"Gefährdung des Kindeswohles durch Sekten und christlichen Fundamentalismus"
Diese Fachtagung richtete sich in erster Linie an MitarbeiterInnen von Jugendämtern, Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendberatungsstätten sowie vergleichbaren Institutionen. Und genau aus diesen Bereichen und vornehmlich aus der Stadt Frankfurt und Umgebung kam ein Großteil der TeilnehmerInnen.
Otto Lomb, Vorsitzender von SINUS Hessen e.V. und Tagungspräsident wandte sich auch gleich in seinem Grußwort an diese Gruppe und lud sie ein, sich die dargebotenen Informationen zunutze zu machen und sie künftig in ihrer täglichen Praxis als BetreuerInnen von Kindern und Jugendlichen oder als BehördenvertreterInnen im Sinn zu haben.
Die Sektenzugehörigkeit stelle ein erhebliches Problem für die davon betroffenen Kinder und Jugendlichen dar, da sie im Kontext der Tagesstätten, Kindergärten und der Schulen oft gezwungen seien, ein permanentes Außenseiterdasein zu fristen.
Für die ErzieherInnen und BehördenvertreterInnen käme es daher auf genaues Hinsehen und umfassende Erkenntnisse über die Besonderheiten in Lehre und Verhalten der verschiedenen Sekten an, nur dann könnten sinnvolle Wege im schwierigen Umgang mit Sektenkindern gegangen werden.
Erster Referent der Tagung war als Vertreter des Diakonischen Werks für Frankfurt Kurt-Helmuth Eimuth (Dipl. Pädagoge, Autor, ehemaliger Weltanschauungsbeauftragter) Er sprach über das Thema:
Kindheit in der Sekte
Zu den Fragestellungen gehöre unter anderem: Was bedeutet eine Kindheit in Sekten oder christlich-fundamentalistischen Elternhäusern?
All solchen christlich-fundamentalistischen Gruppen sei gemein, dass sie körperliche Züchtigung als legitime Erziehungsmaßnahme nicht nur schweigend dulden, sondern dazu regelrecht auffordern. "Wer die Rute spart, hasst seinen Sohn" sei eine der in solchen Gruppen häufig zitierten Bibelstellen.
Vor Jahren habe Eimuth ein Buch (Die Sekten-Kinder) zu diesem Thema geschrieben und darin die verschiedenen Sekten in ihrem Umgang mit Kindern und Jugendlichen untersucht. Zwar sprächen einige Sekten gezielt Jugendliche an, aber die Mehrzahl der Sekten rekrutiere ihren "Nachwuchs" aus Kindern von Sektenanhängern. Diese Kinder werden in der öffentlichen Wahrnehmung meist übersehen und man kümmere sich nicht um deren mitunter traumatischen Alltag in der Sekte.
Stießen solche Kinder erst später über ihre Eltern zu solchen Sekten, weil die Eltern missioniert wurden, ändere sich ihr Alltagsleben radikal, "liebgewordene Gewohnheiten - vom Fernsehen bis zu Freundschaften -" würden "desavouiert". "Es beginnt - oft ganz unmerklich - der Aufbau einer neuen Sekten-Identität, die in der Regel die eigene Identitätsfindung und menschliche Reifung verhindert, zum Teil aber auch in den kriminellen Missbrauchszusammenhang gehört", so Eimuths Feststellung bereits vor 20 Jahren. Was habe sich seither getan?
"Alles ist schlimmer", so das resignierende Resümee Eimuths. Die Sekten seien stark wie ehedem, Kinder litten am meisten unter den diktatorischen, totalitären Verhältnissen, in denen das Individuum nichts, die Gruppe alles sei. Die Gleichschaltung von Seelen funktioniere eben am besten in einer Diktatur und bei Kindern, da sie noch nicht fähig seien, Neues kritisch zu hinterfragen oder dessen Wirkung zu überblicken.
So seien diese Kinder auf Gedeih und Verderb ihren nunmehr dem Sektenguru hörigen Eltern ausgeliefert, die ja nicht mehr ihr eigenes Leben, sondern das durch die Gruppe fremdbestimmte lebten.
Eimuth: "Schon immer haben totalitäre Systeme sich der Kinder bemächtigt. Die Gleichschaltung der Seelen und Köpfe ist die Voraussetzung, um Herrschaft unumstritten ausüben zu können. Der Totalitarismus muss sich der Herzen und Sinne bemächtigen."
Um die Gleichschaltung der Seelen wirksamer zu erreichen, hätten zahlreiche Sekten eigene Lehrpläne entwickelt, Kinderkrippen und Kindergärten gegründet und im Ausland Internate und Schulen betrieben.
Eimuth: "Etwa 100.000 Kinder und Jugendliche sind allein in Deutschland solch totalitären Erziehungssystemen ausgesetzt.
Bei der Indoktrination, Bildung und Erziehung der Kinder durch die sektenindoktrinierten Eltern ergeben sich zwei Konfliktfelder:
- Die psychische Kindesmisshandlung und
- Die physische Kindesmisshandlung."
Am Beispiel einer Schülerin und Tochter von Zeugen Jehovas werde dies deutlich:
Hilferuf einer Schülerin:
Sie will die Sekte verlassen, aber die Eltern nicht verlieren.
"Ich bin 16 Jahre alt und seit meiner Geburt bei den Zeugen Jehovas. Ich will da raus! Ich würde so gerne das machen, was meine Freunde dürfen: Weihnachten, Geburtstag, Sylvester feiern. Meine Mutter kontrolliert mich, wo sie nur kann. Sie ruft bei meinen Freundinnen an und fragt, ob ich wirklich da schlafe.
Bei den Zeugen Jehovas ist es ja so, dass man erst mit einem Jungen schlafen darf, wenn man verheiratet ist. Auch dann nur mit jemandem, der auch zu ihnen gehört. Das ganze Theater fing an, als ich mit Adrian zusammen war. Meine Mutter las mein Tagebuch, und ich musste über die ganze Geschichte mit dem Ältesten sprechen, wegen Hurerei. ich musste ihm versprechen, dass ich es bereue. Mein Freund machte dann auch noch Schluss, ich wollte mich umbringen. Beinahe hätte ich es geschaft, doch meine Mutter kam ins Zimmer.
Der ganze Trott geht ja wieder von vorne los: Dreimal in der Woche Versammlung, Predigtdienst (obwohl ich gar nicht mehr daran glaube) und persönliches Studium. Seit dem "Dilemma" muss eine andere junge Frau aus der Sekte mit mir studieren. Früher wollte ich oft nicht in die Versammlung gehen, meine Mutter ist ausgerastet. Wir schrieen uns an und sie schlug mich. Ich lag auf dem Boden und sie schlug weiter. Das andere Mal zog sie mich an den Haaren und schleifte mich vor die haustür, dass ich doch mitkäme.Wenn ich jetzt wieder anfangen würde, dass ich nicht mehr Zeuge Jehovas sein will, wär' ich nicht mehr "das Kind von meiner Mutter". Ich würde später vernichtet werden in Harmagedon. Ich will meine Familie nicht verlieren, ich liebe meine Eltern. Ich will aber auch nicht wieder Zoff bekommen und verprügelt werden. Ich brauche Hilfe!" (Kids e.V. Leverkusen)
An diesem Beispiel sei deutlich zu erkennen, so Eimuth, dass die hier zum Tragen kommende Gleichung
Sekte = Eltern
Keine Sekte = keine Eltern
die Seele der Kinder zerreißt, da dieser Konflikt nicht aufzulösen sei.
Eimuth: "Die Sektensozialisation [verunmöglicht] die Ausbildung des eigenen Selbst. Eine Identitätsbildung ist in diesen Gruppen kaum möglich. Anstelle des eigenen Ichs tritt das kollektive Ich. Dadurch werden Kinder und Jugendliche systematisch zur Lebensuntüchtigkeit, zur Entscheidungsunfähigkeit und damit auch zur Demokratieunfähigkeit erzogen.
Die bei der Erziehung in Sektenfamilien vorkommende psychische und physische Gewalt an Kindern ist keine individuelle Verfehlung, wie sich Sektenführer immer gern beeilen zu betonen, sondern sie ist ideologisch konsequent."
Dr. Frauke Zahradnik, sprach mit dem Thema:
Sektenzugehörigkeit - eine Frage des Kinderschutzes
schwerpunktmäßig zu den psychologischen Konnotationen der Kinder in Sekten.
Harald Achilles (Jurist), nahm in seinem Vortrag:
"Schulpflichtverweigerung aus religiösen und weltanschaulichen Gründen. Ein Problem im Spannungsfeld zwischen Religionsfreiheit, Elternrecht und Kindeswohl"
zu dem ca. 500-1.000 Kinder in Deutschland betreffenden Problem des "Homeschooling" in meist christlich-fundamentalistischen Elternhäusern Stellung.
Darin erläuterte er u.a. die Motive der Eltern, nämlich ihre Kinder dem "schädlichen und das Wohl der Kinder schädigenden Einfluss der allzu freigeistigen und die Tatsache der Schöpfung leugnenden weltlichen Schulen zu entziehen. Ziel sei es, die Kinder zur Liebe zu Gott und den Eltern sowie Gehorsam ihnen gegenüber und gegenüber Gott zu erziehen. Ferner sollten sie das Böse verabscheuen, das vor allem in einer allzu offen propagierten freien Sexualmoral bspw. im Sexualkundeunterricht der allgemeinen Schulen vermittelt werde.
Als vierter und letzter Referent sprach der Rechtsanwalt und Vizepräsident von Kids e.V. - Kinder in destruktiven Sekten, Jürgen Zillikens zum Thema:
Kinder in Sekten - Auswirkungen auf Sorgerecht und Umgangsrecht.
Darin schilderte er die mitunter dramatischen Szenen, die sich oft bei der Klärung des Sorge- und Umgangsrechts abspielten. Dabei spielten meist die Angehörigen der Sekten die unrühmliche Rolle, da sie mit Hilfe ihrer Glaubensgemeinschaft und unter allerlei konstruierten Vorwänden dem "ungläubigen" Elternteil den Umgang mit den Kindern schlicht verunmöglichten, obwohl Gerichte dieses Umgangsrecht ausdrücklich eingeräumt hätten.
Auch unter diesem Aspekt gefährden Sekten das Kindeswohl in nicht unerheblichem Maße.
In der anschließenden Arbeitsgruppe der Referentin Dr. Frauke Zahradnik ging es u.a. um die Frage:
Was tun, wenn das eigene Kind einer Sekte beitritt?
Unter den gegebenen Ratschlägen waren auch diese:
- Signalisieren Sie Ihrem Kind Nähe, seien Sie ganz da.
- Halten Sie den Gesprächsfaden aufrecht. Hilfreich sind Fragen, wie: Was ist das für eine Gruppe? Was weißt Du über sie? Wie geht das? Was macht Ihr so in der Gruppe? Erzähl doch mal...
- Betrachten Sie die Zugehörigkeit Ihres Kindes in der Gruppe zunächst einmal "nur" als "exotisches Hobby", das zwar für Sie nicht erfreulich ist, aber "wir können darüber reden".
Wenn das eigene Kind in einer Sekte ist, prallen mitunter zwei starre Strukturen aufeinander:
Die zum Teil euphorisierenden Erlebnisse des Kindes in der Gruppe versus die wohlmeinende Alarmstimmung der Eltern mit dem Wunsch: "Ich muss mein Kind da rausholen."
Diese Starrheit lässt sich auf seiten der Eltern wenigstens in Teilen durch die weiter oben beschriebenen Fragen und Hilfestellungen auflösen.
Man kann einen Menschen nicht gegen dessen Willen aus einer Ideologie oder einer Sekte herauslösen.
Danach wurde die Frage erörtert:
Wer ist "anfällig", in eine Sekte zu geraten?
Vier Merkmale wurden benannt:
- Menschen in Lebensumbrüchen (Krisen).
- Dynamische, engagierte, lebenshungrige Menschen, die sich durch die Sektenangebote (gruppendynamische, euphorisierende Erlebnisse) angesprochen fühlen. (Attraktivität der Sekten)
- Menschen, die für "besondere" (übersinnliche) Erlebnisangebote von Sekten empfänglich sind.
- "Wer sich verlieben kann, kann prinzipiell auch in eine Sekte geraten."
In der gemeinsamen Schlussrunde beantworteten die Referenten einige Fragen des Moderators, Dr. Steven Goldner (Psychologe):
Was tun mit Sektenkindern in der Schule?
Machen Sie Kompromisse, denn sonst besteht die Gefahr, dass Eltern ihre Kinder ganz aus dem Unterricht herausnehmen. Lieber ein schmerzhafter Kompromiss, aber das Kind verbleibt im Unterricht, als kein Kompromiss und das Kind lernt die "andere Welt da draußen" überhaupt nicht erst kennen.
Wie weit geht Toleranz?
Grundsätzlich gibt es kein Recht auf Befreiung von Lehrinhalten der Schule. Aber man kann Alternativen bieten: Alle Kinder basteln einen Weihnachtsbaum, das Kind von Zeugen Jehovas bastelt einen Tannenbaum im Schnee.
Am Schluss dankte Moderator Dr. Steven Goldner allen Anwesenden für ihr Interesse und den Referenten für ihre sachlich und fachlich hevorragende Arbeit.
Otto Lomb, Vorsitzender von SINUS Hessen e.V. dankte allen Anwesenden für ihr Kommen und rief insbesondere die VertreterInnen der Kindertagesstätten, Kindergärten sowie der Schulbehörden und Jugendämter auf, sich der Sektenproblematik auch künftig mit der gebotenen Aufmerksamkeit zu widmen und da helfend und schützend einzugreifen, wo dies ggf. erforderlich sei.
Mit anregenden Gesprächen und Adressenaustausch ging diese gelungene Fachtagung zu Ende.