sich auch auf den Umgang mit dem Spitznamen „Mormonen“. Die HLT-Führung konnte sich nie so recht besinnen, ob sie ihn als Bezeichnung kategorisch ablehnen oder besser akzeptieren sollte. Einerseits war sie zumeist negativ besetzt, andererseits war sie sehr markant. Einerseits war ihre Bekanntheit verlockend, andererseits wollte man sich lieber als „Heilige der Letzten Tage“ bezeichnet sehen.
Erwägungen dieser Art spielten kaum eine Rolle, solange man in Utah unter sich war. Mit dem Aufkommen einer verstärkten Missionstätigkeit in den 1960er und Anfang der 70er Jahren wurden diese Fragen jedoch akut. In Fernseh-Werbespots, die die moralischen Werte der HLT-Gemeinschaft hervorhoben, wurde am Ende dem vollständigen Kirchennamen noch der Spitzname „Die Mormonen“ angefügt. Offenbar versuchte man, die negative Besetzung des Begriffs in eine positive zu kippen.
Es bleibt offen, ob mangelnder Erfolg oder ein verändertes Identitätsempfinden ursächlich war, aber in den 1980er und 90er Jahren distanzierte sich die HLT-Organisation weitgehend von der Bezeichnung, lehrte in den eigenen Reihen, sich nicht so zu bezeichnen, und bemühte sich, wenn auch erfolglos, den Begriff aus dem öffentlichen Bewusstsein zu tilgen. Dies zeigte sich deutlich in der Anweisung für Medienvertreter, die auf der offiziellen HLT-Webseite bis Ende 2000 zu finden war. Darin wurde gesagt, dass die Verwendung u.A. der Begriffe „Mormonen“ und „Mormonenkirche“ als Bezeichnung „inkorrekt und verwirrend“ sei und daher unterbleiben soll.
Doch dann änderte sich Vieles. Im offiziellen HLT-Logo wurde „Kirche Jesu Christi“ wesentlich hervor gehoben, während der Rest des Namens wesentlich verkleinert wurde. Auf diese Idee war ein paar Jahre zuvor schon die Reorganisierte Kirche gekommen, aber die benannte sich ja just zu dieser Zeit in „Gemeinschaft Christi“ um – Gott sei Dank.
Etwas später erklärte die HLT-Kirche mit Pressemitteilung vom 5. März 2001, als Kurzbezeichnung solle „Kirche“ oder „Kirche Jesu Christi“ verwendet werden, letzteres war neu – und in der christlichen Welt wirklich ungewöhnlich innovativ.
Zugleich wurde der Begriff „Mormonen“ aus der Liste der „inkorrekten und verwirrenden“ Bezeichnungen, die nicht verwendet werden sollen, heraus genommen und als „akzeptabel“ eingestuft. Sollte das bedeuten, dass nun das Gegenteil der Fall war? Oder sollte das heißen, dass es von nun an akzeptabel war, eine inkorrekte und verwirrende Bezeichnung zu benutzen? Einer der wahren Gründe für die Änderung der Richtlinie wird wohl in der veränderten PR-Strategie zu suchen sein, die sich in der Pressemitteilung vom 5. Oktober 2001 offenbart. Die HLT-Kirche hatte zwischenzeitlich die Internet-Domains mormon.com/.net/.org erworben, um dort Einsteigerinformationen werbewirksam zu vermarkten. Als weiteren Grund benennt sie „die verstärkte Berichterstattung über die Kirche während den Olympischen Winterspielen“ – wer hätte dafür kein Verständnis?
Doch die HLT-Kirche schiebt noch eine „Klarstellung“ hinterher. Mit der Pressemitteilung vom 17. Mai 2001 reagiert sie auf das riesige Medieninteresse für den Fall Tom Green, dem ersten Bigamie-Prozess in Utah in fünfzig Jahren. Green bezeichnet sich offen als Mormone, was die Presse so wiedergibt, nur leider hatte die PR-Abteilung der HLT-Kirche diesen Begriff zehn Wochen zuvor als akzeptable Bezeichnung für ihre Mitglieder eingeordnet. Man hilft sich, indem man der Presse mitteilt, dass „der Begriff Mormonen ein Spitzname ist, der ausschließlich auf die [HLT-Kirche] angewandt wird“. Und um es auch dem Letzten verständlich zu machen, sagt man weiter: „Es ist nicht richtig, ihn auf irgend eine andere Person oder Organisation anzuwenden.“ So etwas nennt man aber einen Ausschließlichkeitsanspruch, und das auf einen Begriff, den man kurze Zeit zuvor noch weit von sich gewiesen hatte.
Auf Tom Green reitet die HLT-Kirche dann noch weiter herum: „Da die heute Polygamie Praktizierenden keine ‚Mormonen‘ sind, wäre in den Medien ihre zutreffendere und weniger irreführende Bezeichnung Polygamist oder polygame Sekte oder polygame Kirche oder polygame Gruppe oder polygame Bewegung usw.“ Ein Ratschlag, der ganz offensichtlich eine Distanzierung der Begriffe „Mormonen“ und „Polygamie“ zum Ziel hat.
Die Mitteilung enthält noch eine wunderbare Aussage: „Die Begriffe Mormonen-Fundamentalisten und Mormonen-Splittergruppe werden zwar regelmäßig genutzt, jedoch unzutreffend ... als auf irgend eine Art verbunden mit den "Mormonen" oder der "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage".“ In welchem Ausmaß die Begriffe tatsächlich unzutreffend genutzt werden, kann man sehr schön an den von der HLT-Kirche geschilderten, bis Ende 2000 gültigen Missverständnissen in Bezug auf die Kirche nachvollziehen. Unter der Überschrift „Missverständnis: Die "Mormonen-Fundamentalisten" sind Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die noch immer polygam leben“ folgte damals eine Erklärung, dass Polygamisten keine HLT-Mitglieder sind. In der heutigen Version hingegen wird erläutert, dass Polygamisten nicht als "Mormonen-Fundamentalisten" bezeichnet werden dürfen. Das bedeutet, das Missverständnis anderer über die Mormonen hat sich mit der Veränderung der HLT-Richtlinien im Jahr 2001 ebenfalls verändert – ziemlich clever.
Das einzige Missverständnis, das hier vorliegt, ist das der HLT-Führung, dass sich Geschichte nach Gutdünken beliebig abändern ließe. Die HLT-Kirche kann auf eine lange Tradition der Geschichtsfälschung zurückblicken. Bei ihren eigenen Mitgliedern kann sie sich auf weitgehend unkritische Aufnahme der Manipulation verlassen. Allerdings wollen ihre Führer nicht wahrhaben, dass sie über den größten Teil der Menschheit keine psychische Kontrolle ausüben können, und diese sich daher nicht so leicht blenden lässt. Mit ihren Richtlinien verändern sie weder die Geschichte, noch lassen sich Menschen von ihnen ihre Ansichten und Ausdrücke verbieten. „Mormonen“ werden immer bleiben was sie sind: Anhänger der von Joseph Smith ins Leben gerufenen Religion, seien sie nun HLT-konform oder nicht.