Die anwesenden Zeugen Jehovas ließen keine Emotion erkennen, als das Bundesverwaltungsgericht am 19.12.2000 sein Urteil zur Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft bekannt gab:

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Juni 1997... verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 140 des Grundgesetzes... Es wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesverwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Medien berichteten später von einem „Teilsieg der Zeugen Jehovas“. Präsidiumssprecher Werner Rudtke sprach von Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften und meinte: „Wir sehen zukünftigen Entwicklungen positiv entgegen."

Doch was auf dem ersten Blick nach einem Sieg für die Zeugen Jehovas aussieht, kann sich auf lange Sicht durchaus ins Gegenteil verkehren. Denn das Gericht hatte zwar das Urteil aufgehoben, gleichzeitig aber eine Neuaufnahme des Verfahrens ausgelöst und dafür gleich die Kriterien festgelegt:

Eine Religionsgemeinschaft, die Körperschaft des öffentlichen Rechts werden will, muss rechtstreu sein. Sie muss die Gewähr dafür bieten, dass sie das geltende Recht beachten, insbesondere die ihr übertragene Hoheitsgewalt nur in Einklang mit den verfassungsrechtlichen und den sonstigen gesetzlichen Bindungen ausüben wird..., muss insbesondere die Gewähr dafür bieten, dass ihr künftiges Verhalten die in Art. 79 Abs. 3 GG umschriebenen fundamentalen Verfassungsprinzipien, die dem staatlichen Schutz anvertrauten Grundrechte Dritter sowie die Grundprinzipien des freiheitlichen Religions- und Staatskirchenrechts des Grundgesetzes nicht gefährdet.

Mit anderen Worten: Wenn die Zeugen Jehovas den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts haben wollen, müssen sie die Gewähr bieten, dass sie die geltenden Gesetze und vor allem die verfassungsmäßigen Grundrechte Dritter achten. Und das aus gutem Grund, denn, so die Urteilsbegründung:

Korporierte Religionsgemeinschaften haben einen öffentlich-rechtlichen Status und sind mit bestimmten hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Sie verfügen damit über besondere Machtmittel und einen erhöhten Einfluss in Staat und Gesellschaft. Ihnen liegen deshalb die besonderen Pflichten des Grundgesetzes zum Schutz der Rechte Dritter näher als anderen Religionsgemeinschaften.

Dabei stellte das Gericht klar, dass es dem Staat nicht zusteht, die religiösen Inhalte einer Religionsgemeinschaft zu beurteilen. Doch das ist kein Freibrief, denn

Ob einer antragstellenden Religionsgemeinschaft der Körperschaftsstatus zu versagen ist, richtet sich nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem Verhalten. Der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität verwehrt es dem Staat, Glaube und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten... Das hindert ihn freilich nicht daran, das tatsächliche Verhalten einer Religionsgemeinschaft oder ihrer Mitglieder nach weltlichen Kriterien zu beurteilen, auch wenn dieses Verhalten letztlich religiös motiviert ist. Ob dabei Glaube und Lehre der Gemeinschaft, soweit sie sich nach außen manifestieren, Rückschlüsse auf ihr zu erwartendes Verhalten zulassen, ist eine Frage des Einzelfalls.

Die Zeugen Jehovas können also glauben, was sie wollen. Sie dürfen Weltuntergänge verkünden, den Staat als Werkzeug des Teufels ansehen, sich von jeglichem sozialen Engagement fern halten und sogar das demokratische Grundprinzip unseres Staates ablehnen. Kritisch wird die Sache erst, wenn ihre religiöse Überzeugung zu einem Verhalten führt, das im Widerspruch zu den Rechtsprinzipien des Staates steht und durch das die Rechte anderer verletzt werden. Das Bundesverfassungsgerichtes bekräftigte diesen Sachverhalt mit den folgenden Worten:

Dass die Beschwerdeführerin in ihren religiösen Lehren jedes politische System und damit auch die Verfassungsordnung des Grundgesetzes als "Bestandteil der Welt Satans" ansieht... ist nicht ausschlaggebend. Es ist dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat verwehrt, Glauben und Lehre als solche zu bewerten. Maßgeblich ist vielmehr das tatsächliche Verhalten der Religionsgemeinschaft. In diesem tatsächlichen Verhalten erkennt die Beschwerdeführerin den Staat des Grundgesetzes wie andere "obrigkeitliche Gewalten" als von Gott geduldete Übergangsordnung an. Eine darüber hinausgehende Zustimmung oder Hinwendung zum Staat verlangt das Grundgesetz nicht.

Eine klare Absage erteilte das Gericht der Forderung des Bundesverwaltungsgerichtes, zur Erlangung der Körperschaftsrechte sei eine gewisse Loyalität zum Staat erforderlich. Und die sei nicht gewährleistet, wenn eine Religionsgemeinschaft ihren Mitgliedern die Beteiligung an demokratischen Wahlen verbietet.

"Loyalität" ist ein vager Begriff, der außerordentlich viele Deutungsmöglichkeiten eröffnet... Der Begriff zielt nämlich auch auf eine innere Disposition, auf eine Gesinnung, und nicht nur auf ein äußeres Verhalten. Damit gefährdet er nicht nur die Rechtssicherheit, sondern führt auch in eine Annäherung von Religionsgemeinschaft und Staat, die das Staatskirchenrecht des Grundgesetzes weder verlangt noch billigt.

Der Versuch des Bundesverwaltungsgerichts, die Verweigerung der Körperschaftsrechte an nur einem Aspekt festzumachen, ist damit gescheitert. Was jedoch noch lange nicht heißt, dass die Zeugen Jehovas jetzt am Ziel sind. Ganz im Gegenteil. In den folgenden Monaten steht ihnen ein Verfahren ins Haus, das an die Substanz gehen wird. Denn das oberste deutsche Gericht verlangt nichts Geringeres als eine gründliche Analyse des tatsächlichen Verhaltens der Zeugen Jehovas. Dafür ist mehr als ein Besuch im Königreichssaal erforderlich, mehr als ein Blick in die Wachtturm-Literatur und weit mehr als eine Berücksichtigung der offiziell vertretenen Standpunkte.

Die Prüfung, ob eine Religionsgemeinschaft nach ihrem gegenwärtigen und zu erwartenden Verhalten die Gewähr dafür bietet, die ... fundamentalen Verfassungsprinzipien... nicht zu beeinträchtigen oder zu gefährden, setzt eine komplexe Prognose voraus. Dabei muss eine Vielzahl von Elementen zusammengestellt und gewürdigt werden. Mathematische Genauigkeit ist nicht zu erreichen. Für eine solche Prognose nicht untypisch wäre die Annahme, dass sich eine Gefährdung der genannten Schutzgüter erst aus dem Zusammenwirken vieler einzelner Umstände ergibt. Andererseits stellen bloß punktuelle Defizite die geforderte Gewähr nicht in Frage. Hier ist den Fachgerichten eine typisierende Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung aller derjenigen Umstände aufgegeben, die für die Entscheidung über den Körperschaftsstatus von Bedeutung sind.

Die Zeugen Jehovas werden also glaubhaft nachweisen müssen, dass das, was sie offiziell lehren, auch tatsächlich dem entspricht, was sie in Wirklichkeit tun. Wobei das Bundesverfassungsgericht bereits erste Andeutungen macht, auf welche Aspekte dabei wert gelegt werden sollten:

Insbesondere ist im fachgerichtlichen Verfahren offen geblieben, ob die Beschwerdeführerin - wie das Land Berlin behauptet - durch die von ihr empfohlenen Erziehungspraktiken das Wohl der Kinder beeinträchtigt oder austrittswillige Mitglieder zwangsweise oder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln in der Gemeinschaft festhält und damit dem staatlichen Schutz anvertraute Grundrechte beeinträchtigt.

Dem Berliner Bundesverwaltungsgericht steht also ein vermutlich langwieriges Verfahren ins Haus. Schließlich gilt es eine ganze Reihe offener Fragen zu klären. Zum Beispiel, ob es sich mit dem Wohl der Kinder vereinbaren lässt, wenn sie schon ab dem Vorschulalter aus der übrigen Gesellschaft ausgegrenzt und später an einer ihren Fähigkeiten entsprechenden Ausbildung gehindert werden. Oder, ob ein Zeuge Jehovas wirklich frei ist, die Gemeinschaft zu verlassen oder nicht doch durch das praktizierte Ausschlussverfahren daran gehindert wird. Auch wird man sich mit den Auswirkungen des Bluttransfusionsverbots beschäftigen müssen. Und man wird klären müssen, ob man wirklich einer Religionsgemeinschaft die Körperschaftsrechte verleihen kann, die mehrfach Kinderschänder gedeckt hat, die rechtsgültig geschiedene Mitglieder daran hindert, erneut zu heiraten und in deren Einrichtungen Menschen ohne ausreichende Altersvorsorge arbeiten.