10:00 Uhr – Ein unwirkliches Bild: Bewaffnete Polizisten, Personenkontrollen und dazwischen: Männer mittleren Alters in dunkel gehaltenen Anzügen und Frauen im knielangen Rock und Bluse.

Die Polizisten schützen eine der wichtigsten Institutionen unserer Gesellschaft: Das Bundesverfassungsgericht.

Die frühzeitig Erschienenen sind Zeugen Jehovas, zumeist aus der Zentrale der Wachtturm-Gesellschaft in Selters angereist. Sie wollen sehen und hören, wie der Bevollmächtigte der neugegründeten „Religionsgesellschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland“ vor dem höchsten deutschen Gericht für sie eintritt.

Rund 30 Medienvertreter, Schulklassen und auch einige interessierte „Weltmenschen“ und „Abtrünnige“ treffen nach und nach ein.

Ein Gegensatz springt dem Beobachter förmlich ins Auge:

Das fast gänzlich mit Glaswänden versehene, offene und transparente Gebäude und dazu die Zeugen Jehovas, die mit „theokratischer Kriegslist“ ausgerüstet ein Bild ihrer „Gemeinschaft“ zeichnen werden, in dem viele Andere nur ein Zerrbild erkennen können.

11:00 Uhr. Die Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Jutta Limbach, Vorsitzende des 2. Senats eröffnet die mündliche Verhandlung in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e. V.

Prof. Dr. Dr. Winfried Hassemer ist im Verfahren Berichterstatter des Gerichtssenats.

Er schildert den Gegenstand des Verfahrens, mit dem das Verfassungsgericht Neuland betritt, denn der in das Grundgesetz aus der Weimarer Reichsverfassung inkorporierte Artikel 137 war noch nie Gegenstand einer Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht.

Prof. Dr. Dr. Hassemer findet auch bemerkenswerte Worte zum Interesse einer Prüfung der Verfassungsbeschwerde:

„Der Staat wolle schließlich keine Schlange an seiner Brust nähren.“

Ist dass schon ein Menetekel für die Zeugen Jehovas?

Berichterstattern wird regelmäßig ein für die Entscheidung maßgeblicher Beitrag zugeordnet.

Wenn dies stimmt, dann haben die Zeugen Jehovas nur geringe Chancen. Der Berichterstatter stellt neben diesem “Bild” auch fest, dass eine Auslegung des Artikel 137 Weimarer Reichsverfassung unumgänglich ist – und nichts anderes hat das Bundesverwaltungsgericht getan, in dem es ausführte, dass die Zeugen Jehovas aufgrund der Sanktionen für Wähler/Gewählte sich so weit vom Staat entfernen, dass eine Privilegierung nicht hinnehmbar ist.

Die jeweiligen Bevollmächtigten, Prof. Dr. Hermann Weber für die Zeugen Jehovas und Rechtsanwalt Dr. Stephan Südhoff für den Senat von Berlin führten in ihren Reden vor den Richterinnen und Richtern das aus den Rechtsgutachten und dem Urteil des Bundesverwaltungsgericht bekannte zum Verfahren aus.

Die Nachfragen verschiedener Richterinnen und Richter an die Bevollmächtigten geben später auch dem „bekannten“ Rechtsanwalt Armin Pikl, Hadamar und dem anwesenden Justitiar Gajus Glockentin, Selters Gelegenheit zur Stellungnahme:

So behauptet Armin Pikl, dass die Lehränderung „Zivildienst“ weltweit vorgenommen wurde und nicht aufgrund des in Deutschland anhängigen Verfahrens geschah. Er muss aber zugeben, dass praktisch kein Zeuge Jehovas seitdem (in Deutschland) den Zivildienst verweigert und belegt damit „unfreiwillig“, dass die „Gewissensentscheidungen“ von Zeugen Jehovas wohl eher fremdbestimmt sind – Denn quasi über Nacht (bei Erscheinen des entsprechenden Artikels im Wachtturm) änderten sich die Gewissensentscheidungen in das Gegenteil.

Gajus Glockentin, Selters versuchte sogar die Verweigerung von Bluttransfusionen herunterzuspielen, da es das Problem „in der Praxis nicht mehr gibt“, weil nahezu jede Operation ohne Blut durchgeführt werden könne und über 4.000 Ärzte in Deutschland Zeugen Jehovas entsprechend behandeln würden.

Hier erhielt er den einzigen direkten Widerspruch vom Verfassungsgericht, in dem auf notwendige Bluttransfusionen bei Unfallopfern hingewiesen wurde.

Ansonsten ist festzustellen, dass der 2. Senat sachlich und ohne „Qualitätsprüfung“ der Theologie der Zeugen Jehovas verhandelte.

Inwieweit das Bundesverfassungsgericht dem Anwalt des Senats von Berlin folgt, dass eine Verleihung des Körperschaftsstatus „gemeinwohlschädlich“ sei, wird sich zeigen.

Die verfassungsrechtlichen Argumente von Prof. Weber wiegen wohl schwer, aber das Bundesverfassungsgericht sieht sicherlich seine Aufgabe eben gerade darin, den inkorporierten Artikel 137 auszulegen. Und warum dann nicht den Begriff „Rechtstreue“ um „Staatsloyalität“ erweitern?

Mit dem Urteil wird nicht vor November/Dezember gerechnet.