Aussteiger sind eine unbedeutende Randgruppe. Sie sollten den wichtigen Verlauf des Überprüfungsprozesses der Zeugen Jehovas nicht weiter stören. Dies ist die Haltung des Staates, der sich dadurch unbewusst zum Erfüllungsgehilfen dieser Religionsgemeinschaft macht.

Inwiefern?

Nun, als eine der Hauptverhandlungsparteien waren vor Gericht zu einer Stellungnahme ausschließlich die Vertreter der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas eingeladen. Ein Ausgestiegener wurde allenfalls zusätzlich als "Nebenkläger" angehört.

Die Zeugen Jehovas galten also als selbstverständlich anerkannte "Experten in eigener Sache".

Nicht als "Experten" in der gleichen Angelegenheit galten die "Abtrünnigen". Es scheint, als habe sich der Staat in dieser Angelegenheit allzu leichtfertig die Sicht der Religionsgemeinschaft über ihre Abweichler zu eigen gemacht, die besagt: "Die Abtrünnigen wollen uns schaden und unseren guten Ruf zerstören. Man kann verstehen, dass sie voller Hass und Rachegedanken sind, denn schließlich sind sie mit ihrer Haltung und ihren abweichenden Gedanken nicht durchgekommen und haben die Reihen der Zeugen Jehovas nicht spalten können.

Der Staat will und darf sich die Sache der "Abtrünnigen" nicht zu eigen machen. Er hat ja nicht zu prüfen, wie der Einzelne mit der Glaubensgemeinschaft über Glaubensinhalte streitet. Das sollen die Kontrahenten unter sich ausmachen.

Was der Staat zu prüfen hat, ist, ob die Gemeinschaft auf dem Boden des Gesetzes steht und handelt, oder ob sie zu Straftaten animiert oder gar dazu aufruft.

Selbstverständlich ist die Ächtung eines Glaubensgenossen kein strafrechtlich relevantes Verhalten. Niemand kann gezwungen werden, mit jemandem, der die eigenen Glaubensansichten nicht [mehr] teilt, weiteren Umgang zu haben.

Heißt das aber, dass der Staat ein solches Verhalten einer Glaubensgemeinschaft dadurch honorieren sollte, dass er den Titel "Körperschaft des öffentlichen Rechts" leichtfertig jeder Gemeinschaft verleiht, selbst wenn sie solch unsoziale Verhaltensweisen von ihren Mitgliedern fordert?

Noch ein Gedanke zur Verdeutlichung meines Anliegens:

Wir empfinden es als höchst unredlich, wenn Politiker unbescholtene Bürger wie unsere Glaubensbrüder in Baden-Württemberg wider besseres Wissen beleidigen und an den Pranger stellen.

[...]

Die Herren sollten sich bewusst sein, dass ihre grundlosen geäußerten Vorbehalte der Diskriminierung – insbesondere unserer Kinder – Vorschub leisten. Bereits in Folge der Untersuchung durch das Land, die auch die Schulen und Kindergärten einschloss, kam es dort zu gravierenden Diskriminierungen unserer Kinder, die vorher problemlos in ihren Klassen und Gruppen integriert waren. Es ist immer wieder schmerzlich, miterleben zu müssen, wie unsere Kinder allein wegen grundloser Vorbehalte und Vorurteile negative Erfahrungen machen müssen.

Werner Rudtke, Vorstandsmitglied der Wachtturm-Gesellschaft

Die klassische Opferrolle.

Nun gut, erkennen wir für einen Augenblick den Zeugen Jehovas die Rolle als unschuldig verfolgte Opfer des Staates zu.

Wie geht die Justiz mit Opfern schwerer Straftaten um?

Sie billigt ihnen im Verfahren lediglich die Rolle eines Nebenklägers zu, der aber für die Wahrheitsfindung nichts Wesentliches oder gar Entscheidendes beitragen kann, da er durch die direkte Beteiligung am Geschehen befangen ist, möglicherweise sogar derart traumatisiert, dass er noch nicht einmal den genauen Tathergang zu schildern imstande ist.

Auch hat der Staat die Rechtsfindung der Hand des Opfers völlig entzogen, da dieses als Subjekt außerstande ist, die Tat nüchtern und sachlich abwägend zu würdigen und ein gerechtes, angemessenes Strafmaß zu finden.

So weit, so klug und nachvollziehbar.

Nun, wenn sich die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in der Rolle des Opfers gefällt, wieso sollte sie als Hauptbeteiligte eines Gerichtsverfahrens fungieren, das über sie zu befinden hat?

Drehen wir das Gedankenspinnrad noch ein wenig weiter und wenden uns den tatsächlichen Opfern der sozialen Willkür dieser Glaubensgemeinschaft zu, den Ausgeschlossenen und freiwillig Ausgestiegenen:

Ihnen geschieht und geschah in vergangenen Verfahren eben dies: Sie wurden als Hauptbeteiligte des Verfahrens nicht zugelassen, allenfalls als recht unbedeutende Zuträger gewisser Informationen zusätzlich angehört.

Ihnen entzog der Staat eine direkte Mitwirkung am Verfahren, da in der Rolle des Opfers.

Gut, nun hat sich die Religionsgemeinschaft gemäß oben zitierter Pressemitteilung selbst in die Rolle der verfolgten Opfer manövriert. Da wäre es doch folgerichtig, dass beide "Opfer", die Religionsgemeinschaft und die Verfehmten, entweder nicht als Hauptbeteiligte des Verfahrens zugelassen würden, oder man billigt ihnen die Rolle des Opfers nicht zu, dann aber bitte auch hier Gleichberechtigung.

Aber die Zeugen Jehovas in der bevorzugten Weise als Hauptbeteiligte und "Experten in eigener Sache" zuzulassen und die "Verfehmten" nicht, das ist nicht fair, das ist nicht gerecht und verletzt den durch das Bundesverfassungsgericht wiederholt sehr hoch angesetzten "Gleichheitsgrundsatz" in eklatanter Weise.