Die Abstrafungsmethoden, die benützt wurden, sind wie ein Stück längst vergessener Vergangenheit. Das Mädchen soll mit einem Kleiderbügel so hart geschlagen worden sein, dass dieser brach.

Die Rede ist von zwei Kindern, die mit neun und sechs Jahren in eine Zeugen Jehovas Pflegefamilie in Midhordland (Norwegen) gegeben wurden. Ein Beispiel dafür, was dabei herauskommen kann, wenn Menschen sich eng an die Lehren der Wachtturm-Gesellschaft halten.

Pflegeeltern (Zeugen Jehovas) verurteilt

Geschwisterpaar wurde in einer Pflegefamilie untergebracht, wo sie unter extremer Kontrolle und Gewalt lebten und für die Zeugen Jehovas verkündigen mußten.

von INGUNN RØREN
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.

Nun wurde dem Geschwisterpaar, einem 18-jährigen Burschen und einem 21-jährigen Mädchen, eine Entschädigung von insgesamt 150.000 [norwegischen] Kronen von den Pflegeeltern zuerkannt. Das Urteil vom Landkreisgericht Midhordland beschreibt die grotesken Aufwuchsbedingungen für das Geschwisterpaar.

Unmenschlich

Es ist unmenschlich, daß so etwas geschehen kann. Die Abstrafungsmethoden, die benützt wurden, sind wie ein Stück aus längst vergessener Vergangenheit, sagt der Anwalt Arvid Sjødin, der die Geschwister vertritt. Der Bursche soll u.a. gezwungen worden sein, eine Woche im Bett zu liegen, als Strafe dafür, daß es ihm "unmöglich war, die Beine trocken zu halten". [Anmerkung des Übersetzers: Er stieg gerne in Wasserpfützen u. dgl.] Das Mädchen soll mit einem Kleiderbügel so hart geschlagen worden sein, daß dieser brach. Die Kinder waren neun und sechs Jahre alt, als sie in die Pflege zu einem kinderlosen Ehepaar in Midhordland gegeben wurden.

Heimliche Reise

Nach sechs Jahren ertrug es das Mädchen nicht mehr. Die 15-Jährige fuhr heimlich nach Bergen und suchte einen Anwalt auf, um mit dessen Hilfe aus der Pflegefamilie zu entkommen. Sie berichtete dem Anwalt, daß sie und ihr jüngerer Bruder unter sehr strengen Bedingungen lebten, mit extremer Kontrolle und Gewalt von Seiten der Pflegeeltern. Beide Kinder berichteten über wiederholte Übergriffe in Form von Schlägen, Hausarrest, knallharter Disziplin, schweren häuslichen Pflichten und Überwachung. Die Kinder kamen sofort in ein Bereitschaftsheim und die Sorge wurde später der leiblichen Mutter der Kinder übertragen. Erst nach mehreren Wochen im Bereitschaftsheim begann der Bursche, der damals 13 Jahre alt war, zu verstehen, wie ein normales Familienleben sein konnte, sagt Sjødin. "Hier bekam ich keine Strafen", erklärte der Bursche vor Gericht. Im Bereitschaftsheim erhielten die Kinder zum ersten Mal in ihrem Leben Taschengeld. Der Bursche benützte sein Geld, um sich sein allererstes Donald-Duck-Heft zu kaufen.

"Die Kinder sagen die Wahrheit"

Die Pflegeeltern haben die ganze Zeit geleugnet, gegen die Kinder Gewalt angewendet zu haben. Sie stellten vor Gericht die Verhältnisse in ihrem Heim als idyllisch und harmonisch dar. Das Gericht stellte fest, daß die Erklärungen der Kinder sehr glaubwürdig wirken, während das meiste dafür spricht, daß die Pflegeeltern nicht die Wahrheit sagen. Weder der Aufsichtsbeamte der Pflegefamilie noch irgend jemand anderer im öffentlichen Fürsorgewesen merkte, daß in der Pflegefamilie etwas nicht stimmte.

Religiös abweichende Ansichten

Das Landkreisgericht Midhordland kritisierte sehr, daß der Aufsichtsbeamte nicht einmal entdeckte, daß die Pflegemutter den Zeugen Jehovas angehörte und daß sie die Pflegetochter aktiv bei der Verkündigung und bei sogenannten Hausbesuchen benützte. Das Gericht meint, dies zeige, daß auch andere wichtige Umstände übersehen worden sein konnten. "Das Gericht würde annehmen, daß man von Vornherein skeptisch dagegen sein müßte, Pflegeeltern auszuwählen, die eine religiöse Ansicht haben, die davon abweicht, was man nach einer toleranten Beurteilung in der Gesellschaft als 'gängig' betrachten kann", schreibt das Gericht.

Mögliche Klage gegen das Fylke (in etwa: "Bundesland")

Das Gericht erachtet es als bewiesen, daß die Kinder deshalb nichts sagten, weil sie eine extreme Furcht vor und eine Loyalität gegenüber den Pflegeeltern hatten. Die Pflegeeltern erhielten in den sechs Jahren, in denen sie die Kinder zur Pflege hatten, insgesamt 112.000 [norwegische] Kronen als Kinderbeihilfe und andere Unterstützungen. Die Kinder sahen wenig von diesen Geldern. Das Gericht findet daher, daß jedem Kind 25.000 Kronen von diesem Geld rückerstattet werden sollen. Die Pflegeeltern müssen zusätzlich zur Entschädigung von 150.000 Kronen an die Kinder die Gerichtskosten von 38.000 Kronen bezahlen. Für die Kinder war es eine Erleichterung, daß ihnen geglaubt wurde. Sie sind von dem geprägt, was sie durchmachen mußten, aber beide sind in einer guten Verfassung und es geht ihnen jetzt gut, sagt Sjødin. Die Kinder überlegen, das Urteil anzufechten, weil sie meinen, sie sollten eine größere Summe erhalten. Außerdem denken wir an eine Klage gegen die Fylkesadministration von Hordaland wegen mangelnder Kontrolle der Verhältnisse in Pflegefamilien, sagt Sjødin.

Quelle: Bergens Tidende (Tageszeitung in Norwegen) vom 1.11.2000
Übersetzung: Friedrich Griess