Sehr geehrte Wachtturmgesellschaft,

durch einen Ihrer Mitarbeiter bekam ich die Zeitschrift "Erwachet" vom 22. August 1995 überreicht. Gestatten Sie mir als Überlebenden des "HOLOCAUST" hierzu einige Anmerkungen.

Die betreffenden Artikel im o.a. "Erwachet" entsprechen nicht so ganz der Wahrheit. Niemand, am wenigsten ich, will den Leidensweg der damaligen Bibelforscher bestreiten, aber es entspricht nicht der Wahrheit, daß diese als erste mahnend ihre Stimme gegen den Nationalsozialismus erhoben hätten.

"Wer Hitler wählt, der wählt den Krieg" war bereits lang vor der Machtergreifung der Slogan der KPD. Bereits um 1925 waren es Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaftler, die vor dem Aufkeimen des Faschismus warnten. Aber auch auf christlicher Seite, und ich bitte Sie dies endlich einmal zu akzeptieren, gab es laute und mahnende Stimmen und entschiedenen Widerstand. Christliche Gemeinschaften, die dem Verbot unterworfen und verfolgt wurden. So unter anderem das "Apostelamt Juda", die Evangelisch-Johannische Kirche", die Gemeinschaft "Hirt und Herde", u.a.m. Ich traf diese Leute, wie auch Bibelforscher verschiedener Gruppen, in dem Lager wo ich und meine Mutter "evakuiert" waren.

Ist Ihnen klar, daß von katholischer Seite aus über 10.000 Ordensleute, ohne die zahlreichen Priester mizurechnen, in den Lagern, Gefängnissen und Zuchthäusern unerträglichen Leiden ausgesetzt waren? Warum leugnen sie dies? Warum sprechen Sie von "Einzelnen"? Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an einen katholische Prieser, der über 20 Stunden "am Kreuz" hing, weil er sich weigerte, Gott zu verhöhnen, und dann heimlich von Kommunisten "abgehängt" und unter der Seuchenbaracke versteckt wurde. Gerne will ich auch die Nonnen des Klosters "Maria Hilfe" in Brühl/Baden erwähnen, die unter Gefahr für ihr eigenes Leben, mich und meiner Mutter im Heizungskeller des Klosters verborgen hielten, bis zu dem Zeitpunkt unserer Befreiung. Spätestens hier muß ich erwähnen, daß ich weder katholisch, oder einer der oben angeführten Gruppen zugehörig bin.

Auch der letzte Absatz auf Seite 3 des erwähnten "Erwachet" bedarf einer besonderen Beleuchtung. Es waren nicht Zeugen Jehovas, die Berichte über die Existenz der Lager und als "Erste" die Greuel im In- und Ausland bekanntmachten, sondern die oben erwähnten politischen Gruppen. Hans Langhof hat bereits 1933 einen heute noch sehr beachteten Bericht über das Lager Börgermoor und andere in Deutschland selbst und im Ausland verbreitet. Ebenso der ehemalige Reichstagsabgeordnete Hans Beimer aus München. Sein im Juni/Juli 1933 erschienenes Buch "Im Mörderlager Dachau" wurde über Moskau, Prag, Zürich, Paris und Amsterdam "massenweise" illegal in Deutschland verbreitet. Die Nazis selbst haben in Zeitungen, wie dem "Völkischen Beobachter", dem "Stürmer" usw. die Existenz dieser Lager bekanntgegeben. Kein Deutscher kann sagen: "Ich habe es nicht gewußt." Dies betrifft sogar die sogenannte "Endlösung".

Auf Seite 7 erwähnen Sie dann, daß "7.000" Delegierte in Wilmersdorf am 25. Juni 1933 auf einem Kongreß eine Resolution gefaßt haben und veröffentlichen hieraus einen Satz. Ich habe in meinem Besitz den vollen Wortlaut dieser "Resulution" und der beigefügten "Erklärung". Erstens widersprechen Sie sich selbst, wenn Sie von "7.000" sprechen, denn diese Resulution bezeugt dine Zahl von "5000" und folgenden Satz: "Weiter wurde auf dieser Konferenz der fünftausend Delegierten - wie in der Erklärung ausgedrückt - festgestellt, daß die Bibelforscher für dieselben hohen ethischen Ziele und Ideale kämpfen, welche die nationale Regierung des Deutschen Reiches bezüglich des Verhältnisses des Menschen zu Gott proklamieren..." Im Nächsten Absatz wird dann gesagt, daß die Bibelforscherbewegung bzw. Ihre Bestrebungen in "völliger Übereinstimmung mit den gleichlautenden Zielen der nationalen Regierung" sei. Hierbei beruft man sich auf § 24 des Programms der NSDAP. Den an Volksverhetzung grenzenden Wortlaut der "Erklärung" will ich Ihnen zuliebe hier nicht erwähnen.

Mit all dem bisher Gesagten will ich, wie bereits erwähnt, die Leiden der Bibelforscher in jenen Tagen nicht schmälern. Die Gründe, die jedoch zur Verfolgung führten, müssen etwas anders gesehen werden, als Sie dies heute so darstellen. Unter anderem lag dies auch in der mehrfach geänderten "Obrigkeitsfrage" begründet.

Spätestens hier will bzw. Muß ich noch um der Wahrheit willen eine Lanze brechen für jene "Bibelforscher", die nicht mit "Brooklyn" verbunden waren, und derer gab es eine ganze Menge. Es gab auch "Tagesanbruchleute", "Freie Bibelforscher", "Bibel-Studenten", "Freunde der Wahrheit" usw. Ihr Opfergang und ihre Solidarität sind hier besonders hervorzuheben, nicht zu vergessen die "Menschenfreunde". Ich gehöre ebenfalls nicht zu einer der eben erwähnten Gruppen.

Sind Sie mir nicht böse, aber auf einen Artikel (Seite 11) will ich noch eingehen. Das hier Berichtete will ich keineswegs bestreiten. ABER, es waren "Sowjetsoldaten" und "Kommunisten", die mit uns Kindern das letzte Brot, den letzten Tropfen Suppe teilten. Weihnachten 1944 sammelten sie Brot usw., ums uns Kindern eine Freude zu machen. Ich weiß, Sie lehnen Weihnachten ab. Das bleibt Ihnen auch unbenommen. Aber was war mit den Zeugen Jehovas? Keinen Krumen Brot für ein "heidnisches Fest". Für uns Kinder war dies das zweite Zeugnis der "Nächstenliebe" der Zeugen im Lager. Sie fragen nach dem ersten Zeugnis?

"Führers Geburtstag 1944". Antreten zum Appell. Raus, raus, schneller, schneller!" Lobesreden auf den Führer. Dann die "unverdiente Gnade" des Führers. Anläßlich seines Ehrentages eine Sonderration an die Insassen. BROT, Margarine oder Fett, je 20 Gramm Blut- oder Leberwurst. Und die Zeugen? Diese senden eine Delegation an die Kommandantur: "Wir lehnen den Empfang und das Essen von Blutwurst ab" (was ich ebenfalls als Gewissensentscheidung voll akzeptiere). Aber anstatt stillschweigend diese Blutwurst zu nehmen, sie den Alten, Kranken, Kindern oder den besonders hungernden Sintis oder Sowjetsoldaten zu geben, spricht diese Delegation von der totalen Verweigerung. Das Resultat? "Einige unter euch sind ja besonders schlau. Sie lehnen das Geschenk des Führers ab. Wenn ihr also keine Blutwurst wollt, dann braucht ihr auch kein Brot und kein Fett. Sprachs und "abtreten". Die gesamte Ration für das gesamte Lager erhielten die Schweine, welche die SS hielt, zum Fraß vorgeworfen. Sie mögen jetzt eventuell von "aufrichtiger Haltung" usw. sprechen, aber was in uns Kindern vorging, habe ich und meine damaligen Leidensgenossen bis heute nicht vergessen. Ob Sie das begreifen? Begreifen kann ich ebenfalls nicht, wie Sie von Standhaftigkeit der Zeugen in den Lagern sprechen. Standhaft waren vielfach einfache Zeugen, deren "Führer" jedoch nicht. In den jetzt zugänglichen Unterlagen der Gestapo werden Sie über die Herren Franke und Frost finden, die reihenweise und ohne besonderen Anlaß ihre "Brüder" ans Messer lieferten. Auch das SS-Gut Harzwalde sollte dann nicht unerwähnt bleiben.

Mit freundlichem Gruß

Hans-Eduard Winter

Dieses Schreiben wurde bis heute (31.12.1996) nicht beantwortet.

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