Wer bisher geglaubt hat, Religion sei Privatsache und Eltern sollten ihren Kindern selbstverständlich auch ihre Weltsicht bzw. ihre Glaubensansichten ohne Einmischung des Staates vermitteln, sollte unbedingt noch einmal innehalten und gründlich darüber nachdenken, ob er die ganze Tragweite einer solchen Sicht verstanden hat.

Warum sage ich das?

Weil es leider auch Glaubensansichten gibt, die bei näherer Betrachtung dazu geeignet sind, das Wohl von Kindern zu beeinträchtigen, wenn nicht gar zu schädigen. Endzeit-Vernichtungsphantasien gehören nicht in Kinderseelen, und Kinderbücher, in denen eine Bejahung der Vernichtung menschlichen Lebens zu Zwecken einer "Bereinigung der Erde" insinuiert wird, sollten nicht unter den Schutz des Grundgesetzes gestellt werden.

Wenn eine Glaubensgemeinschaft in ihren Schriften darüber sinniert, ab welchem Alter ein Kind die "Unterweisung Jehovas" versteht und infolgedessen dafür von Gott verantwortlich gemacht werden kann, ob es am "Tage seines Zornes" auf "seiner Seite" gestanden hat, dann sind hier eindeutig Grenzen einer zum Wohl des Kindes gedachten Nichteinmischung von außen überschritten.

Endzeitwahn gehört nicht in Kinderseelen und göttliche Vernichtungsphantasien nicht in Kinderbücher.

Fragte man einen Zeugen Jehovas, ob die eben gemachten Aussagen richtig seien, würde er sie höchstwahrscheinlich als Propaganda der Ausgeschlossenen ansehen, als Äußerungen von Personen, die doch aus freien Stücken entschieden haben, nicht mehr dieser Gemeinschaft anzugehören.

Je nach Temperament wird er solche Feststellungen als den Versuch interpretieren, die ehemaligen Freunde mit Schmutz zu bewerfen oder sie zu verleumden und daher sich erst gar nicht die Mühe machen, sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen.

Doch ist das so? Ist das, was Kritiker der Zeugen Jehovas vorbringen, nichts als pure Verleumdung?

Ein Blick in das interne Schriftmaterial der Zeugen Jehovas zeigt, was die Religionsgemeinschaft der Öffentlichkeit nicht so gern präsentiert.

Grundlage meiner Betrachtung ist Der Wachtturm vom 15. Oktober 2009.  mit dem Thema: Der Studierabend der Familie: überlebenswichtig!

Gleich zu Beginn ist Folgendes zu klären:

"Studieren" in der Wortbedeutung der Wachtturm-Sprache heißt nichts anderes als das unhinterfragte, kritiklose Lesen und Verinnerlichen der Schriften der Wachtturm-Gesellschaft.

Damit das so Gelesene auch nicht so leicht in Vergessenheit gerät, gibt es in den wöchentlichen Treffen der Gruppe die Frage-und-Antwort-Spiele, im Zeugen-Jargon: "Wachtturm-Studium" und "Buchstudium", bei denen der sogenannte "Studiumleiter" von der Bühne aus die Fragen am unteren Ende jeder Seite der Schriften stellt und die Zuhörer im Saal die Antworten entweder vom Blatt ablesen oder idealerweise aus dem Gedächtnis aufsagen.

In diesem konkreten Fall ist davon die Rede, dass die Familienväter gehalten sind, die "geistige Unterweisung" der Familie, also Frau und Kinder zu übernehmen. Dazu gibt es die Institution des o.g. "Studierabends der Familie".

Die Religionsgemeinschaft erklärt "studieren" für überlebenswichtig. Im herkömmlichen Sinne studieren die jungen Leute, weil sie den nötigen Grips dazu haben. Sie erwerben damit ein breites Spektrum an Wissen und bessere Chancen für eine erfolgreiche Zukunft mit einem möglichst auskömmlichen Einkommen.

Studieren mit Überleben in Zusammenhang zu bringen, ist eine der Merkwürdigkeiten der Glaubenslehren der Religionsgemeinschaft. Dazu bedient sie sich drastischer Bilder aus dem AT.

Der "Krieg des großen Tages Gottes, des Allmächtigen", wird furchteinflößend sein! Sehr plastisch beschreibt ihn der Prophet Micha: "Die Berge sollen zerschmelzen, und die Tiefebenen, sie werden sich spalten wie Wachs vor dem Feuer, wie Gewässer, die einen Abhang hinabgegossen werden." (Micha 1, 4) Mit Menschen, die Jehova nicht dienen, wird es schlimm ausgehen, denn die Bibel sagt: "Die von Jehova Erschlagenen werden schließlich an jenem Tag gewiss von einem Ende der Erde bis zum anderen Ende der Erde sein."

Den Worten der Bibel mag heutzutage glauben, wer will. Wer denn unbedingt glauben will, dass das Ende der Welt dereinst kommt, mag dies für sich persönlich so glauben. Das allein ist nichts Bedrohliches, oder etwas, das ein rasches, beherztes Eingreifen des Staates und seiner Institutionen rechtfertigen würde. Die Religions- und die Glaubens- und Gewissensfreiheit genießen nicht von ungefähr Verfassungsrang in unserem Land.

Problematisch aber wird ein solcher Glaube da, wo er Grundlage und Ausgangspunkt einer Ideologie wird, die solche drastischen Bilder dazu benutzt, ihren Gläubigen den Gehorsam gegenüber den Führern der Gemeinschaft einzuschärfen und abzuverlangen.

Schauen wir, wie die Religionsgemeinschaft nun, nachdem sie die "passenden" Bibeltexte zitiert hat, ganz allmählich zur "praktischen Nutzanwendung" übergeht:

Das sind sehr ernste Worte. Und da nicht wenige von uns Kinder haben, die schon in der Lage sind, Zusammenhänge zu begreifen, wäre es wirklich gut, wenn man sich als Familienoberhaupt (auch die vielen Alleinerziehenden) fragen würde: Wird mein Kind dieses einschneidende Ereignis überleben? Das wird gemäß der Bibel der Fall sein, wenn es ein enges Verhältnis zu Jehova hat, so wie man es halt von ihm in seinem Alter erwarten kann.

Nicht allein dem erwachsenen Gläubigen wird mit Vernichtung gedroht, falls er "Jehova verlässt". Zusätzlich bringt man Kinder ins Spiel, an deren Verderben doch wohl kein vernünftiger, fühlender Erwachsener ein Interesse haben könnte.

Im Klartext: Die Gläubigen sollen gehorchen und nicht auf die Idee kommen, ihren Glauben aufzugeben. Denn dann droht ihre Vernichtung. Und die Vernichtung ihrer Kinder. Selbst Kinder werden "von Jehova nicht verschont", sollten sie "in ihrem Herzen nicht zu ihm gehören". Sobald sie "genug von Jehova und seinem Willen verstanden" haben, sind sie für ihr "Überleben im Krieg Gottes" selbst verantwortlich. Auch sie werden "von Jehova gerichtet", wenn sie nicht gehorchen.

So direkt formuliert man das vonseiten der Religionsgemeinschaft selbstverständlich nicht. Es könnte unter Umständen justiziabel sein, daher zieht man es vor, das Unerfreuliche "durch die Blume" zu sagen.

Jetzt, da festgestellt ist, welches Ende für diejenigen aufbehalten ist, die nicht "Jehova anbeten", was folgt daraus für alle "Diener Gottes"?

Unter anderem das nun Folgende:

Sich unbedingt Zeit für das Familienstudium nehmen

Als Vater oder Mutter solltest Du zusehen, dass du wirklich alles tust, um deine Kinder "in der Zucht und in der ernsten Ermahnung Jehovas" zu erziehen. Dazu gehört einfach, mit den Kindern die Bibel zu studieren.

An dieser Stelle sei es mir einmal erlaubt, aus persönlich Erlebtem zu berichten, dass dieses Studium der Bibel für Kinder meist langweilig ist, da Kinder nicht alles verstehen, was da in dem alten Buch steht. Kinder haben nicht die intellektuelle Ausstattung, sich distanziert oder gar kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was ihnen zu glauben beigebracht wird. Infolgedessen gleicht das Bibelstudium auch weniger dem echten Kennenlernen aller zu einem solchen Studium erforderlichen Aspekte, als viel eher dem Lesen und Bejahen dessen, was man vorgesetzt bekommt. Zudem gilt es darüber nachzudenken, wie man das alles in die Tat umsetzt, was gelehrt wird.

Gehen wir weiter:

Wir möchten doch, dass unsere jungen Leute Jehova bereitwillig gehorchen [...]

Dann kommt ein "biblisches" Beispiel und zwar jenes der Christen in Philippi, von denen es hieß, sie sollten ihre "eigene Rettung [...] mit Furcht und Zittern [...] bewirken." (Nach Philipper 2, 12)

Das Folgende braucht nicht "übersetzt" oder interpretiert zu werden. Es lässt an Deutlichkeit in seinen Forderungen nichts zu wünschen übrig:

Halten sich deine Kinder an die Gesetze Jehovas, auch wenn du nicht anwesend bist? Zum Beispiel in der Schule? Wie kannst du ihnen helfen, sich selbst davon zu überzeugen, dass die Gesetze Jehovas immer zu ihrem Besten sind, sodass sie sich auch dann daran halten, wenn du nicht dabei bist?

Wenn man genau analysiert, was hier durch die Spalten des Wachtturm installiert wird, mag einem ein kalter Schauer über den Rücken laufen.

Um es klar auszudrücken: Hier wird der Kern einer lebenslangen Paranoia gelegt. Dem kindlichen Gemüt und Geist wird ein künftiger "ständiger Begleiter" eingepflanzt, dem es Zeit seines Lebens nicht mehr entkommen kann. "Jehova sieht dich", dies unselige Mantra als wirkmächtige Schere im Kopf jedem Zeugen Jehovas von Kindheit an eingeimpft, ist wesentlich effizienter, als der best ausgestattete Spitzelapparat.

Es nicht dem Zufall überlassen

Wie die Bibel andeutet, finden sich die Engelsöhne zu festgelegten Zeiten in Gottes Gegenwart ein.

Abgesehen davon, dass dies eine recht eigenwillige Interpretation des angegebenen Bibelverses aus Hiob 1, 6 ist,

Nun geschah es eines Tages, da kamen die Gottessöhne, um vor den Herrn hinzutreten; [...]

ist die "Nutzanwendung" für die "christliche Familie" für mein Empfinden etwas zu weit hergeholt:

So solltest du es auch mit deinen Kindern machen. Lege Tag und Uhrzeit für den Studierabend der Familie fest und halte dich dann daran. Hab auch einen Ausweichtermin parat, falls einmal etwas außer der Reihe passiert. Im Lauf der Monate könnte sich leicht ein gewisser Schlendrian einschleichen. Lass das aber nicht zu. Regelmäßig mit deinen Kindern zu studieren ist wichtiger als mit irgendjemand anders!

Kurze Zwischenbemerkung:

Man könnte hier eine gewisse Resignation der Religionsgemeinschaft darüber herauslesen, dass sie den Rest der Welt wohl nicht wird bekehren können...

Satan würde dir deine Kinder nur zu gern entreißen. Würdest du euren wertvollen Studierabend für etwas so Banales wie einen Fernsehabend opfern, dann hätte Satan schon einen Erfolg für sich verbucht.

Auffällig hier ist m.E. besonders der Tonfall, in welchem erwachsene Menschen angesprochen werden. Eine solch gängelnde Entmündigung würde sich kein Leser eines Ratgeber-Magazins bieten lassen. Doch das nur als Randbemerkung.

Weitaus skandalöser ist m. E. die Tatsache, dass ganz normale Aktivitäten, wie zum Beispiel der "Fernsehabend" in den Ruch "satanischen" Einflusses gestellt werden.

Auch dass man einen Bibeltext als himmlisches Vorbild für irdische Familienväter heranzieht, mutet doch eher weltfremd an.

Weil die "Götterwelt" nach der himmlischen Uhr [wie sieht die wohl aus?] lebt und sich mit Gottvater sogar regelmäßig trifft, sollen irdische Väter sich für das "Familienstudium" der gleichen Pünktlichkeit und Verlässlichkeit befleißigen; das ist schon merkwürdig.

Es praxisorientiert gestalten

Das Familienstudium ist nicht dazu gedacht, einfach nur Wissen zu vermitteln. Versuche, euren Studierabend praxisorientiert zu gestalten. Du könntest Stoff zu Situationen heraussuchen, die auf deine Kinder in den folgenden Tagen oder Wochen zukommen werden. Zum Beispiel kannst Du mit ihnen beim Studierabend für den Predigtdienst üben. Wenn Kinder und Jugendliche etwas gut beherrschen, dann machen sie es auch richtig gern. Und wenn man mit ihnen Einleitungen übt und gemeinsam überlegt, wie man auf Gesprächsblocker reagiert, gibt ihnen das in den unterschiedlichen Bereichen des Königreichspredigtwerks gleich viel mehr Sicherheit.

Die Absicht hinter diesem "Studium" für die Familie wird jetzt deutlich: Mittels dieses neuen Instruments, genannt "Studierabend", soll nicht bloß nützliches Wissen vermittelt werden. Vielmehr sollen die neuen Missionierer für "das Werk" herangezogen werden. Kinder sollen erfolgreiche "Verkündiger der guten Botschaft" werden, sie sollen "Gesprächsblocker" elegant überwinden, und ihrerseits neue Mitglieder anwerben.

Wenn Kinder etwas gut beherrschen, machen sie es gern. Allerdings sollte das, was die Kinder beherrschen lernen vor allem eines sein: kindgerecht! Das Missionieren von Haus zu Haus und das erfolgreiche Parieren von "Gesprächsblockern" ist nicht kindgerecht.

Ihr könnt auch bestimmte Situationen durchspielen, damit dein Kind besser mit Gruppendruck fertig wird.

Gruppendruck wird nach dem Verständnis der Religionsgemeinschaft nur in oder von der "Welt" ausgeübt.  Gruppendruck innerhalb der eigenen Gruppe ist aber viel schwerer zu ertragen und man kann ihm nur mit Mühe standhalten.

Interessant ist auch der Hinweis auf das von der Wachtturm-Gesellschaft herausgegebene Buch: "Fragen junger Leute - praktische Antworten", Band 2, in dem auf den "Gruppenzwang-Planer" auf Seite 132 und 133 hingewiesen wird. Dort kann man u.a. folgendes lesen:

Übe deine Reaktionen mit deinem Vater und deiner Mutter oder einem erwachsenen Freund.

Weil man dem Gruppendruck der Welt ausgesetzt wird, die nicht einsehen will, dass man als "Diener Gottes" etwas Besonderes ist, müssen die Kinder frühzeitig auf dieses Dasein vorbereitet werden. Denn sie sollen "bei jeder passenden Gelegenheit Jehova preisen". In den Folgeabsätzen wird deshalb betont, wie wichtig es ist, den Kindern die "richtigen Ziele im Leben" vor Augen zu führen. Welche Ziele könnten das sein?

Das Junge-Leute-Buch (Band 2) enthält in Kapitel 38 "Was mache ich aus meinem Leben?" hevorragende Anregungen [...] Das Beste, was man machen kann, ist so zu leben, dass sich alles darum dreht, etwas für Jehova zu tun. Fördere in ihm [dem Kind] den Wunsch, einmal Vollzeitdiener zu werden - vielleicht Pionier [Wachtturmsprech für Missionierer in Vollzeit] oder Bethelmitarbeiter [Mitarbeiter in einer Filiale der Wachtturm-Gesellschaft, Entlohnung: null, Kost und Logis: frei, zudem ein Taschengeld für persönliche Auslagen] - oder auch die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung [Kaderschmiede für junge Anwärter auf das Amt eines Gemeindevorstehers oder dessen Gehilfen im In- und Ausland] zu besuchen.

Den Rest des Artikels können wir uns an dieser Stelle ersparen. Es geht darum, wie der "Studierabend" mit Rollenspielen beim Bibellesen oder mit der Darstellung praxisnaher Alltagssituationen individuell auf die "Bedürfnisse der Kinder" zugeschnitten werden kann, damit ihnen diese Abende auch "Freude machen".

Alles in allem aber lässt diese Schrift, die ausdrücklich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und konzipiert ist, an Deutlichkeit über die Motive der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas nichts zu wünschen übrig.

Zusammenfassend kann man also sagen:

Aus Sicht der Religionsgemeinschaft sind Kinder bereits mit sehr jungen Jahren religionsmündig — sobald sie etwas von "Jehova und seinem Vorhaben verstehen" — und daher schon sehr früh für ihr Überleben in der Schlacht Gottes am jüngsten Tage [Harmagedon oder Armageddon] selbst verantwortlich.

Eltern sind vor die Wahl gestellt: Entweder es gelingt ihnen, mithilfe des "Studierabends" ihren Kindern schon früh und dauerhaft "die Furcht Jehovas" einzuimpfen [Stichwort: "Jehova sieht dich"] und so deren "Rettung zu bewirken" oder sie versagen in dieser Hinsicht, dann sollten sie sich schon mal innerlich von ihren Kindern verabschieden, denn "Jehova wird sie in Armageddon sicher nicht verschonen". Daher tun sie besser daran, schon möglichst früh mit der "Unterweisung" ihrer Kinder zu beginnen.

Mag sein, dass ihre Kinder in der Schule und anderswo dadurch zu einem Außenseiterdasein verurteilt sind, aber besser für relativ kurze Zeit ein Außenseiter, als nachher im Krieg Gottes umzukommen, so die Logik der Gemeinschaft.

Man sieht, dass die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas nicht ganz so harmlos ist, wie sie sich gern selbst vor Behörden, Gerichten und Volksvertretren präsentiert. Dieser kurze Einblick in die interne Belehrung für die Anhänger offenbart doch recht deutlich, dass wir es hier mit einerGemeinschaft zu tun haben, deren Anhänger sich in einem Gedankengefängnis religiöser Abhängigkeit und Bevormundung befinden.