Liebe Brüder der leitenden Körperschaft,

ich bin seit 1974 getaufter »Zeuge Jehovas«. Durch intensive Glaubensdiskussionen mit einem Geschäftskollegen, bin ich u.a. auf die 2 Bücher »Der Gewissenskonflikt« von Raymond Franz und ein weiteres Buch von Robin de Ruiter gestoßen. Insbesondere das Buch von R.Franz hat mich stark berührt, und ich möchte deshalb besonders zu diesem Buch einige Fragen an Euch richten.

1) Stimmt es, daß die Fraktion der leitenden Körperschaft, die Bruder R.Franz die Gemeinschaft entziehen wollten, keine 2/3 Mehrheit gefunden hat, und daß man daraufhin R.Franz gebeten hat, er solle von sich aus seinen Posten innerhalb der ltd. Körperschaft aufgeben? Er sollte den Status eines Sonderpioniers erhalten, der aus gesundheitlichen Gründen die »vorgeschriebene Leistung« nicht mehr erbringen kann.

2) Ist es richtig, daß R.Franz daraufhin aus eigenem Entschluß die Weltzentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn verlassen hat, er als Vers.mitglied ohne Status in der Versammlung Gadsen-Ost gedient hat, und daß er später von den Ältesten dieser Versammlung wieder als Ältester vorgeschlagen worden ist? R.Franz schreibt in seinem Buch, daß aber eine geänderte Einstellung der Gesellschaft gegenüber dem Zusammentreffen mit Personen, die die Versammlung von sich aus verlassen hatten, letztendlich zu seinem Ausschluß geführt habe. In seinem Fall war dies sein Arbeitgeber und langjähriger Freund Peter Gregerson, der bestimmte Lehrinhalte (besonders zu Gemeinschaftsentzügen) nicht mehr mittragen wollte und deshalb von seinem Amt als Ältester zurückgetreten war, ohne biblische Gesetze verletzt zu haben. Steht es aber Menschen in so einem Fall zu, einem 60jährigen ohne erlernten Beruf und ohne jegliche wirtschaftliche Absicherung, den Umgang mit einer Person zu verbieten, die Wohnwagen, Grundstück und leichte Arbeit zur Verfügung stellte, so daß R.Franz in bescheidenen Verhältnissen weiter existieren konnte?

3) Was waren eigentlich die konkreten Vorwürfe gegen R.Franz, die ein Ausschlußverfahren notwendig machten?

Die Informationen zu diesem Thema waren damals in den Versammlungen ziemlich spärlich; es war von Homosexuälität und Abtrünnigen die Rede, die eine eigene Religion gegründet hätten.

Doch in vielen Aussagen von R.Franz kann ich keinen »Abtrünnigen« vor Gott und Christus erkennen, sondern es offenbart sich mir ein Mensch, hin- und hergerissen zwischen SEINEM Gewissen (SEINER Erkenntnis - 1.Kor. 2:11) und der von der Mehrheit damals vertretenen offiziellen Lehrmeinung.

Viele Positionen die von R.Franz schon vor ca. 17 Jahren vertreten wurden und damals zu heftigen Kontroversen geführt haben, sind heute Bestandteil des »hellerwerdenden Lichts« und werden heute auch in der WT-Literatur so wiedergegeben. Beispiele hierfür sind...

--- DIE BERICHTIGUNG DES VERSTÄNDNISSES VON »DIESER GENERATION« AUS MATH. 24:34.
R.Franz schrieb bereits 1983: ...«mit jedem Jahr das verstreicht, wird es schwieriger diese Lehre und alle damit zusammenhängenden Ansprüche aufrechtzuerhalten... Irgendwann einmal wird man die Lehre von der »Generation« von 1914 nicht mehr aufrechterhalten können, ohne sich völlig unglaubwürdig zu machen. Man könnte aber verschiedene Korrekturen oder »Verbesserungen« vornehmen ... so daß sich die Behauptungen in etwas veränderter Form beibehalten ließen.«

--- DIE BERICHTIGUNG DER EINSTELLUNG ZUM ZIVILDIENST.
Gemäß R.Franz scheiterte sie zu einem früheren Zeitpunkt an der nicht erreichten 2/3 Mehrheit. Hier erhebt sich für mich die Frage, warum eine Ansicht zur absoluten christl. Norm erhoben wird, wenn die Bibel zu diesem Thema eigentlich überhaupt nichts sagt und sich selbst die Führung in dieser Frage nicht 100prozentig einig ist?

--- DAS ZURÜCKNEHMEN VON VIELEN ÜBERTRIEBENEN POSITIONEN, DIE KEINE BIBLISCHE GRUNDLAGE HABEN.
Hochschule/Bildung, Schule/Schulaktivitäten, Z.J. und ihr Verhältnis zur »Welt« und in der Welt.

--- DAS ZURÜCKNEHMEN VON ALLZUVIEL ORGANISATION, ZUGUNSTEN DES PERSÖNLICHEN GEWISSENS VOR GOTT.
Wunderbar erklärt im WT vom 1.9.96 (deutsch). U.a. heißt es dort: »Damit wir zur Reife heranwachsen, müssen wir daher unser eigenes Wahrnehmungsvermögen gebrauchen und dürfen nicht nur darauf vertrauen, von anderen Antworten zu erhalten«. Oder: »Ein Christ versucht nicht, seinem Bruder vorzuschreiben, was er in Angelegenheiten, die in der Bibel nicht ausdrücklich erwähnt werden, zu tun oder zu lassen (ich füge hinzu: GLAUBEN) hat«.

Gemäß meinem Verständnis ist R.Franz aber genau daran gescheitert!

Er hat sich nicht von Jehova Gott und Christus abgewandt (die er in seinem Buch mit allem Nachdruck bekennt), sondern von einem christlichen Verständnis, das in vielen Punkten extrem und menschlich überzogen war. Er wurde dabei zum Wegbereiter eines etwas gemäßigteren Christentums (WT vom 1.9.96) und eckte dabei naturgemäß bei den Bewahrern des konservativen, althergebrachten Gedankengutes an. Nicht dem Worte Gottes hat er widersprochen, sondern einigen traditionellen Lehrmeinungen, die gemäß seinem Verständnis keine bibl. Grundlage hatten. Doch jedem Fortschritt geht der Widerspruch gegen das Bestehende voraus und dieser Widerspruch wird umso wichtiger, wenn »über das hinausgegangen wird, was geschrieben steht«, wie es die Bibel in 1.Kor.4:6 ausdrückt.

Ein Hauptaspekt den R.Franz in seinem Buch erwähnt, sind die immer wieder gemachten Endzeitberechnungen der WT-Bibel und Traktat-Gesellschaft, deutlich geäußert durch ihre führenden Männer. Die neuzeitliche Geschichte des Volkes Gottes ist in der Tat ohne das Fixiertsein auf ein bestimmtes Datum nicht denkbar - ist dieses System so gewollt, Gottgewollt? Es ist sicherlich besser den »Tag Jehovas« im Sinn zu behalten, als ihn zu ignorieren. Nicht förderlich für das Vertrauen in den »einzigen Kanal Gottes« sind aber die vielen Fehldeutungen im Zusammenhang mit diesem Tage und die Absolutheit mit der diese »Wahrheiten« vorgetragen wurden.

Auch heute noch wird sehr gern auf den Kongreß in Cedar Point Ohio (1922) Bezug genommen, weil dort auch die Jahreszahl 1914 Erwähnung fand. Daß dort aber auch andere Jahreszahlen erwähnt wurden, und daß 1914 eine völlig andere Bedeutung hatte wie heute, wird verschwiegen. Folgende Redeauszüge stammen aus dem WT vom 15.1.23 -Quelle: R.Franz.

(Wo immer es möglich war, habe ich die Quellenangaben überprüft, obwohl R.Franz Kopien von Originalschriften unserer Literatur in seinem Buch abgedruckt hat.)

Diese Aussagen liegen zwar schon längere Zeit zurück, ich denke aber, daß die Geisteshaltung, die in diesen Worten sichtbar wird, bis zum heutigen Tage erhalten geblieben ist. Als etwas spät und viel zu beschönigend, empfinde ich die heutigen Erklärungen unserer Organisation zu diesem Thema, wie sie z.B. im Buch »Zeugen Jehovas« gegeben werden. Man muß sich immer vor Augen führen, in welcher Rolle Br.Russel und seine Nachfolger mit den Menschen verkehrten - sie betrachteten sich weniger als eifrige, aber fehlbare Bibelforscher, sondern vielmehr als das ALLEIN auserwählte irdische Werkzeug des Herrn. Ein Anspruch dieser Größenordnung – EINZIGER KANAL GOTTES, VON SEINEM GEISTE GELEITET - sollte sicherlich nicht ungeprüft übernommen werden!

Gemäß dem o.g. WT sagte Br.Rutherford auf dem Kongreß in Cedar Point/Ohio u.a.:

»Biblische Prophezeiungen zeigen, daß das zweite Erscheinen des Herrn im Jahre 1874 zu erwarten sein würde. Die in Erfüllung gegangenen Prophezeiungen zeigen über jeden Zweifel hinaus, daß er im Jahre 1874 wirklich zurückkehrte ... Da der Herr seit 1874 gegenwärtig gewesen ist, so geht aus den tatsächlichen Beweisen, wie wir sie jetzt erkennen, hervor, daß die Zeit von 1874 bis 1914 der Tag der Vorbereitung ist. Dies verstößt in keiner Weise gegen den Gedanken, daß die Zeit des Endes von 1799 bis 1914 läuft...»

Interessant ist dieser Redeauszug auch deshalb, weil er ein erstes Abrücken von der bis dahin gültigen Jahreszahl 1878, als Beginn der Herrschaft Christi, war. Bruder Russel schrieb in seinem 2.Band der Schriftstudien, »Die Zeit ist herbeigekommen«:

»Die Gegenwart unseres Herrn als Bräutigam und Schnitter wurde während der ersten 3½ Jahre von 1874-1878 erkannt. Seit jener Zeit ist es mannigfach offenbar geworden, daß in 1878 die Zeit vorhanden war, da königliches Gericht im Hause Gottes beginnen sollte ... Da das Jahr 1878 die Parallele der Zeit ist, da er im Vorbilde seine Macht und Autorität an sich nahm, so bezeichnet es die Zeit für das tatsächliche Ansichnehmen der Gewalt als König der Könige von seiten unseres gegenwärtigen, unsichtbaren Herrn - die Zeit, da er seine große Gewalt an sich nahm um zu herrschen...«

Zusammenfassend lehrte Bruder Russel, daß Jesu Gegenwart 1874 begann, 3½ Jahre später, also 1878 sollte die Ausübung seiner Macht und die Aufrichtung des Königreiches Gottes beginnen. Den Beginn der Zeit des Endes legte er auf das Jahr 1799.

Br.Russel sagte später für das Jahr 1914 nicht den Ausbruch eines Krieges von Nationen gegeneinander voraus, sondern die Beendigung aller Kriege, das sichtbare Erscheinen des Friedensreiches - also eher das Gegenteil. (WT Juli 1894 : - »es handelt sich, so glauben wir, um Gottes Daten, nicht die unseren. Man behalte aber im Sinn, das Ende des Jahres 1914 ist nicht das Datum für den Beginn, sondern für das Ende der Zeit der Bedrängnis.«).

Erst als diese »feststehenden Wahrheiten« so nicht eintrafen, wurden sie in den unsichtbaren Bereich verlegt - eine Idee (auch 1914) die Bruder Russel angeblich von den Adventisten übernahm und die natürlich nur sehr schwer zu widerlegen ist.

Auf Br.Russel aufbauend fuhr Br.Rutherford mit dem deutlichen Formulieren von Jahreszahlen fort. So schrieb er in »Die Harfe Gottes (1921)«:

»Zwei wichtige Zeitpunkte gibt es hier, die wir nicht durcheinander werfen dürfen, sondern klar auseinander halten müssen, nämlich den Beginn der Zeit des Endes und die Gegenwart des Herrn. Die Zeit des Endes umfaßt einen Zeitraum vom Jahre 1799 an, wie zuvor angedeutet ... Die Zeit der zweiten Gegenwart des Herrn aber datiert von 1874 an, wie zuvor bemerkt...«.

In der Broschüre »Millionen jetzt lebender Menschen werden nie sterben« wurden von Br.Rutherford weitere Jahreszahlen genannt:

»Wie wir hier vorausgehend dargelegt haben, ist der Beginn des grossen Jubeljahr-Zyklus mit dem Jahre 1925 fällig. Zu jener Zeit soll die irdische Phase des Königreiches vorhanden sein...

Daher können wir vertrauensvoll erwarten, daß mit 1925 die Rückkehr Abrahams, Isaaks, Jakobs und der glaubensvollen Propheten des alten Bundes eintreten wird...«.

Eine Aussage die er später mit den Worten kommentierte »Ich habe mich lächerlich gemacht«.

Einen weiteren Kommentar zu diesem Thema finden wir in Sprüche 10:19. Dort heißt es:

»Bei der Menge von Worten fehlt Übertretung nicht, wer aber seine Lippen in Schach hält, handelt verständig.«

Der Schreibstil der damaligen Schriften »unbestreitbare Tatsachen beweisen«, »über jeden Zweifel hinaus richtig«, »feststehende Gewißheit« verraten ein großes religiöses Selbstbewußtsein des jeweiligen Autors. Sogar von Daten Gottes war die Rede. Wenn sich aber diese »feststehenden Wahrheiten« als falsch erweisen, kann der Autor dadurch Größe zeigen, indem er dies offen und ehrlich eingesteht. Sicherlich wäre es angebracht die eigenen Ansprüche hinsichtlich der Bibelauslegung zu reduzieren und die eigene Autorität etwas bescheidener zu sehen. Geschah dies aber damals? Die Reaktion können wir aus dem WT vom August 1922 entnehmen, wo es heißt:

»... da fällt es uns nicht schwer, 1925, wahrscheinlich im Herbst, als den Anfang des gegenbildlichen Jubeljahres festzulegen. 1925 kann ebensowenig bezweifelt werden, als wie das Jahr 1914 ... und so haben viele die Neigung gehabt, mehr zu erwarten, als wie wirklich vorausgesagt worden war. So geschah es 1844, 1874, 1878 sowohl als auch 1914 und 1918. Zurückschauend können wir nun leicht erkennen, daß JENE DATEN WELCHE KLAR IN DER HEILIGEN SCHRIFT ENTHALTEN WAREN, vom Herrn zweifellos nur gegeben wurden, um Gottes Volk zu ermutigen, wie sie es auch getan haben. Andererseits waren auch Prüfungen und Sichtungen damit verknüpft, wenn nicht alles sich ereignete, was einige erwartet hatten...«.

Noch einmal wurde auf das Jahr 1925 hingewiesen, nicht als Möglichkeit, sondern als feststehende Tatsache! Doch auch diese »Prophezeiung« sollte sich im Nachhinein als falsch herausstellen.

Die Bibel schreibt in 5.Mose 18:22:

»wenn der Prophet im Namen Jehovas redet, und das Wort trifft nicht ein oder bewahrheitet sich nicht, so ist dieses das Wort, das Jehova nicht geredet hat. Mit Vermessenheit hat der Prophet es geredet. Du sollst vor ihm nicht erschrecken.«

Anstatt den Irrtum zuzugeben und die eigenen Glaubensansichten künftig etwas vorsichtiger zu formulieren, wurde an den Jahreszahlen weiterhin dogmatisch festgehalten, da diese klar in den Heiligen Schriften enthalten seien. Sie wurden jetzt in der Weise verstanden, daß sie zur Ermutigung des Volkes Gottes beitrugen und eine Prüfung und Sichtung bewirkten. Die Losung damals hieß: Loyalität gegenüber den Lehren des »treuen und klugen Knechts« ist gleichbedeutend mit Loyalität gegenüber Gott und Christus. Wer diese Lehren (sei es auch nur in den Teilen, die sich für alle sichtbar nicht erfüllt hatten) anzweifelte, der wurde als jemand hingestellt, dem es nicht nur an Glauben mangelte, sondern der sich zuviel auf seine eigene Weisheit einbildete, der stolz und eigensinnig vom Teufel in die Irre geführt wurde und den Herrn und dessen irdisches Werkzeug verleugnete. So stand es tatsächlich im Wachtturm!

Hier spannt sich auch der Bogen zur Neuzeit.

Die letzte Zeitprophezeiung wurde von Bruder Frederick Franz auf das Jahr 1975 bezogen geäußert. In dem Buch »Ewiges Leben in der Freiheit der Söhne Gottes« schreibt er:

»Gemäß dieser zuverlässigen Bibelchronologie werden 6000 Jahre, von der Zeit der Erschaffung des Menschen an, mit dem Jahre 1975 enden und die siebente Periode von 1000 Jahren Menschheitsgeschichte beginnt im Herbst des Jahres 1975 u.Z. ... Das würde für die Menschheit äußerst zeitgemäß sein. Es würde auch von Gott aus sehr zeitgemäß sein, denn erinnere dich bitte daran, die Menschheit hat nur noch das vor sich, was das letzte Buch der Heiligen Schrift über die Tausendjahrherrschaft Jesu Christi über die Erde, die Milleniumsherrschaft Jesu Christi, sagt.«

Diese Aussagen zu 1975 wurden in späteren WT und Erwachet-Artikeln noch präzisiert. Erwachet vom 8.4.69 schrieb: »Die Tatsache, daß mehr als 45 Jahre der Zeitspanne, die als die »letzten Tage« bezeichnet wird, verflossen sind, ist hoch bedeutsam: IM HÖCHSTFALL DAUERT ES NUR NOCH WENIGE JAHRE, bis Gott das verderbte System der Dinge, das jetzt die Erde beherrscht, vernichten wird ...Die Tatsache, daß wir IN DEN LETZTEN PAAR JAHREN dieser »Zeit des Endes« leben, kann noch auf eine andere Weise nachgewiesen werden. Die Bibel zeigt, daß 6000 Jahre Menschheitsgeschichte bald abgelaufen sind.«

Die Parallelen zur damaligen Zeit sind unverkennbar.

Auch F.Franz untermauert seine Thesen mit der zuverlässigen Bibelchronologie, auch er »weiß«, was für Gott zu welcher Zeit passend wäre. 1975 ist die einzige Zeitprophezeiung die ich persönlich miterlebt habe. Heute noch sehr bewußt sind mir die enorme Erwartungshaltung, die Enttäuschung und auch die teilweise absurden Verhaltensweisen einzelner Personen, die von diesem 1975er Denken erfüllt waren. Damals wie heute wurde die Verantwortung weniger dem Urheber, als vielmehr den Empfängern der Botschaft zugeschoben. Diese hätten wieder viel zu viel in die Veröffentlichungen der Gesellschaft hineingelesen. Dies ist so einfach nicht wahr!

Selbst noch nach 22 Jahren fällt es schwer, diesen Fehler zuzugeben. Im WT vom 1.4.97 steht zu dem Thema Zeitrechnung:

»Fundamentalistische Religionen sind häufig bemüht, unbedingt etwas in die Bibel hineinzulesen, was dort überhaupt nicht steht: Tag und Stunde des Weltuntergangs. Die Herausgeber dieser Zeitschrift ziehen es vor, die Bibel sich selbst erklären zu lassen.«

Nicht der Irrtum (dieser sicherlich an anderer Stelle verdienten Männer) ist zu verurteilen, sondern der Umgang mit diesem.

Anstatt offen und ehrlich diese Fehler einzugestehen - ein Argument, das wir immer wieder für die Echtheit der Heiligen Schrift anführen, ist die Offenheit und Ehrlichkeit mit der die Schreiber der Bibel auch über ihre Fehler und Irrtümer berichteten - wurde wieder absolute Loyalität gegenüber dem gesamten Lehrgebäude des »treuen und verständigen Sklaven« eingefordert. Wieder diente diese Jahreszahl dazu, das Volk Jehovas zu ermutigen(?) und es zu prüfen und zu sichten. Wer bestimmte Lehren in Frage zog (eine aufgrund der Tatsachen nur zu verständliche Reaktion), sich vielleicht sogar enttäuscht abwandte, hatte eben die falschen Beweggründe - eine Strategie die schon von Bruder Russel erfolgreich angewandt worden war. Jeder vernünftige Dialog zwischen »Menschen« wird im Keime erstickt, wenn sich eine Gruppe so absolut über eine andere erhebt und sich mit einer gewissen heiligen Aura umgibt, der die Wirklichkeit aber dann doch nie standzuhalten vermag.

R.Franz formuliert dies mit folgenden deutlichen Worten:

»In der Öffentlichkeit wurde von anderer Seite viel darüber gesagt und geschrieben, wie die Erwartungen der Organisation in Verbindung mit 1975 unerfüllt geblieben waren. Auch in den Reihen der Zeugen Jehovas wurde viel darüber gesprochen. Meines Erachtens ist dabei aber der eigentliche Kern des Problems fast nie zur Sprache gekommen. M.E. ging es um weit mehr als um die gewissenhafte oder schlampige Arbeitsweise eines einzelnen Menschen oder auch um die Vertrauenswürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit einer Organisation, bzw. die Denkfähigkeit oder Leichtgläubigkeit ihrer Mitglieder. Was hier eigentlich am schwersten wog, so meine ich, waren das Ansehen Gottes und seines Wortes. Welche Folgen hat es, wenn Menschen derartige Voraussagen machen und behaupten, sie täten dies auf biblischer Grundlage, wenn sie Beweisführungen mit Texten aus der Bibel untermauern, wenn sie gar vorgeben, Gottes »Mitteilungskanal« zu sein - und sich dann ihre Voraussagen als falsch herausstellen? Wird Gott dadurch geehrt, oder stärkt es den Glauben an ihn und an die Zuverlässigkeit seines Wortes? Oder ist nicht genau das Gegenteil der Fall? Sehen sich nicht manche Leute einmal mehr gerechtfertigt, die Botschaft der Bibel und ihre Lehren gering zu achten? Diejenigen unter den Zeugen, die einschneidende Änderungen in ihrem Leben vorgenommen hatten, konnten sich in den meisten Fällen wieder fangen und weiterleben, auch wenn ihre Hoffnungen sich zerschlagen hatten. Das konnten aber nicht alle. In jedem Fall jedoch war der angerichtete Schaden verheerend.« - Zitat Ende.

Ich glaube ein Abtrünniger im biblischen Sinne würde solche Worte nicht äußern!

Die o.g. Gedanken sind sicherlich auch nicht die Worte eines »falschen Lehrers« oder »Spötters«, wie sie in 2.Petrus beschrieben werden, sondern sie sind das Resultat eines sehr wachen Verstandes, der sein eigenes Denken und Empfinden noch bewahrt hat. Raymond Franz zeigt darin auch seinen großen Respekt gegenüber Gott, seinem Wort und den dem »Sklaven« anvertrauten Menschen.

Er spricht weiterhin die Wahrheit, wenn er in seinem Buch schreibt, daß Menschen von Gott nicht die Autorität zum Herrschen über andere erhalten haben, sondern vielmehr den Auftrag zu dienen - »der Größte unter Euch, soll der Diener von allen sein« Math. 20:25-27.

Im Zusammenhang mit dem Vorwurf an die Pharisäer, daß sie schwere Lasten auf die Schultern von Menschen legen, die sie selbst nicht bewegen wollen, schreibt Jesus auch »Ihr aber laßt euch nicht Rabbi nennen, denn E I N E R ist euer Lehrer, während ihr alle Brüder seid.« Math. 23:8.

Die Pharisäer scheiterten vor allem daran, daß sie sich zwischen Gott und die Menschen schoben und ihren Überlieferungen und Tradtionen mehr Beachtung schenkten, als dem Worte Gottes. So verfehlten sie dessen Geist.

Auch Bruder Frederick Franz wurde m.E. zum Teil Opfer von menschl. Überlegungen und Überlieferungen. Er setzte dabei eigentlich nur das Erbe - eine Fülle von sehr spekulativen Zeitprophezeiungen - von Br.Russel und Br.Rutherford fort und bestätigte damit den Wahrheitsgehalt des Satzes:

»Der größte Feind der Wahrheit ist häufig nicht die vorsätzliche, betrügerische Lüge, sondern der Mythos, die Tradition: diese halten sich zäh, klingen überzeugend und haben doch mit der Wirklichkeit nichts zu tun.«

Auch R.Franz Gedanken zur wahren Aufgabe von christlicher Führung und Organisation kann ich sehr gut nachempfinden. Er schreibt:

»Auch gegen eine »Organisation« im Sinne einer geordneten Einrichtung hatte ich nichts, denn für mich gehörte so etwas einfach zur christlichen Gemeinde. Doch meiner Meinung nach hatte eine solche Einrichtung ihrem ganzen Zweck und Wesen nach nur dafür da zu sein, den Brüdern zu helfen. Sie sollte ihren Interessen dienen und nicht umgekehrt. Wie die Einrichtung im einzelnen aussah, war egal, doch sie mußte die Menschen aufbauen, damit sie keine geistigen Kleinkinder blieben, die von Menschen oder Institutionen abhingen, sondern fähig wurden, als voll erwachsene, reife Christen zu handeln. Sie sollten nicht bloß dazu erzogen werden, sich den Regeln und Anweisungen einer Organisation brav anzupassen, sondern Menschen werden »die ihr Wahrnehmungsvermögen durch Gebrauch geübt haben zur Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht«. Welche Organisationsform man auch wählte, sie müßte zu einem Gefühl echter Bruderschaft führen, mit der freimütigen Rede und dem gegenseitigen Vertrauen, das wahre Bruderschaft kennzeichnet, und nicht zu einer Gesellschaft, in der wenige regieren und die vielen anderen regiert werden. Und schließlich durfte es Führung in dieser Einrichtung nur in der Form des beispielhaften Vorbilds geben, das Festhalten am Wort Gottes, wobei die Weisungen des Herrn und Meisters so weitergegeben und eingeschärft würden, wie er sie gab, ohne sie den scheinbaren Interessen einer menschengemachten Organisation anzupassen und ohne daß man die anderen seine Macht spüren ließ, wie es die Großen dieser Welt tun. Dies muß dazu führen, daß allein Christus Jesus das Haupt ist und nicht die Autorität irgendeines irdischen Herrschaftsapparates und seiner Funktionsträger über allem steht. Bei uns hatte ich den Eindruck, daß die Funktion Jesu Christi als aktives Oberhaupt überschattet und vollständig verschüttet wurde durch das autoritäre Gehabe, das ständige Eigenlob und die dauernde Selbstanpreisung der Organisation.« Zum Thema Dogma oder reine biblische Lehre, zitiert R.Franz auch den damaligen Präsidenten N.Knorr. Dieser soll bei einer Diskussion über Jahreszahlen gesagt haben:

»Bei manchen Dingen bin ich mir sicher: Ich weiß, daß Jehova unser Gott ist, daß Christus Jesus sein Sohn ist, daß Jesus sein Leben als Lösegeld für uns gab, daß es eine Auferstehung gibt. Bei anderen Dingen bin ich mir nicht so sicher. Zum Beispiel bei 1914. Davon reden wir schon sehr lange. Es mag sein, daß wir recht haben. Ich will es hoffen.«

Diesen Worten kann ich mich eigentlich nur anschließen. Unverständlich ist es für mich allerdings, daß genau solche Glaubensdogmen aber oftmals die Grundlage dafür bilden, um festzustellen, ob jemand noch im »wahren« Glauben ist, oder ob er diesen »verleugnet« hat.

R.Franz zitiert aus einem Brief der Weltzentrale der Z.J. an alle Kreis- und Bezirksaufseher vom 1.9.1980. Dort heißt es:

»Wendet sich also ein getaufter Christ von den Lehren Jehovas, SO WIE SIE VOM TREUEN UND VERSTÄNDIGEN SKLAVEN DARGELEGT WERDEN, ab, ... dann fällt er vom Glauben ab...

Wenn er aber nach ausgedehnten Bemühungen immer noch an seine falschen Lehren glaubt und die Auffassung, die ihm durch die Sklavenklasse zugekommen ist, zurückweist, dann sollten die entsprechenden rechtlichen Schritte eingeleitet werden.«

Steht die Organisation noch heute zu dieser Aussage?

Ein weiteres, sehr bezeichnendes Zitat schreibt R.Franz dem Bezirksaufseher Bart Thompson zu, geäußert bei dessen Versuch, die geistige Gesundheit bei R.Franz wiederherzustellen. Allerdings muß man sich hier fragen, wer hier wen heilen muß!

»Bezirksaufseher Bart Thompson hielt ein Buch der Gesellschaft mit einem grünen Einband hoch und sagte: »Wenn die Gesellschaft mir sagen würde, dieses Buch sei nicht grün, sondern schwarz, dann würde ich sagen: ,Also, ich hätte glatt schwören können, es sei grün; aber wenn die Gesellschaft sagt, es ist schwarz, dann ist es schwarz!« - Zitat Ende.

Der Geist, der in dieser Aussage zum Ausdruck kommt, ist mir leider nicht unbekannt.

In diesem Fall ist die Kritik »Sklaven des Wachtturms« sicher berechtigt. Es kann nicht Ziel einer christlichen Erziehung sein, einen solchen Menschentypus, wie oben beschrieben, heranzubilden.

Allerdings fördert die Art und Weise unserer Studienabläufe in den Versammlungen, genau diese Form von passivem (Kadaver)gehorsam. Als Problem sehe ich, daß wir in den Versammlungen kein Podium für einen echten und offenen Dialog zwischen mündigen Menschen haben.

Kapitel 6. des Buches »Der Gewissenskonflikt«, ist mit der Überschrift »Zweierlei Maß« versehen und in diesem geht R.Franz auf die Situation der Brüder in den Ländern Malawi und Mexiko ein. Er schreibt, daß einerseits von den Brüdern in Malawi verlangt wurde, auf keinen Fall eine Parteimitgliedskarte der einzig zugelassenen(!) »Malawi Congress Party« zu kaufen, da dies einem Akt der Anbetung gleichkäme und so die christliche Neutralität verletzt werden würde. Andererseits wurde es aber den Brüdern in Mexiko erlaubt, Bestechungsgelder zu bezahlen, um damit an eine gefälschte Militärbescheinigung ihres Landes zu gelangen.

Er zitiert aus einem Brief des Zweigkomitees vom 2.Juni 1960 an das Zweigbüro in Mexiko:

»Was nun diejenigen betrifft, die durch Zahlung eines Geldbetrags an die verantwortlichen Beamten vom Ableisten des Militärdienstes entbunden sind, so ist dies das Gleiche, was auch in anderen lateinamerikanischen Ländern geschieht, wo sich die Brüder durch Geldzahlung an einen Militärbeamten freikaufen, um sich ihren Freiraum für theokratische Tätigkeit zu erhalten. Wenn Angehörige des militärischen Apparats bereit sind, sich gegen Entrichtung einer Gebühr auf ein solches Verfahren einzulassen, dann ist das die Verantwortung dieser Vertreter des Staates. Das Geld fließt in diesem Fall nicht dem Militärapparat zu, sondern geht an die daran beteiligte Einzelperson über. Wenn das Gewissen einzelner Brüder es ihnen gestattet, sich darauf einzulassen, damit sie größere Freiheit haben, so besteht unsererseits kein Einwand dagegen...« - Zitat Ende.

Während in Mexiko - wo viel weniger Gefahr für Leib und Leben bestand - eine sehr großzügige Haltung an den Tag gelegt wurde, sah dies zur gleichen Zeit für Malawi ganz anders aus. Die überwiegende Mehrheit der Brüder in Malawi hielten sich an diese strikte Anweisung aus dem fernen Brooklyn und mußten dafür einen sehr hohen Preis bezahlen!

WT 1.9.96: »Wir erfüllen das Gesetz des Christus nicht dadurch, daß wir die Pharisäer nachahmen und die Lasten unserer Brüder unzulässig vergrößern, sondern dadurch, daß wir einander die Bürden tragen.«

Ist es richtig, daß unsere Organisation in Mexiko nicht als religiöse, sondern als kulturelle Einrichtung dargestellt wurde, um frei über das Eigentum der Gesellschaft in diesem Land verfügen zu können?

Ist es wahr, daß das Vermögen der Gesellschaft lt. einem Finanzbericht an die ltd. Körperschaft von 1978, 332 Millionen US-Dollar (Immobilien/Guthaben) betragen hat?

Zum Schluß möchte ich noch zwei Zitate aus dem Buch »Der Gewissenskonflikt« anführen, die mir aus dem Herzen sprechen und die m.E. auch die Person R.Franz sehr gut widerspiegeln.

1) »Es ist so angenehm, jetzt frei zu sein und nicht bei jedem Menschen, den man trifft, erst nach einem »Etikett« schauen zu müssen, um zu wissen, wie man mit ihm umzugehen hat. Man fühlt sich nicht mehr genötigt, ihn entweder als Glaubensbruder oder als »Weltmensch« einzusortieren, der entweder »in der Wahrheit« oder »ein Teil der Organisation des Teufels« ist, der wegen des Etiketts »Zeuge Jehovas« automatisch ein »Bruder« oder eine »Schwester« ist, oder aber, weil dieses Etikett fehlt, lediglich jemand, dem man »predigt«, der im übrigen aber keiner freundschaftlichen Kontakte würdig ist. STATTDESSEN TUT MAN, WAS NUR RECHT UND BILLIG IST, MAN BEURTEILT NÄMLICH JEDEN UNVOREINGENOMMEN DANACH, WAS ER ODER SIE ALS MENSCH IST. Wenn man so handelt, fühlt man sich wohler, denn wir wissen »daß Gott nicht parteiisch ist, sondern daß für ihn in jeder Nation der Mensch, der ihn fürchtet und Gerechtigkeit wirkt, annehmbar ist«.

2) »Ich will keiner Lehre mehr glauben, die ich für falsch halte, und werde für das eintreten, was meiner Meinung nach richtig ist. Ich kann nicht länger andere richten, die auch Gott lieben, und ich kann nicht mehr meinen, ich sei etwas Besseres als sie, weil ich Dinge weiß, die sie nicht wissen. Gott berücksichtigt, in welcher Ausgangsposition sich jeder befindet. IN MANCHEN DINGEN HABEN WIR ALLE VERKEHRTE ANSICHTEN, UND WENN WIR EINANDER RICHTEN, uns vergleichen, miteinander in Konkurrenz treten und uns von anderen absondern, die auch Gott lieben und ihn suchen, DANN FOLGEN WIR NICHT GOTTES WEG. Sein Weg ist die Liebe, die vereint und heilt und eine Menge Sünden und Irrtümer zudeckt. Irgendwann werden wir alle die ganze Wahrheit verstehen, doch bis es soweit ist, müssen wir mit anderen teilen, was wir haben, anderen helfen und Kraft geben, und keine Gräben ziehen.« - Zitat Ende.

Die Bibel bestätigt diese »abtrünnigen« Gedanken in Römer Kapitel 2:

»Darum bist du unentschuldbar, o Mensch, wer immer du bist, wenn du richtest...

»Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind die vor Gott Gerechten, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtgesprochen werden. Denn wenn immer Menschen von den Nationen, die ohne Gesetz sind, von Natur die Dinge des Gesetzes tun, so sind diese Menschen, obwohl sie ohne Gesetz sind, sich selbst ein Gesetz. Sie zeigen ja, daß ihnen der Inhalt des Gesetzes ins Herz geschrieben ist, wobei ihr Gewissen mitzeugt und sie inmitten ihrer eigenen Gedanken angeklagt oder auch entschuldigt werden.

Das wird an dem Tag sein, an dem Gott durch Christus Jesus die verborgenen Dinge der Menschen gemäß der guten Botschaft, die ich verkündige, richtet.«

»Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist,... sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und seine Beschneidung ist die des Herzens durch Geist und nicht durch ein geschriebenes Recht. Das Lob eines solchen kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.«

Diese Gedanken aus Römer, Kapitel 2 sind für mich eine Kernaussage der Heiligen Schrift.

Gemäß diesen Versen kommt es weniger darauf an, irgendeine richtige oder falsche Organisationszugehörigkeit zu besitzen, sondern darauf, was für ein Mensch wir innerlich sind. Das Kriterium für die positive Beurteilung von Gott ist, inwieweit wir den Inhalt des Gesetzes (die Gebote der Liebe!) in unser Herz geschrieben haben und inwieweit diese Kraft in unserem Leben sichtbar wird. Dabei können zuviel Dogmatismus und menschl.Überlieferung nur schaden - diese ersticken den Geist und führen stattdessen zu unnötigen Erstarrungen und Feindschaften.

Nicht durch eine Organisation oder ein Amt wird ein Mensch definiert, sondern durch sein Innerstes.

Haltet ihr ein von Gott anerkanntes Leben außerhalb der »neuzeitlichen Arche« tatsächlich für unmöglich?

Was sind meine Motive für diesen Brief?

Wie eingangs erwähnt, hat mich das Schicksal von R.Franz stark berührt. Ich glaube auch guten Gewissens sagen zu dürfen, daß es meine Liebe zur »Wahrheit« ist, die mich angetrieben hat, diesen Brief zu schreiben.

Dieser Brief wurde auch im Bewußtsein der Weisheit des Satzes “prüfet alles und das Gute behaltet!” verfaßt.

Es ist einfach wahr, daß es neben den vielen positiven Merkmalen unserer Organisation, auch etliche negative Erscheinungsformen gibt. Ein Beispiel hierfür ist sicherlich der Umgang mit unserer Vergangenheit, mit ihren »Prophezeiungen« und den etwas abstrusen nachträglichen Erklärungsmodellen. Doch nur der wahrhaftige Umgang mit der Vergangenheit, kann in eine glaubwürdige Zukunft führen.

Ein weiterer negativer Punkt der immer wieder ins Auge sticht, ist die sehr kritische Einstellung allen anderen gegenüber, während man mit sich selbst wesentlich großzügiger verfährt.

Hierzu zwei Beispiele aus dem WT vom 1.9.96 aus den 3 Studienartikeln über das Gesetz des Christus.

Mir ist noch sehr bewußt, wie mir damals der Schrifttext aus Math. 7:3 in den Sinn kam »Warum schaust du also auf den Strohhalm im Auge deines Bruders, beachtest aber nicht den Balken in deinem eigenen Auge?«

WT 1.9.96:

"Heute ist die Christenheit in Hunderte von Sekten aufgesplittert, deren Spektrum von extrem streng bis extrem liberal reicht. Sie alle sind auf die eine oder andere Art über das hinausgegangen, was geschrieben steht, indem sie zugelassen haben, daß die Herde von menschlichem Denken beherrscht wird, das im Widerspruch zum göttlichen Gesetz steht".

GESCHAH DIES BEI UNS NICHT AUCH?

WT vom 1.9.96, Beispiel 2:

»Die jüdischen Führer versäumten es, die Liebe zu fördern. Ihre Traditionen brachten eine von Äußerlichkeiten besessene Religion hervor, der man mechanisch Gehorsam leistete, um den äußeren Schein zu wahren - eine ideale Brutstätte für Heuchelei.«

Diese Gedanken könnten dem Buch »Der Gewissenskonflikt« entnommen sein. R.Franz berichtet darin von einer Diskussion innerhalb der ltd.Körperschaft über das Thema »Glaube und Werke«:

»Ich war der Meinung, daß Paulus vor allem dazu aufforderte, die Menschen im Glauben stark zu machen; danach würden sich die Werke von allein ergeben, weil echter Glaube tätig ist und Werke hervorbringt, genau wie das auch bei echter Liebe der Fall ist. Man kann Menschen ständig drängen Werke zu tun, und unter Druck mögen sie dem auch folgen. Doch wie weiß man, daß diese Werke aus Glauben und Liebe getan wurden? Und wenn das nicht der Fall ist, wie könnten sie dann Gott angenehm sein? Das führte zu der logischen Folgerung, daß sich Werke des Glaubens spontan ergeben mußten. Sie durften nicht aus Routine getan werden und an eine bestimmte Form gebunden sein, so wie auch Taten der Liebe spontan sein und nicht lediglich als Pflichtübung absolviert werden sollten, für die andere den Rahmen abgesteckt haben. Organisatorische Hilfen sind nicht verkehrt, doch sollten sie der Vereinfachung dienen und nicht unterschwellig Druckmittel sein, um denen, die sie nicht nutzen, Schuldgefühle einzupflanzen. JE MEHR MAN VERSUCHT, MITCHRISTEN VORSCHRIFTEN ÜBER IHRE HANDLUNGEN ZU MACHEN, DESTO MEHR NIMMT MAN IHNEN IN WAHRHEIT DIE MÖGLICHKEIT, SICH VON GLAUBE UND LIEBE ANTREIBEN ZU LASSEN. Ich gab zu, daß es erheblich schwieriger und mühseliger ist, den Glauben und die Wertschätzung der Menschen durch die Bibel zu stärken, als anfeuernde Reden zu halten oder anderen Schuldgefühle einzupflanzen. Doch der schwerere Weg war meiner Ansicht nach der einzig schriftgemäße und angebrachte.« - Zitat Ende.

Es ist leider zu beobachten, daß diese Werke in Form eines verstärkten Predigtdienstes immer dann besonders eingefordert werden, wenn man unter dem Druck der Umstände gezwungen wurde, falsche Endzeiterwartungen zu korrigieren. Die Schlagzahl christlicher Aktivität wird dann deutlich erhöht, wie erst vor kurzem wieder zu beobachten war, anläßlich des neuen Verständnisses von »dieser Generation« - (12.000 Pioniere). Ist es Zufall, daß die Bibelauslegung unserer Organisation, als Zeitpunkt für die große Wende, immer ein mehr oder weniger deutlich formuliertes »Datum« der unmittelbaren Zukunft ansetzt?

WT vom 1.9.97:

»Jemand, der seit über 66 Jahren im Vollzeitdienst steht, schrieb: »Solange ich zurückdenken kann, ... verspüre ich ein echtes Gefühl der Dringlichkeit. In meinen Gedanken ist Harmagedon immer schon übermorgen. Wie mein Vater und sein Vater vor ihm, habe ich in meinem Leben stets die Gegenwart des Tages Jehovas erwartet...«.

Ich möchte hier keinesfalls christlicher Lauheit das Wort reden oder mich Spöttern anschließen, die nicht an diesen Tag Jehovas glauben. Aber es fällt mir schwer, die o.g. Aussage ausschließlich unter dem positiven Gesichtspunkt zu betrachten, wie dies in dem oben erwähnten WT-Artikel geschieht.

Außer, daß doch sehr mit den Hoffnungen und Sehnsüchten von Menschen gespielt wird, ist auch eine immer stärker werdende Verschiebung zum »Werk«-Christentum feststellbar. Eingebunden in eine Unmenge »theokratischer« (organisatorischer) Aktivitäten, hat dieses übertriebene Endzeitdenken auch dazu geführt, daß sich viele Zeugen Jehovas keine Gedanken über so profane Dinge, wie ihre eigene Altersversorgung gemacht haben - auch R.Franz wurde von dieser »weltlichen« Wirklichkeit unangenehm überrascht.

Während unsere Zeitschriften oft diese nicht erfüllten Endzeiterwartungen bei anderen religiösen Gruppierungen kritisieren, zeigt man selbst große Empfindlichkeit, wenn sich Kritik einmal gegen »die einzige Organisation, deren sich Gott bedient«, richtet.

In der Regel wirft man alle Kritiker in denselben Topf und stellt sie als geistig und sittlich verdorbene Personen dar. Daß es solche Personen auch gibt, ist mir bewußt, doch sollte man nicht von vornherein alle Personen die Kritik äußern, so einstufen; man könnte sich der Verleumdung schuldig machen. Ich denke sogar, daß dies im Falle von R.Franz so geschehen ist, der ganz sicher nicht in die Kategorie »Feinde der Wahrheit« gehört.

Dieses absolute Verständnis der eigenen Position, ist m.E. auch eine negative Überlieferung von früher.

Es entspricht ganz dem Geiste von Br.Charles Taze Russel, einer Person, die sich einerseits sehr verdient um die biblische Wahrheit gemacht hat, die andererseits aber auch von einem großen religiösen Sendungs- bzw. Machtbewußtsein getrieben wurde, das auch negative Spuren hinterließ.

Zitat von Br.Russel aus dem Buch »Zeugen Jehovas«:

»Nein, DIE WAHRHEITEN, DIE ICH ALS GOTTES MUNDSTÜCK VORTRAGE, sind mir nicht in Gesichten und Träumen offenbart worden, nicht durch eine hörbare Stimme Gottes, ... sondern sie sind der einfachen Tatsache zu verdanken, daß Gottes rechte Zeit herbeigekommen ist, und wenn ICH nicht redete und kein anderer zu finden wäre, so würden sogar die Steine schreien.«

Ein weiterer Ausspruch Br.Russels lautete:

»der Verfasser (Br.Russel) ... hat nicht seine eigene Weisheit dargetan, sondern, WIE ER ES VOM HERRN DURCH SEIN WORT UND SEINEN GEIST ERHALTEN, so hat er es wiedergegeben, für alle, die Ohren haben zu hören.«

Empfindet Ihr nicht auch, daß aus diesen Worten Br.Russels, ein etwas übersteigertes religiöses Selbstverständnis spricht? Wurde wirklich das Mundstück vom Herrn eingesetzt, oder hat dieses vielleicht den Herrn für sich und seine Lehren vereinnahmt?

Auch wenn diese Zitate aus dem Zusammenhang genommen wurden, so sprechen sie doch für sich.

Sein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein unterstreicht Br.Russel mit seinen Anlehnungen an die Worte Jesu aus den Bibelbüchern Offb. und Lukas. Etwas zu kurz kommen in seinen Worten allerdings die christlichen Tugenden Demut und Bescheidenheit - nicht den Sklaven sollten wir anbeten, sondern den Herrn!

Es ist nicht weise und auch nicht biblisch, wenn man die eigene, menschliche Meinung (wie anders sonst sind die Irrtümer zu erklären) so darstellt, als wäre diese vollkommen und käme gleichsam direkt vom Throne Gottes.

R.Franz zitiert in seinem Buch eine solche »Ansicht« des Sklaven, deren Befolgung er in seinen späteren Lebensjahren bedauerte. Br.Rutherford sagte 1938 in einem Hauptvortrag für junge Leute unter dem Thema »Schau den Tatsachen ins Auge«:

»Wäre es schriftgemäß, daß sie jetzt heirateten und Kinder aufzuziehen begännen? Nein, lautet die Antwort, die von der Heiligen Schrift gestützt wird«.

Diese Worte sind sicherlich ein weiteres Beispiel für eine übertriebene Interpretation der Heiligen Schrift. Man kann diese Ehe- bzw. Kinderlosigkeit durchaus FÜR SICH SELBST wählen, man sollte aber niemals mit solchen dogmatischen Worten über das Leben von Mitchristen bestimmen wollen.

Man beginnt immer dann »über den Glauben des anderen zu herrschen«, wenn man eigene Ansichten überhöht und diese sogar - mit der Autorität als »Gottes alleiniges Sprachrohr« - zur verbindlichen Richtschnur für das Leben von Millionen von Gläubigen macht.

Deshalb betrachte ich auch das Verhalten von R.Franz nicht als illoyal. In seiner Position hatte er sogar die Pflicht seinem GeWISSEN zu folgen und sich einigen unvernünftigen und übertriebenen Ansichten seiner Zeit in den Weg zu stellen.

Jüngstes Beispiel für eine korrigierte »Ansicht«, ist das neue Verständnis zu gesellschaftlichen Aktivitäten, wie z.B. Elternbeirat oder ähnlichen Betätigungen. Während man noch vor nicht allzulanger Zeit zumindest geistig ausgeschlossen worden ist (ähnlich wie beim Zivildienst), wird es heute dem persönlichen Gewissen überlassen, wie ich zu diesen Tätigkeiten eingestellt bin. Ist diese »Wahrheit« wirklich so neu, oder wurde nicht vielmehr erneut eine unangemessene Einmischung in persönliche Angelegenheiten korrigiert?

Autorität und Führung im Sinne von 1.Petrus, Kap.5 muß sein. Doch bezieht sich die Erkenntnis Salomos, daß »der Mensch über den Menschen zu seinem Schaden geherrscht hat«, sicher nicht nur auf politische Unterjochung. Wie der WT vom 15.3.98 richtigerweise anmerkt, sollten wir nicht Sklaven von Menschen werden. Allerdings fällt es manchmal schwer, dieses Beherrschtwerden (vor allem im geistigen Bereich), auch als solches zu erkennen, da dies auf eine sehr subtile Art und Weise geschehen kann.

Ich denke, daß man diese Erkenntnis des WT-Artikels auch einmal auf Fehlentwicklungen in den eigenen Reihen anwenden sollte.

Echte Führung zieht die Menschen nicht zu sich selbst, sondern ebnet ihnen vielmehr den Weg zu Gott (auch zu dem »Gott« in ihrem Innersten) und weiß, daß es vor allem die Eigenschaften LIEBE und WEISHEIT sind, die einem Menschen wirkliche Autorität verleihen und ihn auf eine höhere Stufe stellen, als einen anderen, der diese Eigenschaften nicht oder weniger hat. Alle Menschen, besonders aber diejenigen, die Führung beanspruchen, müssen sich immer an dem Bibelwort messen lassen »...an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!«

Daß R.Franz einige dieser Früchte als »nicht ganz so gesund« angeprangert hat, hat ihm »den Kopf gekostet«, wie es ein Kreisaufseher unserer Tage ausgedrückt hat. Wobei es weiser gewesen wäre, dieses Urteil Gott zu überlassen.

Diese Worte des Kreisaufsehers befremden mich ebenso, wie der Umgang unserer Organisation mit der Person von R.Franz und der von ihm geäußerten nicht bösartigen, sondern eher wahrhaftigen und konstruktiven Kritik.

Würdet Ihr die in diesem Brief angeführten Zitate von R.Franz wirklich in die Rubrik »vergiftete Propaganda eines Abtrünnigen« (WT vom 1.1.98) einordnen?

Liebe Brüder, es ist für mich sehr wichtig eine Antwort auf meinen Brief zu erhalten. Ich denke nicht, daß es mir geht, wie den zwei irischen Ältesten, von denen »Der Gewissenskonflikt« berichtet, daß es ihnen nicht gelang mit ihren »Hirten« ins Gespräch zu kommen, nachdem sie die Tumulte um R.Franz mitbekommen hatten und danach extra in die USA reisten, um aus erster Hand Aufklärung in dieser Sache zu erhalten.

Wißt Ihr, was R.Franz heute macht, ist er vielleicht wieder mit unserer Organisation verbunden?

Wie seht Ihr heute die Situation von damals - ist meine Einschätzung (vielleicht aufgrund von zu einseitigen Informationen) falsch?

Auf das zweite Buch von Robin de Ruiter möchte ich nur kurz eingehen, weil in diesem Buch viele unwahre Behauptungen zu finden sind, die es »nicht wert sind, daß man sich ausgiebig mit ihnen beschäftigt« wie der WT gewöhnlich über die Literatur von Kritikern schreibt. In diesem Fall ist es auch richtig! Allerdings haben mich die in diesem Buche abgebildeten Illustrationen aus WT-Publikationen, in meiner Argumentation gegenüber meinem Geschäftskollegen, gehörig in Beweisnot gebracht. Wie steht unsere Organisation zu Vorwürfen, daß in zahlreichen Veröffentlichungen der WT-Literatur satanische Symbole versteckt sind? Ich habe Euch Kopien aus dem Buch beigelegt und bitte um eine Stellungnahme Eurerseits; dieses Phänomen konnte ich meinem Kollegen nicht erklären! Betonen möchte ich, daß ich ALLE Illustrationen in unseren Büchern und Zeitschriften nachgeschlagen habe - diese sind deckungsgleich. Es handelt sich also um keine Fälschungen!

Der WT vom 15.11.85, der in dem oben erwähnten Buch zitiert wird, schrieb unter dem Thema »Würdest Du ein Gerücht verbreiten«?:

»Die Veröffentlichungen der Wachtturm-Gesellschaft sind Gegenstand von Gerüchten gewesen. So ging zum Beispiel das Gerücht um, einer der Zeichner habe heimlich Bilder von Dämonen in die Illustrationen eingefügt, bis er schließlich entdeckt und ihm die Gemeinschaft entzogen worden sei. Hast du dich daran beteiligt, eine dieser Geschichten weiterzuerzählen? Wenn ja, dann hast du »vielleicht unwissentlich« eine Unwahrheit verbreitet, denn sie waren alle aus der Luft gegriffen. Das Gerücht, das die Veröffentlichungen der Gesellschaft betraf, hat sich zweifellos nachteilig ausgewirkt und war auch eine Verleumdung der eifrigen Christen, die viele Stunden auf die Zeichnungen verwenden, um die Zeitschriften, Broschüren und Bücher ansprechend zu gestalten. Es war genauso lächerlich, als würde man behaupten, Gott habe bei der Erschaffung der Himmelskörper absichtlich den »Mann im Mond« gebildet. Ein solches Gerücht kann schlimme Folgen haben. Wer es verbreitet, verbreitet eine Lüge, etwas was Jehova haßt. Durch ein Gerücht wird der Ruf der betroffenen Person oder Einrichtung in Mitleidenschaft gezogen. Wir sollten daher sorgsam darauf achten, ob es sich um Tatsachen handelt, wenn wir etwas weitererzählen, was wir selbst nur gehört haben«.

Nachdem es sich aber nachweislich nicht um ein Gerücht, sondern um eine Tatsache handelt, bitte ich um eine weitergehende Erklärung, wie sie der oben erwähnte WT-Artikel bietet. Dieser reicht nicht aus, die erhobenen Vorwürfe zu entkräften.

Diesen Brief beenden möchte ich nochmals mit der ausdrücklichen Bitte, mir eine baldige und den angesprochenen Themen angemessene Stellungnahme zukommen zu lassen. Um zu einem ausgewogenen Urteil kommen zu können, interessiert es mich sehr, wie sich die angesprochenen Themen aus Eurer Sichtweise darstellen.

In gespannter Erwartung Eurer Antwort verbleibe ich in Mitverbundenheit und tiefer Liebe zur »Wahrheit«,

Euer Mitbruder

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