Es spricht alles dafür, dass die Wachtturm-Gesellschaft die Hoffnung aufgegeben hat, Körperschaft des öffentlichen Rechts zu werden. Das lässt zumindest ein Brief vermuten, den alle Zeugen Jehovas im November 1999 erhielten.

Vordergründige Aussage: Die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Berlin wurde als Verein eingetragen. Die Neuigkeit (gut versteckt zwischen den Zeilen): Jeder Zeuge ist Mitglied in diesem Verein. Die Frage: Wie kann jemand Mitglied in einem Verein sein, ohne jemals seine Mitgliedschaft erklärt zu haben?

Das Schreiben ist an alle getauften Zeugen Jehovas (ZJ) in Deutschland gerichtet. Wie die meisten Briefe der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) ist es sehr wortreich verfasst und man muss es dreimal lesen, bevor man auch nur annähernd begreift, worum es eigentlich geht.

Oberflächlich gesehen wird den Zeugen Jehovas lediglich mitgeteilt, dass die bisher bestehende Trennung zwischen Ost- und Westdeutschland aufgehoben wurde. Bisher waren die Zeugen im Westen in einzelnen Versammlungen organisiert, die jeweils einen eingetragenen Verein bildeten. Im Osten hingegen waren alle Versammlungen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Berlin zusammengefasst. Jetzt ist daraus auch ein e.V. geworden und dessen "Zuständigkeitsbereich umfasst jetzt ganz Deutschland".

Die WTG scheint sich also mit dem Gedanken angefreundet zu haben, dass es wohl nichts wird mit den angestrebten Segnungen einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.

Mitgliedschaft durch die Hintertür

Was nachdenklich macht, ist die Tatsache, dass dieses Schreiben nicht einfach - wie dies sonst üblich ist - in der Versammlung vorgelesen wurde, sondern jeder einzelne ZJ ein Exemplar erhielt. Eine Besonderheit, die auf besondere Gründe schließen läßt.

Gründe, die man kaum erkennt, wenn man nur das Schreiben liest, die aber deutlich werden, wenn man - was vermutlich nur wenige ZJ tun werden - einen Blick in die Satzung dieses neu gegründeten Vereins wirft. In dem genannten Schreiben der WTG wird lediglich etwas unklar formuliert, dass jeder ZJ "durch die Merkmale der Taufe und der Verbundenheit mit einer Versammlung..." dieser neu gegründeten Religionsgemeinschaft angehört. Die Satzung ist da schon deutlicher. Unter § 9 heißt es: "Mitglied der Religionsgemeinschaft ist, wer als Zeuge Jehovas gemäß Absatz 2 zur Taufe zugelassen und getauft wurde und in Deutschland seinen Wohnsitz hat."

Mit anderen Worten: Jeder ZJ in Deutschland wird ab sofort als Mitglied der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas mit Sitz in Berlin bezeichnet. Ein Umstand, der wohl kaum einem Zeugen klar sein dürfte, wenn er nur das Schreiben kennt. Und der Grund dafür, weshalb jedem einzelnen Zeugen ein Exemplar dieses Schreibens ausgehändigt wurde.

Die WTG geht offensichtlich davon aus, dass jeder der 160.000 Zeugen Jehovas in Deutschland schon allein dadurch seine Zustimmung dazu gibt, ordetnliches Mitglied der Religionsgemeinschaft zu sein, wenn er keinen Widerspruch gegen die ganz bewusst undeutlichen Formulierungen des Schreibens keinen Einspruch erhebt. Eine Vorgehensweise, die rechtlich durchaus anfechtbar ist, denn schließlich setzt eine Mitgliedschaft in einem Verein immer irgend eine Form von Willensäußerung voraus. Und diese kann schwerlich schon dadurch gegeben sein, dass man ein Schreiben zur Kenntnis nimmt, dass diesen Umstand nur in einem Nebensatz zum Ausdruck bringt.

Pseudodemokratische Struktur

Interessant ist auch die Struktur der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas in Deutschland e.V.: Ganz oben steht das Präsidium. Es besteht aus fünf bis dreizehn Personen - und umfasst, wie der Eintrag im Vereinsregister zeigt, die gesamten Führungsriege der WTG in Selters. Darunter kommt die Ratsversammlung. Sie repräsentiert - angeblich - die Mitglieder der Religionsgemeinschaft und kommt einmal im Jahr zu einer Ratsversammlung zusammen.

Interessant ist, dass die Ratsversammlung das Präsidium wählt, aber das Präsidium bestimmt, wer Mitglied der Ratsversammlung ist. Interessant ist auch, dass Entscheidungen des Präsidiums nur mit einfacher Mehrheit getroffen werden können, Entscheidungen der Ratsversammlung hingegen die Zweidrittelmehrheit erfordern.

Mit anderen Worten: Die Führungsclique der WTG bildet auch die Spitze der Religionsgemeinschaft. Sie kann sich ihre Vertreter unter den gemeinen Mitgliedern selbst aussuchen und sich jederzeit mit einfacher Mehrheit nicht genehmer "Räte" entledigen. Unter den Mitgliedern der Ratsversammlung hingegen müssen mindestens zwei Drittel einer Meinung sein, bevor irgend ein Beschluss gefasst werden kann.

Wir haben es also hier mit einer pseudodemokratischen Organisationsform zu tun, in der ein Dutzend Leute das Sagen hat, eine Gruppe handverlesener "Räte" einmal im Jahr zu einer Alibisitzung zusammenkommt und die Masse der übrigen Mitgliedern nicht das geringste Mitspracherecht besitzt.

Ordensähnliche Gemeinschaft

Neben der genannten Religionsgemeinschaft in Berlin gibt es noch einen zweiten Verein. Er hat seinen Sitz in Selters und trägt laut Satzung vom 16.10.1999 die Bezeichnung Wachtturm- und Traktatgesellschaft der Zeugen Jehovas e.V. In der Satzung wird er als "ordensähnliche Gemeinschaft" bezeichnet, die sich aus "Sondervollzeitdienern" zusammensetzt.

Bemerkenswert ist, dass dieser Verein laut § 2 seiner Satzung "nicht in erster Linie eigenwirtschaftliche Zwecke" verfolgt. Er kann also durchaus wirtschaftliche Zwecke verfolgen, aber eben nicht "in erster Linie".

Interessant ist auch, dass die Mitgliederzahl dieser "ordensähnlichen Gemeinschaft" ausdrücklich auf 190 begrenzt ist. Auch hier entscheidet allein der Vorstand darüber, wer Mitglied sein darf und wer nicht. Und dieser Vorstand "leitet und beaufsichtigt die Wachtturm-Gesellschaft". Es gibt eine jährliche Mitgliedsversammlung, doch deren Zweck ist vor allem "die Entgegennahme des Jahresberichts und der Jahresabrechnung des Vorstands, sowie die Entlastung des Vorstands...".

Ordensbrüder, die keine sind

Nur wenige Eingeweihte wissen, dass diese Vereinssatzung im Widerspruch zu dem steht, was die WTG gerne gegenüber ihren Mitarbeitern und der Öffentlichkeit vertritt. Hier wird nämlich so getan, als wäre jeder Bethel-Mitarbeiter, jeder Kreis- und Bezirksaufseher und jeder Vollzeitprediger ein ordentliches Mitglied dieser "ordensähnlichen Gemeinschaft". Eine Argumentation, die offensichtlich vor allem das Ziel hat, die Position der WTG zu untermauern, nach der zu diesen Mitarbeitern keinerlei Arbeitsverhältnis besteht - und damit auch keine Verpflichtung zu Beiträgen für die Renten- und Krankenversicherung. Eine Irreführung, die bisher offensichtlich weder Arbeitsamt noch Sozialversicherungsträger durchschaut haben.

Die WTG zeigt damit ein Verhalten, das nicht nur eine unverblümte Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Mitarbeitern offenbart, sondern auch nicht mit den sozialen Grundsätzen unserer Gesellschaft vereinbar ist.

Im Namen der Theokratie

Es ist immer wieder erstaunlich, welche Zumutungen die Zeugen Jehovas akzeptieren, nur weil sie im Namen Gottes daher kommen und von einer Organisation ausgesprochen werden, die sich selbstherrlich als "Jehovas irdische Organisation" bezeichnet. Erst sind sie jahrzehntelang noch nicht einmal ordentliches Mitglied ihrer eigenen Versammlung und dann lassen sie sich ungefragt zu Mitgliedern eines Vereins machen, der ihnen nicht die geringste Möglichkeit einer Mitbestimmung einräumt. Sie bauen mit den eigenen Händen und dem eigenen Vermögen Königreichssäle, ohne jemals ein Eigentumsrecht daran zu erwerben und sie spenden Monat für Monat "für die Königreichsinteressen", ohne jemals nach einem Finanzbericht zu fragen, der ihnen sagt, was mit diesem Geld eigentlich geschieht.