Wie bereits angedroht, soll im Versammlungsbuchstudium demnächst Die Prophezeiung Daniels, Achte darauf! (dp-X) behandelt werden. Vielleicht stellst auch du dir diese spannenden Fragen:

Verfrühter Aprilscherz oder spirituelle Ätzung zur rechten Zeit?

Wird die Rezension in deinem liberalen Buchstudium gnädig bis wohlwollend ausfallen oder in einem Verriss enden?

Könnte sich das Buch auf dem freien Sachbuchmarkt durchsetzen, oder wäre es eher ein Ladenhüter, den niemand freiwillig lesen würde?

Die „Daniel-Klasse“ des „treuen und verständigen Sklaven“, die an Alter seit Jahrzehnten schon weit vorangeschritten ist, wird sich an den Ikonen des greisen Daniel im Daniel-Buch laben können, aber wie steht es mit uns jüngeren und anderen Schafen?

Wie dem auch sei, auf jeden Fall sollten wir uns eine ausgeglichene Ansicht zu ein paar Themen zulegen, die in den nächsten Monaten verstärkt auf uns einströmen und niederprasseln werden.

Die sieben Zeiten in Daniel, Kapitel 4, die Datierung der Eroberung Jerusalems sowie anderer Ereignisse in Daniel, Kapitel 1 und 2 hat Carl O. Jonsson in seinem Buch The Gentile Times Reconsidered „näher betrachtet“. Über Daniel, Kapitel 11, den König des Nordens und den „Provinzialismus“ (Raymond Franz, In Search of Christian Freedom, Kapitel 13) der WTG-Interpretation kann man sich bei infolink schlaumachen [Anm: siehe „Verwandte Themen“].

Was jedoch die siebzig Jahrwochen in Daniel, Kapitel 9, den Startpunkt der Prophezeiung (terminus in quo, Hengstenberg) und das zwanzigste Regierungsjahr des Artaxerxes angeht, so habe ich bisher keine ausführliche kritische Betrachtung der WTG-Auslegung und -Ansichten gefunden. barJonah ließ sich bei seiner Widerlegung des neunten Kapitels von The Bible — God’s Word or Man’s von einem Bezirkskongress davon abhalten, dem Thema mehr als die gewöhnliche Aufmerksamkeit zu schenken. Carl O. Jonnson vertröstet die Leser in The Gentile Times Reconsidered (Atlanta, 31998, S. 82, Fn. 14) auf eine zukünftige Untersuchung. Gibt es diese inzwischen schon, vielleicht sogar im Internet?

Da ich wie gesagt bisher nichts gefunden habe, habe ich in den vergangenen Wochen selber Nachforschungen angestellt. Wenn jemand anders sich aber schon die Mühe gemacht hat oder gerade macht, könnte ich die gelegene Zeit für mich durchaus besser auskaufen. Die Einarbeitung und die Untersuchung ist recht zeitaufwendig. Die benötigten Bücher sind oft nur in einer Uni-, Instituts- oder Staatsbibliothek erhältlich (oder, wem der Nervenkitzel zusagt, in der Höhle des Löwen, in der Bibliothek des Zweigbüros); die älteren Werke unterliegen einem Kopierverbot und sind nur im Lesesaal einsehbar usw.

Ich will im folgenden meine Ergebnisse darstellen. Das Ganze ist noch recht unstrukturiert. Ich warte deshalb auf Eure Kommentare. Der eine mag Fehler entdecken oder auf Unklarheiten aufmerksam machen, der andere auf Punkte hinweisen, die lohnen, weiterverfolgt zu werden, Richtungen, in die man gehen könnte; mit der archäologischen Schiene etwa habe ich mich überhaupt noch nicht befasst. Ein Dritter könnte angeregt werden, meine Ergebnisse als Ausgangspunkt für seine eigenen Forschungen zu nehmen. Eine Bibliographie habe ich allerdings noch nicht zusammengestellt. Ich könnte das alles natürlich auch nach Selters zur dortigen Begutachtung schicken und ein Fußstapfennachfolger Carl O. Jonssons werden.

Die WTG-Interpretation der siebzig Jahrwochen

Der WTG liegt das Jahr 455 v. u. Z. und die Interpretation der siebzig Jahrwochen sehr am Herzen. (Vergleiche etwa Die Prophezeiung Daniels - Achte darauf, S. 52f., 197; Die Bibel - Gottes oder Menschenwort, S. 131; Erkenntnis, die zu ewigem Leben führt, S. 36; Die ganze Schrift ist von Gott inspiriert, S. 291; Einsichten über die heilige Schrift Band 1, S. 498 und Band 2, S. 562-5, 919-21.) Die genaue Erfüllung dieser messianischen Prophezeiung wird als Beleg für die Zuverlässigkeit und Inspiriertheit der Bibel angeführt. Nur in Büchern, die sich erklärtermaßen an ein gebildetes Publikum wenden (Das Leben, wie ist es entstanden?, Gibt es einen Schöpfer, der an uns interessiert ist?), scheint man diese Perle der Bibelauslegung, diesen wichtigen Bestandteil „unseres reichen geistigen Erbes“ (sprich: Dogmas) zu übergehen.

Damit die siebzig Jahrwochen mit der Taufe Jesu 29 u.Z. enden, muss die WTG den Regierungsantritt des Artaxerxes um 10 Jahre vorverlegen, mit der Konsequenz, dass Xerxes 10 Jahre weniger, Artaxerxes dagegen 10 Jahre länger regiert haben, als gewöhnlich angenommen wird (z. B. aufgrund der Angaben in den Königslisten). Die umfangreichste Darstellung dieser WTG-Lehre findet sich im Einsichten-Buch unter dem Stichwort „Perser, Persien“. Hier beruft man sich einerseits auf griechische Historiker, andererseits auf einzelne Tontafelfunde, die als Stütze für die behauptete Chronologie angeführt werden. Das Einsichten-Buch steigt in das Thema eine mit der Behauptung:

In Geschichtswerken herrscht etwas Unstimmigkeit, was die Regierungszeiten des Xerxes und des Artaxerxes betrifft. [...] Gewöhnlich vertreten Gelehrte die Meinung, Artaxerxes’ letztes Regierungsjahr habe 424 v.u.Z. angefangen. Manche Dokumente geben dieses Jahr als das 41. der Herrschaft des Artaxerxes an. Falls das stimmt, hätte er 465 v.u.Z. den Thron bestiegen, und sein erstes Regierungsjahr hätte 464 v.u.Z. begonnen.

Allerdings sprechen überzeugende Gründe dafür, das letzte Jahr des Xerxes und das Thronbesteigungsjahr des Artaxerxes mit 475 v.u.Z. anzugeben.

Man beachte die anschließende verquere Argumentation bei den „Belegen aus griechischen Quellen“. Die Regierungszeiten des Xerxes und Artaxerxes haben dieselbe Glaubwürdigkeit wie die der anderen persischen Könige, und diese werden von der WTG akzeptiert. Obwohl also eigentlich kein Grund besteht, die „weltliche“ Chronologie gerade in diesem Fall anzuzweifeln, begibt sich die Brooklyner Schreibabteilung in die chronologisch verworrene griechische Welt der Pentekontaëtie (478–431 v. Chr.), um das Antrittsjahr des Artaxerxes zu ermitteln! In eine Zeit Griechenlands also, wo es hinter vielen Ereignissen in den Geschichtsbüchern immer noch Fragezeichen gibt.

Für die Ereignisse um Themistokles (Ostrakismos, Anklage auf Staatsverrat nach dem Tod des Spartaners Pausian, seine Flucht nach Kleinasien, Umstände seines Todes) können keine genauen Daten genannt werden.

(Für einen Überblick über diese Zeit siehe das Handbuch der Altertumswissenschaft, Abteilung III, Teil 4: Hermann Bengtson: Griechische Geschichte von den Anfängen bis in die römische Kaiserzeit, C. H. Beck, München, 5. Aufl., 1977, S. 186–201; The Cambridge Ancient History, Cambridge University Press 1992: Vol. IV Persia, Greece and The Western Mediterranean c. 525–479 B.C., S. 75–79, Vol. V The Fifth Century, S.12-3.)

Hauptsächlich ist die geschichtswissenschaftlich unbefriedigende Situation darauf zurückzuführen, dass die antiken griechischen Historiker in ihren Werken fast keine Datierungen geben, sodass es manchmal sogar schwer ist, die Reihenfolge von Ereignissen in der Pentekontaëtie zu bestimmen. Häufig widersprechen sich die Historiker gegenseitig, einige sogar sich selber. Der Lutheraner Hengstenberg erkennt dies zwar bis zu einem gewissen Grad, pickt sich aus Ktesias aber anschließend das für ihn Passende heraus:

Ctesias selbst befreit uns aus der Verlegenheit, in die er uns durch seine Ungenauigkeit gestürzt. Nach Cap. 22 war Megabyzus schon vor der Expedition gegen Griechenland mit einer Tochter des Xerxes vermählt, die, schon Cap. 20 genannt, falls Ctesias dort chronologisch genau erzählte, um diese Zeit erst geboren sein müßte.

In der Real-Encyclopädie von Pauly/Wissowa (22. Hbd., Sp. 2032–73) wird Ktesias verrissen, Hengstenberg verwendet ihn dagegen als eine seiner Hauptstützen. Wenigstens verzichtet das Einsichten-Buch im Gegensatz zu Hengstenberg darauf, mit der zeitlichen Verknüpfung des Griechen Themistokles mit dem Römer Coriolan (Cicero, Laelius de amicitia 42) einen weiteren red herring (R. Franz) einzuführen.

In der Encyclopaedia Iranica heißt es über einen anderen griechischen Historiker, Diodorus Siculus:

He also likes to follow a story over many years, while dating it under a particular year in which some significant part of it occurred. Thus the story of Themistocles, from his ostracism (471-70) through his escape to “Xerxes" [...] to his death (probably about 460), is all under 471-70. This makes Diodorus’ chronology difficult to use, [...]

Der im Einsichten-Buch zitierte Katholik Levesque bietet in seinem kurzen Beitrag in der Revue apologétique (1939) einige logische Bravourstücke, die zeigen, dass man bei den griechischen Historikern immer die gewünschte Bestätigung finden kann:

Wie er [Justin] sagt, war Artaxerxes zur Zeit der Ermordung seines Vaters Xerxes erst ein Kind, puer [ein Knabe], was zutrifft, falls Xerxes 475 starb. Artaxerxes war damals 16 Jahre alt, wohingegen er 465 sechsundzwanzig Jahre alt gewesen wäre, was Justinus’ Darlegung nicht mehr gerechtfertigt hätte.

Warum ist die Aussage Justins uneingeschränkt vertrauenswürdig? Justin war ein Historiker des 2./3. Jahrhunderts, der uns Auszüge (ca. ein Zehntel) aus dem Werk „Historiae Philippicae“ des Pompeius Trogus (röm. Historiker gallischer Herkunft zur Zeit des Augustus) überliefert hat. Selbst wenn Justin recht hat: Warum wäre Artaxerxes sechundzwanzig Jahre alt gewesen, wenn er den Thron erst 465 v.u.Z. bestiegen hätte? Für einen solchen Schluss müsste Levesque Zusatzinformationen über das Geburtsjahr des Artaxerxes besitzen (z.B. absolute Datierung oder relativ zur Thronbesteigung seines Vaters Xerxes). Levesque nennt diese Zusatzinformationen in seinem ganzen Artikel nicht. Die Ausführungen von Hengstenberg deuten darauf hin, dass auch Levesque an eine der widersprüchlichen Aussagen des Ktesias gedacht haben mag. Eine weitere Passage bei Levesque lautet:

Ces auteurs [Thucydide, Charon de Lampsoeque, Ctesias], il est vrai, n’indiquent pas le nombre des annèes de Xerxès et d’Artaxerxès; mais la suite des faits qu’ils rapportent ne cadre pas avec la chronologie du Canon des Rois qui donne vingt et un ans de règne à Xerès, mais elle est d’accord avec la Chronologie d’Alexandrie.

Levesque beansprucht also jene drei Historiker, die überhaupt keine Regierungszeiten für Xerxes nennen, als Stützen für seine Thesen und behauptet einfach, dass ihre Berichte nicht mit den Königslisten übereinstimmten, die deshalb falsch seien. Der Aussagewert von Diodor und Manethon, die Xerxes 20 bzw. 21 Jahre geben, wird von Levesque mit der Begründung herabgesetzt, da sie einer späteren Zeit zuzurechnen seien.

Bei der „alexandrinischen Chronik“ handelt es sich übrigens nicht um die Alexandrinische Chronik (Hg. Matthäus Rader, 1624), die später unter der Bezeichnung Chronicon paschale bekannt geworden ist (Dindorf, Bonn 1832). Die Chronicon paschale nennt als Regierungszeit des Xerxes 28 Jahre und als Thronbesteigungsjahr des Artaxerxes Anno mundi 5078 (2. Jahr der 77. Olympiade, 471 v. u. Z.; Rader, S. 378–381). Levesque dagegen schreibt:

[...] la Chronique d’Alexandrie, publiée par Sealiger (1) d’après une version latine, et qui ne donne que onze ans de règne à Xerxès. Elle s’exprime ainsi: «Après Darius vint Xerxès dont le règne dura onze ans: ce qui fait (avec les chiffres précédents depuis Adam), en somme totale, cinq mille trois ans» (2). [...]

(1) Thesaurus temporum, Amsterdam 1658, in fo, p. 58-85.
(2) Id. p. 57.

Zwei Ungenauigkeiten sind hier enthalten: Statt „Sealiger“ muss es „Scaliger“ (Joseph Justus Scaliger) heißen; die Seitenangabe in Fußnote 2 bezieht sich auf die erste Edition (1606), in der zweiten von 1658 ist es die Seite 71. Die von Levesque angeführte Chronik ist besser bekannt unter dem Namen Excerpta Barbari (siehe Pauly/Wissowa, 12. Hbd., Sp. 1566–1576). Scaliger hat sie in seinem Thesaurus temporum (einem ehrgeizigen Versuch, die gesamte ursprüngliche Chronik des Eusebius von Caesarea zu rekonstruieren) bestimmt nicht wegen ihrer Vertrauenswürdigkeit veröffentlicht. Der Herausgeber Scaliger schreibt in der Überschrift:

Excerpta utilissima ex priore libro chronologico Eusebii, et Africano, et aliis Latine conversa ab homine barbaro, inepto, hellenismi et latinitatis impertissimo.

Aber lassen wir solche Ad hominem-Attacken, bei Pauly/Wissowa fällt das Urteil über den Barbaren denn auch bei weitem nicht mehr so hart aus. Was allerdings festzustellen bleibt: Aus unerfindlichen (oder: einsichtigen) Gründen geben de Koutorga und Lebesque gerade dieser Chronik den Vorzug vor allen anderen frühchristlichen und byzantinischen (Hippolyt v. Rom, S. Iulius Africanus, Eusebius v. Caesarea, Syncellus).

Immer wieder haben jüdische und christliche Apologeten biblische Chronologien erstellt. Sie haben dazu auf „weltliche“ Geschichtsschreibung zurückgreifen müssen, da die in der Bibel genannten historischen Daten und Synchronismen nicht ausreichen. Ihre Motive waren nicht geschichtswissenschaftlicher Natur:

1. Die jüdisch-christliche Kultur sollte sich als älter (= besser) als die heidnische erweisen.

2. Durch das Heranziehen weltlicher Chroniken und das Wörtlichnehmen von Mythen („Datieren von Göttern“) sollten die Ansichten und der Glaube der Heiden lächerlich gemacht, die Überlegenheit der jüdisch-christlichen Kultur gezeigt werden.

3. Einige Chroniken wurden zu eschatolgischen Zwecken angefertigt. So kam man etwa zum Ergebnis, dass um das Jahr 500 u.Z. das siebte Jahrtausend der Menschheitsgeschichte beginnen werde, mithin das 1000-jährige Reich.

Während Eusebius in seiner Chronik alles von Abraham ab datierte und sich außerstande sah, davor genaue Zeitangaben zu machen, rechnete S. Iulius Africanus von Adam ab. Die byzantinischen Chronographen konnten aufzeigen, dass der Eintritt der Menschheit ins siebte Jahrtausend ohne Probleme über die Bühne gegangen war. Wir wissen, dass andere, die ihre Chronologie nicht auf der Septuaginta aufgebaut haben, diese beruhigende Feststellung erst nach den Jahren 1874 bzw. 1975 machen konnten. Fred sei Dank, dass er in diesen turbulenten Zeiten immer einen kühlen Kopf bewahrt hat und zu Ruhe und Besonnenheit aufrief. Als letzte Hoffnung bleibt uns jetzt eigentlich nur noch Heribert Illigs Erfundenes Mittelalter; drehen wir die Geschichte doch einfach nochmals um 300 Jahre zurück. Oder rechnen wir die 6.000 Jahre von der Vertreibung aus dem Paradies ab und landen damit im Jahr 2004 als dem korrekten Endzeittermin.

Alden A. Mosshammer schreibt in The Chronicle of Eusebius and Greec Chronographic Tradition (Associated University Presses, New Jersey 1979), S. 156-7, S. 335, Fn. 47 über die Auslegung der siebzig Jahrwochen bei den frühchristlichen Chronographen:

[...] it is likely that Africanus mentioned the great war [den Peleponnesischen Krieg] only in the context of Hebrew history. He adduced this well-known Greek epoch in synchronism with epochal events that took place in the Holy Land during the reign of Artaxerxes.

The fortification of Jerusalem was accomplished by Nehemiah through the benevolence of Artaxerxes. The event was pivotal for Africanus’ interpretation of the seventy hebdomads mentioned in the vision of Daniel (9:24).47 According to the chronicler whose account of this period became canonical, Nehemiah began the work in the twentieth year of Artaxerxes and brought it to completion in the thirty-second year of Artaxerxes (Nehemia 2:1, 5:14). [...] Africanus synchronized the beginning of Nehemiah’s work in the twentieth year of Artaxerxes with the fourth year of the 83rd Olympiad (445/44) [...]

47. Africanus, Chronographiae, bk. 5, quoted by Eusebius, Demonstratio Evangelica 8.2.50. The argument, briefly, is as follows: From the 20th year of Artaxerxes, the fourth year of the 83rd Olympiad (445/44), when Nehemiah began to fortify Jerusalem, to the second year of the 202nd Olympiad (30/31) when in the 16th year of Tiberius the Ressurection of Christ brought salvation to mankind is a period of 475 Julian years. These 475 years of 365.25 days each are approximately the equivalent of 490 Hebrew (lunar) years of 354 days each [...] Thus the 70 year-weeks (hebdomads) of Daniel are to be interpreted as 70 times 7 lunar years.

Die in Fußnote 47 erwähnte Berechnungsmethode ist auch heutzutage noch in Gebrauch.

Welchen Stellenwert hat die Chronologie für das christliche Glaubensgebäude? Hengstenberg macht sich nichts vor, er betont, dass nicht jeder eine historische Ader hat, dass Gott es darum niemandem übelnehmen könne, wenn er sich nichts aus derlei Berechnungen à la siebzig Jahrwochen macht. Überhaupt, im Vergleich zur WTG-Literatur ist Hengstenberg bereit, sich den Argumenten seiner Gegenseite zu öffnen, und fähig, sie zunächst einmal korrekt und unvoreingeommen darzustellen. Mark Miller spricht in seinen „Messianischen Bekenntnissen“ von „senatorial assuredness [...] at this level in the organization“. Die überhebliche Rechthaberei und der dünkelhafte Brustton senatorischer Selbstgefälligkeit bei der Interpretation der siebzig Jahrwochen kommt im Wachtturm vom 15. März 1989, S. 21-2 schön zum Ausdruck.

Dabei ist die Interpretation der siebzig Jahrwochen kein originäres Eigengewächs der Zeugen Jehovas. Bis auf die archäologischen Belege finden sich alle Argumente des Einsichten-Buchs bereits bei de Koutorga, Levesque und Hengstenberg, die von der WTG immer wieder zur Bestätigung zitiert werden, aber keine weiteren, unabhängigen Beweislinien bieten. Jonsson nennt als Urheber dieser Auslegung von Daniel 9:24-27 den Jesuiten Dionysius Petavius (De Doctrina Temporum, 1627). Hengstenberg (1832) kann auf Vitringa und Karl W. Krüger aufbauen. Auch de Koutorga (1864), Professor für Geschichte in St. Petersburg, geht von der Hypothese aus, dass Artaxerxes 475/4 den Thron bestiegen hat. In der Folge versucht er, die diversen Ereignisse um Themistokles, Pausian, Aristides und Kimon in der knappen Zeit zwischen 478 (gesicherte Daten: 480 Salamis, 479 Bau der Athener Stadtmauer unter Themistokles, 478 Erster Attischer Seebund) und 475/4 unterzubringen. de Koutorga ist dabei gezwungen, anzunehmen, dass Themistokles 477 verbannt wurde, aber 476 noch einmal auf den Olympischen Spielen geehrt wurde (diese Ehrung auf der Olympiade im Jahr 476 ist durch Funde belegt).

Die meisten Verfechter dieser Hypothese vertreten sie offensichtlich nur wegen der Interpretation der siebzig Jahrwochen. Krüger scheint kein Theologe gewesen zu sein. Soweit ich den 164 Seiten langen Artikel von de Kourtega überfliegen konnte, bleiben die Motive des Geschichtsprofessors im unklaren. Seine Literaturangaben nennen aber altbekannte Autoren, die schon bei Hengstenberg anzutreffen sind (Krüger, Kleinert, Clinton usw.).

Die WTG betreibt bei ihrer Interpretation der siebzig Jahrwochen wieder einmal Zirkelschlüsse:

Vertrauenswürdige historische Zeugnisse und die Erfüllung biblischer Prophetie weisen auf 455 v.u.Z. als das Jahr hin, in das der Monat Nisan des 20. Regierungsjahres des Artaxerxes fiel.

Einsichten über die heilige Schrift Band 2, Seite 448

Die Prophezeiung wird so angewandt, ihr Start- und Endzeitpunkt so hingelegt, die historischen Fakten so hingebogen, dass man hinterher behaupten kann, die Bibel sei irrtumsfrei, inspiriert und zeuge deshalb von einer Quelle höherer Weisheit. Derjenige der zahlreichen Aufrufe zum Wiederaufbau Jerusalems gilt als der korrekte, bei dem sich die Prophezeiung im nachhinein als richtig herausstellt. Das alles wäre noch hinzunehmen, wenn nicht darüber hinaus historische Fakten angepasst und umgeschrieben werden müssten. Kann das der Sinn von Prophezeiungen sein, dass man einem verborgenen „Bibelcode“ auf die Spur zu kommen hat, daß man eine geheimnisvolle Erfüllung von Prophezeiungen (im Sinne von Vorhersagen) aufdecken muß? Wie kann man von einer unvoreingenommenen „Überprüfung der Bibel und ihrer Prophezeiungen anhand historischer Fakten“ sprechen, wenn man sich folgende Regel auferlegt:

Weltliche Historiker, die sich bei ihrer Deutung bisweilen nur auf Bruchstücke von Tafeln stützen, die Archäologen zutage gefördert haben, schlußfolgern, daß 464 v. u. Z. das erste Jahr der Regentschaft von Artaxerxes Longimanus war und 604 v. u. Z. das erste Regierungsjahr König Nebukadnezars II. Wenn das richtig wäre, hätte das 20. Jahr des Artaxerxes im Jahre 445 v. u. Z. begonnen, und das Jahr der Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier (im 18. Regierungsjahr Nebukadnezars) wäre das Jahr 587 v. u. Z. gewesen. Doch wenn ein Erforscher der Bibel versucht, jene Daten zu verwenden, um die Erfüllung von Prophezeiungen zu berechnen, wird ihn dies lediglich verwirren.

Jehovas Zeugen sind an archäologischen Funden interessiert, die mit dem Bibelbericht im Zusammenhang stehen. Wenn jedoch die Deutung solcher Funde mit den klaren Aussagen der Bibel in Konflikt gerät, nehmen sie vertrauensvoll das an, was die Heilige Schrift sagt, sei es in bezug auf Chronologie oder irgendein anderes Thema. Die Folge war, daß Jehovas Diener schon seit langem wissen, daß der prophetische Zeitabschnitt, der im 20. Jahr des Artaxerxes begann, von 455 v. u. Z. an gezählt werden muß und daß somit Daniel 9:24-27 verläßlich auf den Herbst 29 u. Z. als die Zeit der Salbung Jesu zum Messias hinwies.

Der Wachtturm 15.3.1989, Seite 21f

Als weitere termini in quo für die siebzig Jahrwochen kommen in Frage:

1. Erlass des Cyrus, vgl. Jonsson, Die Zeiten der Nationen näher betrachtet, S. 113-115;

2. das siebte Jahr des Artaxerxes, vgl. Esra 7;

3. Niederschrift der Reden Jeremias 605 v. u. Z., vgl. Jeremia 25:1. Die ersten sieben Jahrwochen führen dann ins Jahr 556 v. u. Z., zwei Jahre nach der Krönung Kyrus’, des Gesalbten und Fürsten (Jesaja 45:1). Auf diese Interpretationsmöglichkeit bin ich selber gekommen. Es wäre interessant, ob sie auch schon von anderen erkannt worden ist. Mein Lösungsvorschlag soll nur die Vielfalt der Deutungen und die Möglichkeiten des Zurechtbiegens von Prophezeiungen vor Augen führen.

Auch auf die ungewöhnliche Wiedergabe von Daniel 9:25 in der Neuen-Welt-Übersetzung hat meines Wissens noch niemand so recht hingewiesen. In it-2-X, S. 923-5 gibt es im Unterabschnitt „Eine jüdische Ansicht“ eine umfangreiche Darstellung, warum die WTG die masoretische Akzentuation (den Versteiler) ablehnt.

Beim Surfen im Internet bin ich auf eine Seite gestoßen. Darin wird Morton Edgar erwähnt. Hat jemand Information über ihn, die über das hinausgehen, was im Nationen-Buch von Jonsson, im Verkündiger-Buch, im Artikel über die Pyramiden-Lehre und in Jehovah’s Witnesses : A Comprehensive and Selectively Annotated Bibliography von Jerry Bergman über ihn zu lesen ist? Hat er bis zum Ende treu ausgeharrt? Dann müsste man ja annehmen, dass sich dieser Esoteriker aufs Pferd geschwungen und sich der wilden Horte angeschlossen hat, die im Wachtturm vom 15. Mai 1990, S. 7 abgebildet ist.

Die archäologischen Belege, die die WTG für eine über 50-jährige Regierungszeit des Artaxerxes anführt, habe ich lange Zeit als gewichtiger angesehen als die Winkelzüge aufgrund der verschwommenen Aussagen griechischer Historiker. (Vergleiche den Wachtturm vom 15. Oktober 1990, S. 10, Fußnote. Seltsamerweise werden diese schwerwiegenden Argumente in dp-X nicht angeführt.) Dann stieß ich auf die Ausführungen von Jonsson über Lese-, Interpretations- und Abschreibfehler bei Keilschrifttexten im Anhang des deutschen Nationen-Buchs (S. 222 ff.). Konnten die ominösen hohen Regierungsjahresangaben für Artaxerxes auf manchen Tontafeln inzwischen geklärt werden? Gibt es Inschriften, Bauten und archäologische Funde, die eindeutig belegen, dass Xerxes nach dem Griechenlandfeldzug länger als 5 Jahre weiterregiert hat? Dass er bei den zeitgenössischen griechischen Historikern nicht mehr auftaucht, muss nicht verwundern, wenn er sich daraufhin von seinen griechischen Abenteuern zurückgezogen, sich vermehrt um die anderen Teile seines Großreichs und um seinen Hof gekümmert und sich der Bautätigkeit (Persepolis, Susa) verschrieben hatte.

Ich glaube, die Ausführungen haben zur Genüge gezeigt, wie bereitwillig und unnötigerweise die WTG weltlichen Quellen vertraut. Sie scheint dabei gar nicht zu merken, wie sehr sie mit diesem Beharren die Vertrauenswürdigkeit der Bibel erschüttert. Dadurch, dass sie die Übereinstimmung zwischen dem biblischen Bericht und der Darstellung bei antiken Historikern betont, die sich in der Zwischenzeit als pure Mär herausgestellt haben, ist sie Wasser auf den Mühlen derer, die die Bibel als Ansammlung historisch unhaltbarer Mythen und Märchen einstufen. Das wird auch aus der folgenden WTG-Lehrmeinung deutlich.

Die Eroberung Babylons durch Cyrus im Jahre 539 v.u.Z.

Das Vorgehen des Cyrus bei der Eroberung Babylons im Jahr 539 v. u. Z. wird in der WTG-Literatur immer wieder beschrieben. Ich kann nur vermuten, dass diese Tatsache deshalb so bedeutsam ist, weil auch in der Offenbarung vom Vertrocknen des großen Stromes Euphrat die Rede ist (Offenbarung 16:12). Verlief die erste Eroberung Babylons im Jahre 539 v. u. Z. jedoch wirklich so, wie es uns Herodot (Historien, I.191), Xenophon (Cyropädie, VII.v.33) und Josephus (Gegen Apion, I.20, auf einem Bericht Berossos’ basierend) überliefert haben?

Die WTG gibt als deutsche Ausgabe der Historien des Herodot immer eine Übersetzung von J. Feix (1974) an. In einer anderen Ausgabe (Übersetzung von A. Horneffer, Erläuterungen von H. W. Haussig, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 4. Auflage) ist in den Anmerkungen zu lesen (S. 647, Fn. 145; S. 682, Fn. 140):

Die hier gegebene ausführliche Schilderung der Belagerung Babylons [durch Kyros im Jahre 539 v. u. Z.] bezieht sich auf die zweite Eroberung der Stadt am 18. Dezember 522 durch den Großkönig Dareios. [...] Die erste Eroberung der Stadt durch Kyros im Jahre 539 erfolgte, wie wir aus dem eigenen Bericht des Königs auf einem akkadischen Siegelzylinder wissen, nach einer siegreichen Schlacht. Die Akkader empörten sich gegen Nabu-na'id, so daß der persische General Gobryas ohne Schwertstreich in Babylon einziehen konnte. [...]

Herodots Darstellung [der zweiten Eroberung Babylons unter Darius I. am 18.12.522 v. u. Z.] beruht schon hier auf der Zopyrosgeschichte, bei der es sich um eine damals in Persien verbreitete Volkssage handelt. Der Inhalt der Episode ist nicht historisch. [...] Auf diese Eroberung Babylons, die nach dem Bericht der Inschrift von Behistum von Dareios selbst geleitet wurde, bezieht sich die bei Herodot (Buch I, Kap. 191) geschilderte Eroberung der Stadt, die er fälschlich mit Kyros in Verbindung bringt. [...]

In Einsichten über die heilige Schrift Band 1, S. 502f liest sich der archäologische Befund so:

Die Keilschrifttafeln, die von Archäologen gefunden wurden, enthalten zwar keine Einzelheiten über die Eroberung Babylons, bestätigen aber die plötzliche Einnahme der Stadt durch Cyrus. Nach der Chronik des Nabonid griff Cyrus die babylonischen Streitkräfte im Monat Tischri (September/Oktober) des letzten Jahres der Regierung Nabonids (539 v.u.Z.) bei Opis an und schlug sie.

Es wird verschwiegen, dass in keinem Kriegsbericht vom Abgraben des Wassers des Euphrat berichtet wird, dass „die Heeresingenieure des Cyrus den mächtigen Euphrat mit einer brillanten Strategie ableiteten, so daß er nicht mehr durch Babylon floß“ (Einsichten über die heilige Schrift Band 1, S. 281). Auf S. 503 wird der Wahrheitsgehalt des Cyrus-Zylinder angezweifelt und die Frage „Warum wird der Fall Babylons auf dem Cyrus-Zylinder anders erklärt als in der Bibel?“ beantwortet:

Der Cyrus-Zylinder — eine Keilschrifturkunde, deren Inhalt nach der Annahme von Historikern in Babylon bekanntgemacht werden sollte — ist weitgehend religiösen Inhalts und zeigt, daß Cyrus die Ehre für seinen Sieg Marduk, dem Hauptgott Babylons, zuschrieb [...]

Was den oben angeführten Cyrus-Zylinder betrifft, so wird zugegeben, daß außer dem König möglicherweise noch andere an der Abfassung dieser Keilschrifturkunde beteiligt waren. G. Ernest Wright schreibt in seinem Buch Biblische Archäologie (1958, S. 200, 201), daß möglicherweise „der König oder die Kanzlei ... dieses Dokument abfaßte“. (Von einem ähnlichen Fall in Verbindung mit Darius wird in Daniel 6:6-9 berichtet.) Dr. Emil G. Kraeling (Rand McNally Bible Atlas, 1966, S. 328) bezeichnet den Cyrus-Zylinder als „eine von den babylonischen Priestern abgefaßte Propagandaschrift“. Sie könnte tatsächlich unter dem Einfluß der babylonischen Priesterschaft entstanden sein (siehe B. Bonkamp, Die Bibel im Lichte der Keilschriftforschung, Recklinghausen 1939, S. 536, 537). Die Priester wollten dadurch möglicherweise das Versäumnis Marduks (auch Bel genannt) und der anderen babylonischen Götter, die Stadt zu retten, bemänteln, wobei sie sogar so weit gingen, daß sie Marduk das zuschrieben, was Jehova getan hatte. (Siehe Jes 46:1, 2; 47:11-15.)

Wenn Herodot vertrauenswürdiger sein soll als der Cyrus-Zylinder, muss ich dann auch Erkenntnisse wie diese (Historien, III, 101) für bare Münze nehmen?

Bei all den genannten indischen Stämmen geschieht die Begattung öffentlich wie bei dem Vieh. Sie haben auch alle die gleiche Farbe, nämlich dieselbe wie die Aithioper. Auch der Same, den sie an die Weiber abgeben, ist nicht weiß wie bei den anderen Völkern, sondern schwarz wie ihre Haut. Die Aithioper haben ebenfalls schwarzen Samen.

Im Bild auf Seite 111 vom Daniel-Buch grinst einen wieder der treue und kriegslistige persische Soldat an (vgl. Einsichten Band 2, S. 325, aber auch in diversen Wachtturm-Artikeln hat er das bereits gemacht). Er fragt mich jedesmal ganz verschmitzt: „Und, befinden wir uns hier im Jahr 539 oder 522? Glaubst Du der Wahrheit oder der Gesellschaft?“ Ich antworte ihm dann gewöhnlich, dass er mich damit vor ein false dilemma (R. Franz) stellt.

Heutige Bibelgelehrte beziehen Bibelstellen wie Jesaja 44:27 nicht mehr auf die angeblichen Umstände der Eroberung Babylons im Jahr 539 v. u. Z. So vermeiden sie den Eindruck, dass die Bibelstellen erst in griechischer Zeit entstanden sind und dass die Schreiber den griechischen Historikern auf den Leim gegangen sind. Die WTG hält an ihrer Interpretation dieser „Prophezeiungen“ fest und bringt die Bibel, aber auch denkende Christen damit in eine missliche Lage. Aber wie gesagt, dieser Hang ist wiederum keine Besonderheit der Zeugen Jehovas, auch die fundamentalistischen Evangelikalen in Amerika neigen zu solchen Bibelauslegungen.

Die Zeit drängt!

Um die Dringlichkeit der Zeit vor Augen zu führen, sei darauf hingewiesen, dass demnächst schon eine Besprechung vom Daniel-Buch auf dem Programm der Dienstzusammenkunft steht. Der Redner wird die in buchdrucktechnischer Hinsicht ansprechende Aufmachung hervorheben und auf die „aussagekräftigen Bilder“ hinweisen. Dadurch wird es dem Ärmsten wenigstens ermöglicht, vom dürftigen Inhalt abzulenken. Vielleicht wird sich Schwester Eifrig zu Wort melden und damit prahlen, dass es ihr sogar schon einmal gelungen sei, das Buch auf den vorweihnachtlichen Gabentisch eines Wohnungsinhabers zu legen.

Setzen wir uns also angesichts dessen voller Eifer mit Daniel-Buch auseinander, während das Buch mit Riesenschritten herannaht. Eure ganzherzigen Bemühungen und wertvollen Beiträge zur Klärung meiner obigen Fragen werden sehr geschätzt.

Einen Hauptzeugen gegen Hengstenberg (auf die Argumente Hengstenbergs läuft’s im Prinzip hinaus, alles Spätere ist nur Abklatsch), der ebenfalls historisch argumentiert, habe ich in meinen Postings weiter oben bisher nur am Rande erwähnt.

Prof. Dr. Kleinert, Professor für Theologie im estnischen Dorpat, hat bereits im Jahr 1833, also ein Jahr nach Hengstenberg, eine Abhandlung über den Regierungsantritt des Artaxerxes Longimanus verfasst (in den Beiträgen zu den theologischen Wissenschaften, Bd. 2, Hamburg 1833). Wohl aufgrund dieser Untersuchung konnte sich die von Hengstenberg vorgeschlagene Interpretation der siebzig Jahrwochen (Startpunkt nicht der Erlass des Cyrus, sondern das 20. Regierungsjahr des Artaxerxes, das von ihm ins Jahr 455 v. u. Z. verlegt wird) nie durchsetzen. Solange sich die WTG nicht mit den Argumenten von Kleinert auseinandersetzt, sondern sie völlig ignoriert, ist für mich jede weitere Beschäftigung mit diesem Thema sinnlos.

Es ist bezeichnend, dass die WTG wieder einmal nicht die letzten wissenschaftlichen Arbeiten über ein bestimmtes Thema nennt, sondern sich einen Stand herauspickt, der ihr behagt, der aber längst überholt bzw. widerlegt sein kann. Auch hat sich die WTG noch nie die Mühe gemacht, an einem wissenschaftlichen Disput aktiv teilzunehmen (z.B. Evolution im Vergleich zu Schöpfung), sondern lässt immer die anderen in den Ring steigen und verwertet die Ergebnisse dann selektiv nach eigenem Gutdünken, um sie ihren Mitgliedern als feststehende Wahrheit und reine Lehre gemäß dem Muster gesunder Worte kundzutun.

Bei meinen Recherchen habe ich übrigens feststellen müssen, wie schwer es ist, von älteren wissenschaftlichen Arbeiten auf neuere vorzudringen. Umgekehrt wäre es natürlich einfacher, da die älteren in den neueren zitiert werden und man sich so in die Vergangenheit durchwühlen kann. Jedenfalls scheinen die siebzig Jahrwochen in der Theologie des zwanzigsten Jahrhunderts kein bedeutendes Thema zu sein. Vermutlich hat schon Kleinert ihnen den Garaus bereitet.

Das Einsichten-Buch behauptet ja: „In Geschichtswerken herrscht etwas Unstimmigkeit, was die Regierungszeiten des Xerxes und des Artaxerxes betrifft.“ Der Eindruck, der hier vermittelt wird, ist dermaßen unehrlich all denen gegenüber, die mit der Materie nicht vertraut sind. Zum einen herrscht unter modernen Historikern überhaupt keine Uneinigkeit, was wohl auch auf zwischenzeitlich entdeckte archäologische Zeugnisse (Inschriften, Keilschrifttexte) zurückzuführen ist. Die WTG ist denn auch nicht in der Lage, einen einzigen auch nur annähernd zeitgenössischen Historiker zu nennen, der die gängige Chronologie der persischen Könige in Frage stellt. Von einem „Historikerstreit“ kann keinesfalls die Rede sein.

Zum anderen hat schon Kleinert all die antiken Zeugnisse fein säuberlich zusammengetragen, die Aussagen zu den Regierungszeiten des Xerxes und Artaxerxes machen. Er kommt auf 30 Hauptzeugen (Tabelle, S. 16-8), die er ausführlich kommentiert, und nennt 11 weitere unbedeutendere Nebenzeugen. Ehrlicherweise nennt er auch alle Werke, die er nicht ausgewertet hat, weil sie ihm einfach nicht zur Verfügung gestanden haben, sowie diejenigen, die er absichtlich in seiner Aufzählung übergangen hat, z.B. weil es sich um Dupletten handelt, die in seiner Tabelle bereits Berücksichtigung fanden.

Zu welchem Ergebnis kommt Kleinert? Er stellt fest, dass 20 und 21 Jahre die gängige Angabe für die Regierungszeit des Xerxes ist. Wenn davon abgewichen wird, so nach oben (bis zu 28 Jahren). Einzig die „Alexandrinische Chronik“, die von Hengstenberg noch gar nicht beachtet wurde, dafür später von de Koutorga (1864) und Levesque (1939) begierig aufgegriffen und ausgeschlachtet worden ist, nennt eine kürzere Regierungszeit, nämlich 11 Jahre. Diese „Alexandrinische Chronik“ harmoniert allerdings genauso wenig mit den Behauptungen der WTG, da sie für die darauffolgende Regierungszeit des Artaxerxes nur 33 Jahre angibt. Damit taugt auch sie nicht als Beleg für die Gesamtthese der WTG. Kleinert schreibt (S. 102 f.):

[...] es bleibt mithin einzig und allein die vulgäre Ansicht von 20 — 21 J. (je nachdem man dem X. die Zeit des Artaban zurechnet oder nicht [...]) als diejenige stehen, der man, vermöge des Consensus guter und zahlreicher Zeugen für sie, Zutrauen schenken darf. Wollten unsere Gegner jedoch auch dies leugnen, und, mehr Gewicht, als nach dem Gesagten billig scheint, auf jene Abweichungen legend, behaupten, das Alterthum sey überhaupt in seinen Angaben über X. Reg. Zeit ungewiß und schwankend : so würden dennoch die differenten Angaben von vorn herein sämmtlich gegen sie sprechen, indem sie alle dem X. mehr Jahre geben, als die gewöhnliche Annahme, während die Gegner ihm vielmehr fast ein Decennium davon entziehen möchten. Freilich haben diese einen Zeugen für sich, [...] aber was für Einen! und er kann hier um so weniger gelten, da er, in völligem Widerspruche mit ihnen, auch dem Artar Lgm. 8 Jahre weniger, als die vulgäre Angabe, beilegt, wodurch das laut den besten alten Berichten unverrücklich fest stehende Intervall von 62 J. zwischen dem Antritt des X. und dem des D. Nothus gröblich verletzt wird.

Über Hengstenberg schreibt Kleinert (S. 3–8):

Andererseits aber treten die genannten Gelehrten, besonders Hengstenberg [...] mit dieser ihrer Ansicht nicht etwa schüchtern, fragend, zweifelnd, also mit einem problematischen, noch weiterer Beprüfung bedürftigen Vorschlage, auf, sondern sie geben uns dieselbe als ausgemachte Wahrheit, mit größter Entschiedenheit und Zuversichtlichkeit; wodurch es natürlich einem Jeden, der etwas dahin Gehöriges und darauf Bezügliches zu besprechen hat, unmöglich wird, sie auch nur vorläufig zu ignorieren, falls er nicht als undankbar und achtlos gegen sichere Ergebnisse gelehrter Forschungen erscheinen will.

Dagegen ist Kleinert selbst immer recht vorsichtig und seinen „Gegnern“ gegenüber wohlwollend, wenn er sich etwa mit Ktesias abgibt, der als Erfinder des Liebesroman-Genres, nicht jedoch als zuverlässiger Historiker gilt (S. 364-6):

Der hier versprochene zweite Beweis dafür, daß Ktes. dem Xerx. schwerlich mehr als 10—11 J. zugetheilt, ist folgender. Nach Ktes. Pers. c. 22 war Amytis schon in den ersten Jahren der Reg. ihres Vaters mit Megabyzus vermählt. Sie muß also damals etwa 13—14 J. alt gewesen seyn [...] Laut c. 42 ging sie nach Megab. Tode noch viel mit Männern um [...] und, was mehr ist, ihr Arzt verliebte sich so heftig in sie, daß er sie auf schändliche Weise zum Beischlaf zu zwingen suchte. [...] Man siehe also, Ktes. kann nicht gemeint haben, daß sie um diese Zeit schon ein reizloses, altes Mütterchen gewesen sey. Im heißen Orient aber verblühen die Weiber viel schneller als bei uns. Sie kann also nach ihm auch an Jahren noch nicht allzuweit vorgerückt gedacht werden. [...] Alles dies in Anschlag gebracht, werden wir, nach Ktes. Andeutungen, den Tod des Megab. nicht früher setzen dürfen, als etwa 26 J. nach Artax. Reg. Antritt. Setzen wir nun, Amytis sey beim Reg. Anfange ihres Vaters 12 J. alt gewesen (s. o.). Rechnen wir diese 26 J. dazu, so werden es 38 J. Dazu 21 J. der Reg. des Xerx. giebt 59 J. Somit wäre Amytis, als ihr Arzt sich bis zum Unsinn und Verbrechen in sie verliebte, ein altes Weib von mindestens 60 J. gewesen. Das reimt sich schlecht. Nehmen wir hingegen an, Ktes. habe dem X. nur 10—11 J. beigelegt, so wird aus der 60jährigen eine Frau von 48 — 49 Jahren — ein Alter, in dem sie sich doch noch einigermaßen conservirt haben konnte. Übrigens versteht sich’s von selbst, daß diese Argumentation rein und allein die Ansicht des Ktes. betrifft und erhärten will; nicht die Wahrheit der Sache selbst — auf die überhaupt nicht viel zu geben seyn dürfte. —