In diesem Sommer fahren die Zeugen Jehovas – wie jedes Jahr – mit großen Erwartungen zu ihren Bezirkskongressen. In Deutschland stehen die Kongresse noch bevor, aber in anderen Ländern haben sie teilweise bereits stattgefunden.
Einer der Teilnehmer sagte: ‚Man hätte die Programmthemen aus den Programmen der siebziger Jahre abschreiben können!‘. Nun, nachdem ich einen Kongreß besucht habe, würde ich sogar die Themen mit solchen der fünfziger – aber auch späterer - Jahre vergleichen.
Das Motto hieß: „Befreiung greifbar nahe“, übersetzt aus „Delivrance at hand“; bei den französischen Kongressen wurde daraus einfach „Befreiung nahe“ – „Délivrance est proche“ Als man einem französischen Teilnehmer erklärte, daß in deutsch noch das Wort „greifbar“ eingefügt sei (man kann natürlich „at hand“ so übersetzen), meinte er, die Deutschen würden doch immer übertreiben. Aber das nur als Randbemerkung.
Es wurden auf dem Kongreß natürlich auch biblische Ratschläge gegeben, und wie immer wurde der Predigtdienst in all seinen Formen in den Mittelpunkt gestellt. Aber besonders wurde ich am Samstag, am Nachmittag, an die Jahre um 1950 erinnert. Schon das Motto rief mir das Kongreßmotto von 1949 in den Sinn: „Es ist später als du denkst“. Ich frage mich, ob all jene, die sich heute noch an die damaligen Kongresse erinnern können, immer noch der Meinung sind, daß es damals später war als sie dachten. Ich glaube, daß keiner von ihnen dem damaligen Motto noch zustimmen würde. Vielmehr dachten die Teilnehmer, es sei später als es war!
Am zweiten Tag des Kongresses wurde unter anderem ein Thema der Gesundheit gewidmet. Dagegen ist wirklich nichts zu sagen; aber der Schwerpunkt lag darauf, Diagnoseverfahren zu meiden und abzulehnen, die einen spiritistischen Hintergrund hätten. So weit, so gut. Aber diese Verfahren wurden nicht genannt, auch nicht beispielsweise. Das bedeutet aber, daß Spekulationen nicht nur angeheizt werden, es werden ihnen auch Tür und Tor geöffnet. Ich erinnere mich an 1961, als während der damaligen Kongresse aufgefordert wurde, Nahrungsmittel zu meiden, in denen Blutplasma verarbeitet würde. Auch da gab es keine konkreten Angaben, aber dann eine Unmenge von Gerüchten, Verdächtigungen und unbegründeten Behauptungen. Ich kann nur hoffen, daß mit diesem Vortrag über abzulehnende Diagnoseverfahren nicht eine ähnliche Welle ausgelöst wird.
Ein Vortrag besprach den Geist, von dem man sich leiten lassen solle, ein anderer christliche Würde. Alles Themen, gegen die grundsätzlich nichts einzuwenden ist. Wenn aber ein Thema sich im wesentlichen mit der Frage der Kleidung der Glaubensschwestern beschäftigt mit dem deutlichen Ziel, Freude an modischer Kleidung und gefälligem Äußeren zumindest „in eine negative Ecke“ zu stellen, dann kann auch ich mich an eine Zeit erinnern, in der solche Auffassungen gang und gäbe waren.
In der vorletzten Ansprache des Samstags wurden Jugendliche angesprochen. Das Ziel war, zum Vollzeitdienst anzuspornen. Das ist an sich legitim; aber muß man das tun, indem man den Besuch von Universitäten, aber auch das Streben nach gut bezahlten Arbeitsplätzen als eine falsche Einstellung darstellt? Ich drücke mich hier sehr zurückhaltend aus. Auch dieser Vortrag erinnerte mich sehr an die Jahre meiner eigenen Jugendzeit in der Organisation. Gleichzeitig hinderte jedoch die Aufforderung, bescheiden mit dem zufrieden zu sein, was man habe, nicht daran, auch daran zu erinnern, „Jehova mit seinen wertvollen Dingen zu ehren“, das heißt Geld zu spenden.
Am Sonntag wurde am Vormittag intensiv darüber gesprochen, auf welche Autorität man hören solle. Ich denke nicht, daß hier auch nur ein Zeuge im Unklaren geblieben wäre, was und wer gemeint ist.
An diesem Tag wurde dann schließlich noch eine Resolution vorgelesen und natürlich angenommen. Ich geben den Text hier wieder. Da es sich aber um eine Übersetzung aus dem Französischen handelt, wird die Übersetzung sicher vom Wortlaut der deutschen Resolutionen abweichen. Deshalb füge ich nach der Übersetzung noch den Französischen Originaltest bei, so daß, wer da möchte, sich selbst vergewissern kann, ob die deutsche Übersetzung inhaltlich zutreffend ist.
Resolution
Wir, Jehovas Zeugen, die in dieser Versammlung „Befreiung greifbar nah“ versammelt sind, nehmen folgende Resolution an:
- Wegen unserer Liebe zu Jehova und unseren Nächsten sind wir entschlossen, unser Zeugnis gegenüber den Menschen zu intensivieren, gleich welcher Rasse, Nationalität, Sprache oder in welcher gesellschaftlichen Situation sie sein mögen.
- Da wir uns selbst Gott rückhaltlos hingegeben haben, sind wir entschlossen, Jehova ausschließliche Ergebenheit entgegenzubringen. Ihm gebührt der erste Platz in unserem Leben.
- So wie Jesus kein Teil der Welt war, sind wir kein Teil der Gott entfremdeten menschlichen Gesellschaft.
- Aus Treue zu Jehova und zu seinem Sohn Jesus sind wir fest entschlossen, gegenüber den gerechten Grundsätzen der Bibel keine Kompromisse einzugehen.
- Wir lehnen es entschieden ab, uns an den ergebnislosen ökumenischen Bestrebungen oder an sozialen Aktivitäten oder an anderen Projekten zu beteiligen, die zum Ziel haben, ein System zu erhalten, das Gott verurteilt hat, weil es zum Scheitern bestimmt ist.
- Wir werden weiterhin rechtmäßigen Autoritäten eine relative Unterordnung erweisen, das heißt wir werden dem Cäsar respektvoll die Dinge gewähren, die ihm gebühren, und Gott die Dinge geben, die Gott gehören. Wir ergreifen nicht Partei oder mischen uns in politische Auseinandersetzungen ein.
- Wir werden mit allen unseren Kräften dem Geist der Welt widerstehen, der sich unter anderem kundtut im Materialismus, in schädlichen Unterhaltungen, in Ausschweifungen bei Essen und Trinken, in der Plage der Pornographie. Wir werden auch der Neugier widerstehen oder der Versuchung, die uns verführen könnte, die Nähe von Unbekannten aufzusuchen durch on-line-Dialoge im Internet. Wir sind entschlossen, kein Teil der Welt zu werden und fortzufahren, die Anbetung auszuüben, die vom Standpunkt unseres Gottes aus rein ist.
Soweit die Resolution; hier nun der französische Text, von dem her sie übersetzt wurde.
Résolution
Nous, Témoins de Jéhovah, réunis à cette assemblée «La délivrance est proche» prenons la résolution que voici:
- En raison de notre amour pour Jéhovah et notre prochain, nous sommes déterminés à intensifier notre témoignage auprès du monde des humains quel que soit leur race, leur nationalité, leur langue ou leur situation sociale.
- Ayant fait à Dieu l’offrande sans réserve de notre personne, nous sommes déterminés à accorder à Jéhovah un attachement exclusif. C’est Lui qui est à la première place dans notre vie.
- De même que Jésus n’a pas fait partie du monde, de même nous ne faisons pas partie de la société humaine éloignée de Dieu.
- Par fidélité à Jéhovah et à son fils Jésus, nous sommes fermement résolus à ne pas transiger avec les principes justes de la Bible.
- Nous refusons catégoriquement de nous associer à de vains mouvements œcuméniques ou à des actions sociales ou à d’autres projets cherchant à faire durer un système que Dieu a condamné parce qu’il est voué à l’échec
- Nous continuerons d’accorder une soumission relative aux autorités dûment constituées, c’est-à-dire que nous donnerons respectueusement à César ce qui est à César, et rendrons à Dieu les choses qui reviennent à Dieu. Nous ne prenons pas parti, ni ne nous impliquons dans les controverses politiques
- Nous résisterons de toutes nos forces à l’esprit du monde qui se manifeste entre autre par le matérialisme, les distractions malsaines, les excès de nourritures et de boissons, le fléau qu’est la pornographie. Nous résisterons aussi à la curiosité ou à la tentation qui pourrait nous inciter à fréquenter de près des inconnus par des dialogues en ligne sur internet. Nous sommes résolus à ne pas faire partie du monde et à continuer de pratiquer le culte qui est pur du point de vue de notre Dieu.
Die ersten vier Punkte der Resolution enthalten Allgemeinplätze; nicht, daß sie falsch wären, aber solche Aussagen müssen sich im Alltagsleben eines Christen zeigen, nicht in Resolutionstexten, wenn sie bedeutungsvoll sein sollen.
Zu Punkt 5: Es ist interessant, wie eine Organisation, die jahrelang darum kämpfte, in Berlin als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden – und die dies vermutlich auch für andere Bundesländer anstrebt – und die durch diesen Status vom Staat, von der Regierung Nutzen und Vorrechte haben will, hier offen ihren Gläubigen auferlegt, sich nicht an sozialen Aktivitäten oder an anderen Projekten zu beteiligen, die in irgendeiner Form eben diesem Staat oder seinen Bürgern von Nutzen sein könnten. Hier ist nicht die Rede von politischen Aktivitäten; diese erscheinen unter Punkt 6. Mit obiger Erklärung aber wurde eben diesem Staat, der so großzügig die Körperschaftsrechte verlieh, ein Tritt versetzt. Hier zeigt sich die echte Einstellung der Organisation. Auch diese Einstellung ist übrigens nicht neu. Es verwundert nur, wenn man hört, daß die gleiche Organisation zum Erlangen der Genehmigung für die Erweiterung ihrer Anlagen in Selters durchaus soziale Aktivitäten wie den Bau eines Schulgebäudes oder die Spende eines Wagens für die Feuerwehr unternommen haben soll. Falls dies zuträfe, könnte man nur sagen: quod licet Jovis, non licet bovis (Was der Herr darf, darf der kleine Untertan noch lange nicht).
Zu Punkt 7: Natürlich gab es vor 50 Jahren noch kein Internet; damals wurde eben vor den Schriften religiöser Gegner gewarnt. Hier geht es nicht um Warnungen zum Schutz von Kindern und Jugendlicher; hier will man vermeiden, daß die Zeugen mit kritischem Gedankengut und mit Informationen in Berührung kommen oder ausgestattet werden, die sie dazu bringen könnten, ihre Organisation einmal nicht im Lichte des Sprachrohres Gottes, sondern realitätsbezogen zu sehen.
Insgesamt gesehen: wer einen dieser Kongresse nicht besucht hat, der hat vielleicht versäumt, liebe Freunde wiederzusehen. Ansonsten: nichts Neues unter der Sonne.