Am 25. und 26. Juni fand in Neustadt/Weinstraße ein Seminar statt, das von der Konrad-Adenauer-Stiftung veranstaltet wurde. Das Thema: "Beratung im Sektenbereich - Anspruch und Wirklichkeit".

Eingeladen waren Vertreter von Sekten-Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen, um über ihre Tätigkeit zu berichten und Erfahrungen auszutauschen. Doch dazu kam es nicht.

Der Grund war, dass die Veranstalter - bewusst oder aus Ignoranz - auch Vertreter der Sekten selbst eingeladen hatten. Unter anderem Rechtsanwalt Armin Pikl, sowie zwei Vertreter des Informationsdienstes der Wachtturm-Gesellschaft. Eine Situation, die natürlich jeden offenen Dialog verhinderte, schließlich saßen hier die Vertreter der Opfer an einem Tisch mit den Verursachern. Einige Teilnehmer der Selbsthilfegruppe AUSSTIEG meinten dazu: "Das ist ganz so als würde man Vergewaltigungsopfer zum Gespräch über die Bewältigung ihrer Erfahrung einladen und die Vergewaltiger säßen am selben Tisch."

Die Gruppe sah sich dazu veranlasst, ihren Unmut an der völlig unpassenden Veranstaltung in einem Protestschreiben zum Ausdruck zu bringen.


Konrad Adenauer-Stiftung e.V.

Weißliliengasse 5

55116 Mainz

19.08.1999

Betr. Seminar: „Beratung im Sekten-Bereich; Anspruch und Wirklichkeit“ 25.-26.06.99

(oder: Sektenberatung gemeinsam mit Herrn Pikl)

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind eine Initiative für Sektenaussteiger und Betroffene. Zum oben genannten Seminar haben wir eine Einladung erhalten, uns angemeldet und daran teilgenommen. Wir möchten uns dazu äußern.

Mitten unter ehemaligen, noch sehr befangenen Scientologen saß ein eiskalt wirkender junger, aktiver Scientologe, der, obwohl überhaupt nicht ordnungsgemäß angemeldet, zunächst unbehelligt seine Aufschriebe tätigte und, als man ihm auf Fragen der Teilnehmer hin endlich bedeutete, er sei hier fehl am Platze, unter Drohungen den Raum verließ.

Auf die anschließende, sicherlich berechtigte Frage einiger Teilnehmer, warum denn auch aktive Zeugen Jehovas aus Selters anwesend seien, antwortete die Seminarleitung, diese hätten sich ordnungsgemäß angemeldet, da könne man nichts beanstanden.

Auch wir hatten uns ordnungsgemäß angemeldet - auf eine uns zugeschickte Einladung hin. Waren diese Leute der Seminarleitung im Vorfeld als Zeugen Jehovas bekannt? Warum werden Zeugen Jehovas aus Selters zu einer Veranstaltung eingeladen, bei der es u.a. um Menschen geht, die gerade durch diese Organisation Schaden erlitten haben und die nun Beratung und Hilfe brauchen? Was versprechen Sie sich davon? Etwa Einsicht? Glauben Sie wirklich, diese Leute würden sich für das Thema Beratung ehrlich interessieren oder die Notwendigkeit von Beratung und Therapie nach dem Ausscheiden aus ihrer Organisation überhaupt einsehen?

Können Sie sich vorstellen, daß man hier vielleicht gezielt Informationen einsammelt, auswertet und manipuliert, um die eigenen Anhänger unter Druck zu setzen und sie davor zu warnen, was ihnen da draußen in der „bösen Welt" alles zustoßen kann?

Können Sie sich auch vorstellen, daß gerade solche Menschen, um die es in diesem Seminar doch gehen sollte - Sektenaussteiger und Betroffene -, nicht in der Lage sind, sich in Gegenwart aktiver Zeugen Jehovas überhaupt zu äußern?

Und es waren etliche Menschen da, denen es so ging! Eine von ihnen verließ in größter innerer Erregung den Raum, da sie die Gegenwart von Menschen aus einer Organisation, die ihr Leben fast völlig zerstört hätte, nicht ertragen konnte und doch mit anhören mußte, wie man vorne deren Dasein rechtfertigte.

Wenn eine Veranstaltung zum Thema „Beratung für Opfer von Straftaten“ stattfindet, lädt man dann auch die Straftäter dazu ein?

Ist es Sinn eines solchen Seminars, daß Menschen, um die es hier doch gehen sollte, es nicht mehr ertragen und den Raum verlassen, während führende Sektenmitglieder, deren Organisation die Notwendigkeit von Beratung und Therapie oftmals erst verursacht, kalt lächelnd sitzen bleiben? Wir konnten die spürbare Angst der betroffenen Personen gut nachvollziehen. Dagegen erschütterte uns die Gleichgültigkeit der Seminarleitung gegenüber dem Druck, der auch nach dem oft dramatischen Ausstieg noch auf den Sektenopfern lastet.

Frau Cammans war derselben Meinung wie viele andere Teilnehmer. Sie hat ihr Referat, das sehr interessant war und sicher noch viel mehr wichtige Einzelheiten gebracht hätte, über Nacht gekürzt und geändert, weil führende Zeugen Jehovas anwesend waren. Man hatte auch sie nicht davon verständigt.

"Anspruch und Wirklichkeit": Über Anspruch wurde vorne viel geredet und gestritten, besonders über Institutionen, Zuständigkeiten, Verfahrensweisen. Über Wirklichkeit hätte uns Frau Cammans berichten können und sicherlich mehrere andere Anwesende auch. Das war so nicht möglich. Der betroffene Mensch, unseres Erachtens Hauptthema dieses Seminars, rückte ins Abseits.

Erwartet hatten wir Interesse an der Arbeitsweise der Selbsthilfegruppen, Austausch über Möglichkeiten der Hilfe beim Ausstieg und fachlichen Kommentar zu einzelnen besonderen Fällen. Stattdessen beschränkte sich der Gedankenaustausch auf die Pausen und in diesen auf lebhafte Gespräche zwischen der Seminarleitung und den Zeugen Jehovas.

Erschreckend viele Teilnehmer verneinten die Frage am Schluß, ob man wieder zu einem solchen Seminar kommen würde, - sie ließen die Hände unten. Anders die anwesenden Zeugen Jehovas: Sie hoben ihre Hände.

Das Seminar war für uns derart entmutigend, ja bestürzend, daß wir unter gleichen Voraussetzungen kein zweites Mal teilnehmen werden. Menschen, denen an diesen beiden Tagen etwas an die Hand gegeben werden sollte, wurden zu einem guten Teil verärgert und gekränkt. Wichtige Informationen blieben auf der Strecke.

Die von Frau Roderigo geforderte Dialogbereitschaft mit den Sekten ist auch unserer Meinung nach notwendig und wichtig und auch ein Bestandteil unserer Arbeit. Ein Beratungsseminar als Informationsveranstaltung für führende Sektenmitglieder hatten wir allerdings nicht erwartet.

Dem Thema, so meinen wir, ist man nicht gerecht geworden.

Mit freundlichen Grüßen

für die Initiative AUS/STIEG:

Henriette Banscher, Karl-Heinz Geis, Nora Herzog, Margarete Huber, Ursula Meschede