Die "Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas" will Körperschaft des öffentlichen Rechts werden und somt den gleichen Status genießen, wie die großen Kirchen im Land.

Doch welche Voraussetzungen muß eine KdöR erfüllen und treffen diese Voraussetzungen auch auf die Zeugen Jehovas zu? Olaf Fichtner, der sich mit einigen Interna dieser Gemeinschaft recht gut auskennt, hat wichtige Informationen zu der folgenden Analyse beigetragen:


Erfüllt die Religionsgemeinschaft Jehovas Zeugen die sozialrechtlichen Kriterien für die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts?

Zur Rechtslage: Im Sozialgesetzbuch, Band VI, wird in f 5 (1) festgelegt, für welche Personengruppen Versicherungsfreiheit in der Rentenversicherung besteht. Unter Nr. 3 werden dort aufgeführt: "satzungsmäßige Mitglieder geistlicher Genossenschaften ..., wenn ihnen nach den Regeln der Gemeinschaft Anwartschaft auf die in der Gemeinschaft übliche Versorgung bei verminderter Erwerbsfähigkeit und im Alter gewährleistet und die Erfüllung der Gewährleistung gesichert ist." In den Erläuterungen zu dieser Passage (BfA-Ausgabe des Gesetzestexts) wird ausgeführt: "Die Versicherungsfreiheit ist ... im wesentlichen nur an die nach den Regeln der Gemeinschaft übliche Versorgung gebunden, die jedoch zumindest sicherstellen muß, daß die Mitglieder der Gemeinschaft bei verminderter Erwerbsfähigkeit und im Alter nicht auf Leistungen Dritter oder der Allgemeinheit angewiesen sind '* Katholische und Evangelische Kirche haben dafür ein Solidarwerk bzw. eine Zusatzversorgungskasse eingerichtet. Die Zeugen Jehovas (vertreten durch die Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft) kennen eine derartige Absicherung nicht, sondern sorgen lediglich für einige verdiente altgewordene hauptamtliche Mitarbeiter, indem sie ihnen Wohnung und Essen auf ihrem Grund und Boden in der Zentrale in Selters gewähren.

Die Praxis der Zeugen Jehovas weicht dieser und anderen sozialrechtlichen Verpflichtungen jedoch in mehreren Punkten aus:

Die Begriffe "satzungsmäßige Mitglieder" und "hauptamtliche Mitarbeiter" sind dringend klärungsbedürftig. Man darf sie im Zusammenhang mit der Wachtturm-Gesellschaft nicht im gängigen Sinne benutzen.

Als satzungsmäßige Mitglieder sieht die Wachtturm-Gesellschaft stets nur die Mitglieder ihres eingetragenen Vereins an. Diese sind nur sehr wenige (ca. 150), und die meisten arbeiten nicht in der Zentrale in Selters, sondern ihnen wurde diese Stellung als Ehrenamt angetragen, und sie erhalten dafür keinerlei Entschädigung und auch nicht automatisch eine Altersabsicherung. Jegliche anderen Mitarbeiter, wie auch die Masse der Zeugen Jehovas im Lande, sind nirgendwo "Mitglied" im engeren Sinne! Die ganze Mitgliedschaftsregelung dient nur dazu, dem deutschen Gesetz nach außen Genüge zu tun, und ist eine reine Hülse. (Bereits in der Entscheidung des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. Dezember 1963 [Az.-Nr.: L-3(6)/Kr-1S/61] werden auf Grund der Vorspiegelungen der Wachtturm-Gesellschaft die "satzungsgemäßen Mitglieder" mit den hauptamtlich dort Tätigen verwechselt.) Im Innern der Organisation der Zeugen Jehovas gelten ganz andere, eigene Gesetze. Nach diesen internen Vorschriften, die international gelten und von der weltweit leitenden Körperschaft in New York erlassen werden, regelt sich auch das Arbeitsverhältnis der Mitarbeiter.

Der Gesetzestext versteht aber ganz offensichtlich unter "satzungsmäßige Mitglieder" etwas prinzipiell anderes, nämlich die regulär für die Gesellschaft tätigen Personen.

"Hauptamtliche Mitarbeiter" wiederum, wie man sie gemeinhin kennt ("die gegen Arbeitsentgelt beschäftigt sind"), gibt es im gesamten Bereich der Wachtturm-Gesellschaft nicht. Die Vollzeit- beschäftigten dort sind alle unentgeltlich tätig und erhalten nur freie Unterkunft und ein geringes Taschengeld.

Zum besseren Verständnis folgt hier eine Übersicht über die verschiedenen Gruppen hauptamtlich Tätiger bei den Zeugen Jehovas:

interne Bezeichnung Funktion mtl. Arbeitszeit mtl. Zuwendung
1. Bethelmitarbeiter Büro + Fabrik in Selters ca. 180 Std.   ca. 200 DM sowie Unterkunft und Verpflegung
2. Kreis- und Bezirksaufseher  Gemeindeaufsicht und Seelsorge  ca. 180 Std. (im sog. "reisenden Dienst" tätig)  wenige Hundert DM 
3. Sonderpioniere  Inlands- Missionare  ca. 180 Std (Außendienst)  wenige Hundert DM (ca. 500 DM) 
4. allgemeiner Pioniere Heimatort- Missionare ca. 90 Std. keinerlei Zuwendung

Insgesamt umfassen die ersten drei Gruppen in Deutschland grob gerechnet 1000 Personen, die vierte mehrere Tausend. Kreis- und Bezirksaufseher besuchen turnusmäßig die Ortsgemeinden des ihnen zugeteilten Gebietes für jeweils eine Woche und prüfen dort Schriftverkehr, Kasse und Einhaltung der organisatorischen Vorschriften nach Art eines Prüfbeauftragten des Finanzamts oder der BfA. Hinzu kommt eine gewisse seelsorgerische Betreuung der Gemeindeglieder.

Grundlage für die Ernennung zu diesen Stellungen sind die organisationsinternen Laufbahnvorschriften, die im Laufe der Jahre ziemlich detailliert geworden sind. Darin werden die allgemeinen Voraussetzungen für die Ernennung geregelt, aber auch u. a. die Höhe der Zuwendung sowie der Urlaubsanspruch, ganz wie bei einem normalen Arbeitsverhältnis. Hält sich jemand nicht an diese Vorgaben, treten Disziplinarmaßnahmen in Kraft, die über den Verlust des Arbeitsplatzes bis zum Ausschluß aus der Glaubensgemeinschaft reichen können.

Im Bewerbungsformular beispielsweise für den "Allgemeinen Pionierdienst" verpflichtet sich der Bewerber, alle Anweisungen der Zentrale zu befolgen und jährlich 1000 Stunden im Missionsdienst von Haus zu Haus an seinem Wohnort tätig zu sein. Nur besonders bewährte und qualifizierte Einzelpersonen werden für diese Position eigens von der Zentrale in Selters ernannt. Sie erhalten allerdings von der Wachtturm-Gesellschaft keinerlei finanzielle Zuwendung. Ihre Tätigkeit für die Gemeinschaft umfaßt aber ein weites Spektrum von informellen sozialen Diensten innerhalb der Bruderschaft, und man kann sagen, daß diese Mitarbeiter den aktiven Kern jeder Gemeinde bilden, der die anderen anspornt, so daß man hier von besonderen Repräsentanten der Zentrale und einer Teilzeitbeschäftigung für die Gemeinschaft im Außen- dienst sprechen muß, die weitgehend derjenigen der "Sonderpioniere" entspricht, nur daß sie keinerlei Zuwendung erhalten. Für dieses de-facto-Teilzeitarbeitsverhältnis kann eine angemessene Rentenversicherung nicht von vornherein außer Betracht bleiben. Zur Begründung der Rentenversicherungspflicht ist es zudem ohnehin belanglos, ob ein Entgelt gewährt wird. Sehr häufig sind diese Personen Ehefrauen, deren Männer normal erwerbstätig sind und die bei diesen als nichterwerbstätige Familienangehörige mitversichert werden, also keinen eigenen Rentenanspruch erwerben. Andere, die a11einstehend sind, suchen sich eine Halbtagsstelle, um den Rest ihrer Zeit missionieren zu gehen, wobei oft genug das Sozialamt wegen des geringen

Einkommens Wohngeld zahlt. Rentenbeiträge werden natürlich nur nach dem Einkommen aus dieser Halbtagstätigkeit abgeführt. Hier wird also ganz klar die Allgemeinheit zur Kasse gebeten für Aufgaben, die der Fürsorgepflicht der Religionsgemeinschaft zuzurechnen sind.

Die Wachtturm-Gesellschaft kennt keine Arbeitsverträge, so daß, auch nach neuem Rentenrecht, weder Beiträge zur Rentenversicherung noch zur Arbeitslosenversicherung geleistet werden, auch noch nie geleistet wurden. Einzig durch die Neuregelung der Nachversicherungspflicht bei der Rentenreform 1992 wurde die Gesellschaft erstmals gezwungen, Beiträge irgendwelcher Art abzuführen.

Anscheinend weiß die Wachtturm-Gesellschaft bis zum heutigen Tage noch nicht, daß sie mindestens seit 1.1.1973 zur Nachversicherung gesetzlich verpflichtet war, wenn ein hauptamtlicher Mitarbeiter aus ihrem Dienst ausschied. Tausende von ehemaligen Mitarbeitern dieser Gesellschaft werden nicht gezielt über ihre Rechte aufgeklärt und glauben heute noch, sie hätten keinerlei Ansprüche. Beendet heute einer der hauptamtlich Beschäftigten seiner Tätigkeit, so wird ihm nahegelegt, möglichst in einen anderen Zweig der "Pioniere" überzuwechseln, damit eine Nachversicherungspflicht nicht anfällt.

Nach einer ersten überschlägigen Rechnung könnte es sich um insgesamt rund 5.000 Betroffene handeln, die im Lauf der Jahre seit 1945 ihren Dienst beendet haben und nie nachversichert wurden! Für sie wären möglicherweise 30 Millionen DM Beiträge nachzuentrichten (bei einem geschätzten Unsicherheitsfaktor von 2). Ihnen sagt niemand, daß sie eigentlich einen Anspruch darauf gehabt hätten. Sie waren ja schließlich keine "satzungsgemäßen Mitglieder"!

Wer sich von der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas aus irgendwelchen Gründen (auch aus Gewissensgründen) trennt, hat nach deren Norm ohnehin keine Ansprüche mehr auf irgendwelche Unterstützung, ganz gleich, wie lange er dort tätig war. So muß erst die Hilfe des Sozialgerichts in Anspruch genommen werden, um die Nachversicherung doch noch zu erreichen. Die eingangs erwähnte interne Altersversorgung erstreckt sich nur auf in Ehren altgewordene hauptamtliche Mitarbeiter. Wer die Religionsgemeinschaft verläßt, ist nach deren Denkweise selber daran schuld, wenn er keine Altersversorgung erhält!

Drei Dinge müssen hier geschehen:

  • Erstens muß die Wachtturm-Gesellschaft klar in ihre gesetzliche Pflicht genommen werden, auch für die Tausende von Altfällen.
  • Zweitens müssen die Betroffenen gezielt über ihre Rechtsansprüche informiert werden, und zwar auch unter Mitwirkung der Wachtturm-Gesellschaft.
  • Und drittens sind die Allgemeinen Pioniere in die Rentenversicherungspflicht mit einzubeziehen.

Hinzu käme noch die Forderung nach der Berufsunfallversicherung bei allen vier Gruppen. Die Wachtturm-Gesellschaft ist nicht Mitglied einer Berufsunfallgenossenschaft, was für ihre Mitarbeiter seit Jahrzehnten tragische Konsequenzen hat.

Kennzeichnend für die Strategie der Religionsgemeinschaft ist weiterhin die Preispolitik für den Vertrieb ihrer Druckerzeugnisse. Seit wenigen Jahren werden die Druckschriften gratis gegen eine freiwillige Spende abgegeben. Dazu kam es aber erst, als von den Finanzbehörden Steuernachzahlungsforderungen in Millionenhöhe ins Haus standen und die Gemeinnützigkeit aberkannt zu werden drohte, wie auch in den USA. In beiden Ländern wurde daraufhin schnell die Gratisverteilung eingeführt, nicht aber in den meisten anderen Ländern dieser Welt. Dort dürfen die Abnehmer weiterhin den vollen Preis entrichten, der vorher auch hierzulande galt - einzig weil dort die Finanzbehörden darin keinen Widerspruch zur Gemeinnützigkeit sehen.

Insgesamt wird deutlich, daß die Wachtturm-Gesellschaft im Innern nach einem straffen hierarchischen Reglement nach Art eines multinationalen Konzerns geführt wird (durch die Welt- zentrale in New York, die das "theokratisch" nennt) und de facto nach dem Zweiten Weltkrieg ein bereits recht komplexes Kirchen- und Betriebsverfassungrecht aufgebaut hat, ohne daß sie sich dessen so recht bewußt ist und ohne daß dieses an unsere bestehende Rechtsordnung (von der es um Jahrzehnte, teilweise Jahrhunderte abweicht) angebunden ist. In welcher Rechtsform die Vereinigung an die Ö6'entlichkeit tritt, regelt sie von Land zu Land verschieden, je nachdem, wie es ihrem Interesse nützt. Zum Beispiel firmierte sie in Mexiko jahrzehntelang als "kulturelle Vereinigung", da sie dort als religiöse Gemeinschaft keine Immobilien besitzen dürfen, auch wenn das bedeutete, daß ihre dortigen Anhänger in den Versammlungsstätten nicht beten und singen und bei ihrer Missionstätigkeit die Bibel nicht benutzen dürfen. Erst kürzlich, als die Rechtslage geändert wurde, hat man sich als Religionsgemeinschaft registrieren lassen. (Diese Information entstammt dem Buch Der Gewissenskonflikt von Raymond Franz, einem ehemaligen Führungsmitglied der Vereinigung.) Für Deutschland bedeutet das, auf keinen Fall als Arbeitgeber aufzutreten, um keine sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche zu begründen. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Vereinigung Arbeitgeberfunktion hat und ihre Mitarbeiter einen arbeitnehmergleichen Status haben.

Die Zeugen Jehovas zählen zu den Glaubensgemeinschaften, denen es mit dem Glauben an ein unmittelbar bevorstehendes Weltende seit über 100 Jahren sehr ernst ist und die auch heute noch unverändert all ihr Handeln danach ausrichten. Aus dieser Sicht ist nachvollziehbar, daß Beiträge zur Altersvorsorge als entbehrlich Ausgabe angesehen werden. Solange dies nur einzelne Personen betraf, war die Wirkung auf das staatliche Gemeinwesen vernachlässigbar, doch besonders nach dem Zweiten Weltkrieg hat die Zahl der Anhänger stark zugenommen und geht jetzt weltweit in die Millionen, in Deutschland vielleicht eine halbe Million. Zugenommen hat damit aber auch die Zahl enttäuschter Menschen, die ihr Leben lang keine oder nur sehr unzureichende Sozialversicherung gezahlt haben und dafür alle ihre Kraft in den Dienst ihres Glaubens gestellt haben. Heute sind sie häufig genug bitterarm und auf Unterstützung der Allgemeinheit angewiesen. Mit dem Schritt in die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts begibt sich die Glaubensgemeinschaft auf den Weg zur Säkularisierung, was ihr auch klargemacht werden muß. Sie muß aus diesem Anlaß endlich fest in die allgemein üblichen sozialen Mindeststandards unserer Gesellschaft eingebunden werden.