Bisher war die Denkwelt des Zeugen Jehovas eigentlich ganz einfach: Er war "in der Wahrheit", alle anderen gehörten zur "Hure Babylon".

Und von diesem "Weltreich der falschen Religion" musste er sich um jeden Preis fern halten um nicht "einen Teil ihrer Plagen" zu empfangen. Eine Überzeugung, die wohl bald veraltet sein wird, denn seine religiösen Führer kennen solche Berührungsängste schon lange nicht mehr.

Seinen Anhängern gegenüber kennt der Wachtturm deutliche Worte, was die religiösen Organisationen angeht, die nach der Meinung seiner Herausgeber mit dem "wahren Christentum" nichts zu tun haben. So ist zum Beispiel in der Ausgabe vom 1.5.1999 zu lesen:

In der Offenbarung wird ein bevorstehender vernichtender Angriff auf die falsche Religion geschildert. Kapitel 17 beschreibt das Gericht Gottes an ‘Babylon der Großen, der Mutter der Huren’ — dem Weltreich der falschen Religion. Die Christenheit spielt eine zentrale Rolle und beansprucht, in einem Bundesverhältnis zu Gott zu stehen. (Vergleiche Jeremia 7:4.) Die falschen Religionen, darunter die Christenheit, hatten lange Zeit unerlaubte Beziehungen mit ‘den Königen der Erde’, doch das wird mit der Verwüstung jener Religionen enden.

Auch wie diese "Verwüstung" vonstatten gehen wird, glauben die Schreiber des Wachtturms zu wissen:

Jehova wird es den politischen Machthabern bald in den Sinn geben, „Babylon die Große", das Weltreich der falschen Religion, zu vernichten."

Der Wachtturm vom 15.9.1999

Die Wachtturm-Literatur ist voll von solchen und ähnlichen Aussprüchen. Dem gemeinen Zeugen Jehovas wird sogar geraten, keine Arbeitsstelle anzunehmen, die in irgend einem Zusammenhang mit einer religiösen Organisation "Babylons" steht. Ein Grundsatz, der jedoch für seine religiösen Führer nicht zu gelten scheint. Zumindest zeigen das die Beispiele der neueren Zeit.

Gemeinsam mit Kirchen und Sekten

Am 25. Oktober 1997 beteiligte sich Dr. Reinhard Kohlhofer, Rechtsanwalt, offizieller Rechtsvertreter im Anerkennungsverfahren der Wachtturm-Gesellschaft, Österreich und Ältester bei den Zeugen Jehovas bei einer Tagung zum Thema "Sekten und Staat" im Wiener Hotel Marriott. Veranstalter war die Vereinigungskirche in Österreich, auch unter dem Namen Mun-Sekte bekannt.

Am 10. bis 12. September 1998 findet in Turin eine Konferenz von CESNUR statt, einer Organisation, die gemeinhin als das "Kartell der Sekten" bezeichnet wird. Auf dem Programm: die japanischen Sekte Soka Gakkai, die Celestial Church of Christ, Ramtha's Schule Alter Weisheit, Transzendentale Meditation, die Damanhur-Bewegung, die Mormonen und die Zeugen Jehovas. Es sprechen Zeugen Jehovas Rechtsanwalt Alain Garay aus Paris und Wachtturm Rechtsanwältin Carolyn R. Wah aus Patterson, New York. Auf der Gästeliste standen außerdem James N. Pellechia, Chef der PR-Abteilung der Wachtturm-Gesellschaft aus Brooklyn, USA und Gajus Glockentin, Leiter der Rechtsabteilung der Zeugen Jehovas in Selters, Deutschland.

Am 19.11.1998 schrieben die Stuttgarter Nachrichten einem Artikel über die Situation von Scientology und zitieren aus dem Zwischenbericht des Verfassungsschutzes: "Auf der Suche nach Verbündeten arbeite die Organisation unter anderem mit den Zeugen Jehovas und islamischen Gruppen zusammen."

Am 6. und 7. Januar 1999 fand in London eine Konferenz der Organisation Menschenrechte ohne Grenzen statt, an der nicht nur Wissenschaftler und Politiker, sondern auch Vertreter von Scientology und Baha'i teilnahmen. Mitten unter ihnen Philip Brumley, Rechtsberater der leitenden Körperschaft der Zeugen Jehovas.

In Moskau lassen sich die Zeugen Jehovas von der Rechtsanwältin Galina Krylowa vertreten, die in der internationalen Sektenszene zu Hause ist und neben den Zeugen Jehovas auch die Mun-Skete, die japanische Giftgas-Sekte Aum Shinrikyo, die Hare-Krishnas und Scientology vertritt.

Im Januar 2000 diskutierten in Luzern/Schweiz drei Historiker mit einem Publizisten, einem katholischen Professor und einem protestantischen Sektenbeauftragten. Und das auf einer Veranstaltung der Zeugen Jehovas. Es ging, wie konnte es anders sein, um die Nazizeit in Deutschland und um den "Umgang mit vergessenen Opfern". In Wirklichkeit, so die Neue Luzerner Zeitung, wurden aber die Zeugen Jehovas und ihre Einstellung zu Andersgläubigen, Staat und Gesellschaft diskutiert.

Am 20. März 2000 unterzeichneten die Zeugen Jehovas ein Konkordat mit der italienischen Regierung und ziehen seitdem Kirchensteuer über die staatlichen Finanzämter ein. Eine Vorgehensweise, die man viele Jahre lang der katholischen Kirche angekreidet hatte.

Theologen, Historiker und Zeugen Jehovas an einem Tisch

Die jüngste Veranstaltung fand am 3. bis 5. November 2000 statt. Auf dem Programm einer als "Kooperationstagung" bezeichneten Veranstaltung in Heidelberg findet man alte Bekannte aus der deutschen Pro-Sekten-Szene. Darunter Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier, der für seine ausgeprägte Polemik gegen Kritiker und Aussteiger der Zeugen Jehovas bekannt ist, und Dr. Detlef Garbe, der mittlerweile schon so oft auf Veranstaltungen der Wachtturm-Gesellschaft aufgetreten ist, dass er von vielen Beobachtern als Vorzeige-Historiker dieser Organisation bezeichnet wird.

Das Thema der Veranstaltung: "Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen Jehovas unter der NS- und SED-Diktatur". Veranstalter sind das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung an der TU Dresden und die Arbeitsstelle Kirchliche Zeitgeschichte der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Doch wer das Programm aufmerksam liest, erkannte schnell, dass es sich hier in Wirklichkeit um eine Tagung der Zeugen Jehovas handelt. Nicht umsonst begann sie mit dem Grußwort vom Präsidenten der Wachtturm-Gesellschaft in Deutschland, Willi Pohl.

Doch auch die übrigen Namen des Bereiches für Öffentlichkeitsarbeit der Zeugen Jehovas waren im Programm verzeichnet. So referierte zum Beispiel Wachtturm PR-Chef Wolfram Slupina über "Die Doppelverfolgung der Zeugen Jehovas unter dem NS- und dem DDR-Regime" und Johannes Wrobel griff in sein "Geschichtsarchiv" in Selters und berichtete über die "Jehovas Zeugen im Strafvollzug der DDR".

Außerdem scheint die Wachtturm-Gesellschaft zwei neue Filme in Auftrag gegeben zu haben. Der eine heißt "Folget mir nach" und wurde von Fritz Poppenberg gedreht. Der andere trägt den Titel "Bei uns werdet ihr nichts zu lachen haben" und entstand unter der Regie von Loretta Walz. Beide Streifen wurden in Heidelberg erstmals vorgeführt und zur Diskussion gestellt.

Wie es scheint, hat die Wachtturm-Gesellschaft eine ganze Reihe neuer Historiker für ihre Ziele einspannen können. Das Programm der Heidelberger Veranstaltung war jedenfalls geradezu gespickt mit Doktor-Titeln: Dr. Hubert Roser (Karlsruhe), Dr. Manfed Zeidler (Dresden), Dr. Bernd Schäfer (Dresden), Dr. Hans-Hermann Dirksen (Greifswald) und Dr. Clemens Vollnhals (Dresden). Sind das vielleicht die Namen, mit denen sich die Wachtturm-Gesellschaft auf ihren künftigen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit schmücken wird?

Die nächste Stufe der Wachtturm-Kampagne

Die Wachtturm-Gesellschaft scheint entschlossen zu sein, ihre schon seit Jahren laufende Kampagne fortzusetzen. Mit dem Unterschied, dass man künftig nicht nur die eigenen Opfer aus der NS-Zeit instrumentalisieren, sondern das Thema auf die DDR-Vergangenheit ausweiten will. Künftig müssen also nicht nur die Naziopfer herhalten, um die Zeugen Jehovas in der Öffentlichkeit als verfolgte religiöse Minderheit zu präsentieren, sondern auch die Stasiopfer der neueren deutschen Geschichte.

Wobei man sich fragt, welche Motive eigentlich Wissenschaftler haben, die sich (soweit dies bisher bekannt ist) in der Öffentlichkeit ganz im Sinne einer Organisation äußern, die alle Merkmale einer Sekte aufweist, Kontakte zur internatonalen Sektenszene pflegt und auch immer wieder mit Scientology in Verbindung gebracht wird. Und was Forschungseinrichtungen dazu veranlasst, als Veranstalter einer Tagung aufzutreten, deren Inhalt ganz offensichtlich bis ins Detail mit der Wachtturm-Gesellschaft abgestimmt ist.

Die Motive der Wachtturm-Gesellschaft hingegen scheinen offensichtlich zu sein: Es geht um die nächste Phase der bundesweiten PR-Kampagne. Schließlich ist die Frage der Körperschaftsrechte nach wie vor offen und für die Zeugen Jehovas stehen viele - vor allem materielle - Vorrechte auf dem Spiel. Da rechnet sich natürlich der Aufwand, möglichst viele Wissenschaftler um sich zu scharen und die in Sektenfragen wenig informierte wissenschaftliche Community für sich zu gewinnen. Auch wenn das heißt, sich mit den Theologen Babylons zusammen zu schließen und "weltliche" Gelehrte für die eigenen Zwecke zu nutzen.

Der gemeine Zeuge Jehovas wird sich also noch auf viele neue "Wahrheiten" einstellen müssen.