Drei Historiker diskutieren mit einem Publizisten, einem katholischen Professor und einem protestantischen Sektenbeauftragten. Moderiert wird das Ganze von einer Zeitungsredakteurin. Offiziell geht es um den "Umgang mit vergessenen Opfern". Diskutiert werden aber die Zeugen Jehovas und ihre Einstellung zu Andersgläubigen, Staat und Gesellschaft.

Geschehen im Januar 2000 in Luzern/Schweiz. Veranstaltet von der Wachtturm-Gesellschaft, der selben Organisation also, die den Zeugen Jehovas seit Jahrzehnten lehrt, sie haben sich als "wahre Christen" von der Welt und vor allem vor "Babylon der Großen", dem "Weltreich der falschen Religion" fern zu halten.

Wenn Religiöses unvermeidbar wird

«Haben Sie reserviert?», fragt der smarte Zeuge Jehovas mit Funkgerät und Namenschildchen. «Neue Luzerner Zeitung» genügt, und der freundliche Herr lächelt: «Bitte, gehen Sie doch hinauf.» Zuerst heisst es jedoch einer der netten Frauen bei der Garderobe die Jacke - im Gegenzug zu einem Nummernzettel - abzugeben. Beinahe ein wenig beunruhigend wirkt ein dunkelgekleideter Mann vor der Treppe: Er trägt Mini-Ohrenlautsprecher und an seinem Kittel ein Funkgerät. Ein Leibwächter? «Ein Mitarbeiter des Technik-Teams», erklärt «Zeugen»-Mediensprecher Pierre Frezza später auf Anfrage.

Interreligiöses Gezänk?

Zwei weitere Leibwächter - pardon - Mitarbeiter des Technik-Teams, bereden am Eingang in den Herrenkeller im Historischen Museum den Ablauf der Veranstaltung - vor jenem Raum, in dem eine Zeitzeugin und Zeugin Jehovas, ein Schweizer Offizier, zwei Historiker, ein Publizist, ein katholischer Professor und ein protestantischer Sekten-Beauftragter über das Thema «Umgang mit vergessenen Opfern - ein Ansporn zur Toleranz» diskutieren. Nichtreligiös, wohlverstanden. Schliesslich soll von der Ausstellung in Luzern der Aufruf zu Toleranz und das Gedenken an die «vergessenen Opfer» nachhallen. Und nicht ein fahler Beigeschmack interreligiösen Gezänks hängenbleiben.

Mahnende Worte

Die Podiumsdiskussion bleibt indes nicht frei von konfessionellen Meinungsäusserungen. Obwohl der Einstieg in die Gesprächsrunde gegenteiligen Anschein erweckt: Marlène Schnieper, Redaktorin beim «Tages-Anzeiger» und Moderatorin des Abends, mahnt, dass aus der Geschichte gelernt werden müsse, damit sich solche Gräueltaten wie jene während des Zweiten Weltkriegs nicht wiederholen. Anschliessend beschreibt Historiker Hubert Roser aus Deutschland rudimentär die Verfolgung und die Hinrichtungen der «Zeugen» unter dem Nazi-Regime.

Erste kritische Fragen

Kritisch hinterfragt Pfarrer Martin Scheidegger die Tatsache, dass Zeugen Jehovas ihres Glaubens wegen ihre Ermordung in Kauf nahmen: «Kann der Inhalt eines Glaubens das Sterben wert sein?» Diese Frage bleibt unbeantwortet im Raum stehen.

Eine Kontroverse entsteht um die Frage, inwiefern sich die Zeugen Jehovas dem Nazi-Regime anzupassen versuchten und angepasst haben. «Nur marginal», meint Roser. Ähnlich schätzt es auch Victor Conzemius, Professor für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät Luzern, ein: «Im Gegensatz zu den Anpassungen der Grosskirchen waren jene der Zeugen Jehovas vernachlässigbar.»

Anders sieht es der bekennende Atheist und Journalist Hans Stutz: «Die Zeugen hatten früher eine sehr rüde Sprache. Intolerant sind sie bis heute beispielsweise gegenüber Andersgläubigen geblieben.» Über die Sprache der Zeugen Jehovas gegenüber dem Judentum zeigt sich Gymnasiallehrer Jürg Stadelmann, Historiker und Offizier, gar erschüttert.

Von nun an wird das eigentliche Diskussionsthema immer stärker ausgeblendet. Leider. Plötzlich geht es um die Akzeptanz von Homosexuellen, ob bei den Zeugen Jehovas Gruppenzwang bestehe und ob ein Zeuge Jehovas einer politischen Partei angehören darf.

Schlussvoten

Bevor sich die Auseinandersetzung noch mehr auf die religiösen Inhalte der «Zeugen» beschränkt, leitet Marlène Schnieper die Schlussrunde ein. Den Zeugen Jehovas kritisch gegenüberstehende Diskussionsteilnehmer zollen den Opfern des NS-Regime Respekt, begrüssen die Ausstellung grundsätzlich und rufen die Zeugen Jehovas auf, den eingeschlagenen Weg der Öffentlichkeitsarbeit fortzusetzen. «Sie müssen lernen, sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien», ruft Stutz die «Zeugen» auf. Gymnasiallehrer Max Wörnhard gibt zu bedenken, dass es in der Schweiz gleich viele Juden gebe wie Zeugen Jehovas und fragt suggestiv: «Von wem spricht man mehr, von den 18.000 Juden oder den 18.000 Zeugen Jehovas?» Und Zeitzeugin Simone Liebster gedenkt in ihrem Schlusswort der Verstorbenen des Zweiten Weltkriegs. Insbesondere der Zeugen Jehovas. Sie hätten den Mut gehabt, Nein zu sagen. Möglich sei dies nur gewesen, «weil sie die Bibel als Grundlage genommen haben».

Schlussbotschaft

Anschliessend betritt Dominique Matter, Koordinator des Organisationskomitees, die Bühne. Er bedankt sich für die interessante Diskussion und stellt die Besucherzahlen der Ausstellung vor: Rund 4400 Besucherinnen und Besucher haben die KZ-Baracke auf dem Bahnhofplatz besucht und etwa 7200 Personen ­ darunter 56 Klassen mit insgesamt 984 Schülern ­ die Ausstellung und die entsprechenden Vorträge.

«Wer vor der Vergangenheit die Augen verschliesst, wird blind für die Gegenwart», sagte einst Richard von Weizsäcker. Dieser Botschaft hat die Ausstellung «Vergessene Opfer» Rechnung getragen.

Neue Luzerner Zeitung vom 1.2.2000, Autor: Michael Kuhn