Wenn die Wachtturm-Gesellschaft einen Brief an die Versammlungen der Zeugen Jehovas schickt, der den Vermerk „an alle Ältestenschaften" trägt, will sie damit meist etwas sagen, was der gemeine Verkündiger besser nicht wissen sollte.
So zum Beispiel der Brief, der am 20. Oktober 1998 an alle Ältesten in Großbritannien verschickt wurde und mit ähnlichem Wortlaut auch an die deutschen Ältesten ging. Anlass dafür war die aktuelle europäische Gesetzgebung in Sachen Datenschutz.
Wichtigster Inhalt war die Anweisung, daß ab sofort neue Verkündiger-Dienstkarten zu verwenden sind, die von jedem Verkündiger unterschrieben werden müssen.
Wie uns aus zahlreichen Versammlungen berichtet wurde, hat sich kaum ein Zeuge Jehovas die Mühe gemacht, den Text zu lesen, den er da unterschrieb. Und so ist den meisten auch nicht bewußt, daß sie der WTG mit ihrer flüchtigen Unterschrift das Recht verliehen haben, nahezu uneingeschränkt Informationen über sie zu sammeln und zu verwerten.
Einer der wenigen Zeugen, die ihre Verkündiger-Dienstkarte nicht unterschrieben haben, erklärte dazu: „Mir fiel die sogenannte Sozialstudie ein, die man vor einigen Jahren gemacht hat. Darin sind Daten enthalten, die bis in die Intimsphäre des Einzelnen gehen. Die Fragebogen wurden damals mit Versammlung und Namen jedes Einzelnen versehen nach Selters geschickt. Ich würde mich nicht wundern, wenn man künftig vor jeder Ernennung eines Dieners zuerst einen kritischen Blick auf seinen Fragebogen wirft, um besser einschätzen zu können, um was für einen Charakter es sich bei ihm handelt."
Interessant ist der Originalwortlaut der Anweisung:
Während die normalen Verkündigerdienstkarten nach 8 Jahren vernichtet werden, wird die unterschriebene Karte auf unbeschränkte Zeit aufbewahrt. Wenn ein Verkündiger von eurer Versammlung in eine andere wechselt, kommt es darauf an, daß diese die unterschriebene Karte zusammen mit allen anderen Aufzeichnungen und dem Einführungsschreiben erhält.
Dazu muß man wissen, daß beim Umzug eines Zeugen Jehovas hinter seinem Rücken sämtliche Aufzeichnungen über ihn von Versammlung zu Versammlung weitergereicht werden. Zusammen mit einem Brief an seine künftigen Ältesten, dessen Inhalt er nie erfahren wird. Die konkrete Anweisung an die Ältesten:
Schickt grundsätzlich einen kurzen Vorstellungsbrief zusammen mit der Verkündigerdienstkarte des Bruders. Behaltet keine Kopie dieses Briefes zurück. Wenn der Brief bei den Ältesten seiner neuen Versammlung angekommen ist, sollte dieser den versammelten Ältesten vorgelesen und dann vernichtet werden.
Mit anderen Worten, mit den Persönlichkeitsrechten nimmt man es bei den Zeugen Jehovas nicht so genau. Ab sofort sogar ganz legal und mit schriftlicher Zustimmung jedes Einzelnen. Wobei in Zukunft sichergestellt wird, daß Informationen zwischen den Ältestenschaften ausgetauscht werden, ohne daß irgendwelche Beweise übrig bleiben. Briefe dienen nur noch als Informationsträger und sind umgehend zu vernichten, sobald sie ihre Funktion erfüllt haben.
Ein Prinzip, das sogar bei den berüchtigten Komiteeverhandlungen gilt, die hinter verschlossenen Türen stattfinden. Nicht nur, daß dabei keine Beobachter zugelassen sind. Es dürfen auch keine persönliche Aufzeichnungen gemacht werden und das Protokoll der Sitzung muß direkt nach Selters geschickt werden, ohne daß in der Versammlung eine Kopie zurückbleibt.
Überhaupt scheint man bei der WTG neuerdings allergrößten Wert darauf zu legen, daß sich in der Versammlungsablage keine Dokumente befinden, die in falsche Hände gelangen könnten. Kopien sind grundsätzlich nicht erlaubt. Bestehende Aufzeichnungen sind weitgehend zu vernichten. Selbst Rundschreiben wie das hier zitierte sollen den Ältesten lediglich zur Kenntnis gebracht und dann vernichtet werden.
Die Wachtturm-Gesellschaft scheint also zunehmend Kommunikationsformen zu entwickeln, wie man sie bisher nur von Geheimgesellschaften her kannte. Schon in der Vergangenheit war es für den gemeinen Zeugen Jehovas kaum möglich, zu erfahren, welche Informationen über ihn zwischen der WTG und den Ältesten seiner Versammlung ausgetauscht wurden. In Zukunft wird er noch mehr der Willkür eines totalitären Systems ausgeliefert sein, das sich alle Rechte herausnimmt, ihm selbst jedoch die elementarsten Grundrechte vorenthält.