KARLSRUHE - Die Zeugen Jehovas sind noch nicht am Ziel. Das ist nach der Entscheidung der Karlsruher Richter vom Dienstag klar. Sie haben aber einen wichtigen Teilerfolg errungen.

Der Staat darf von Religionsgemeinschaften keine "Loyalität" fordern, erklärte jetzt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, auch wenn er ihnen Vergünstigungen verspricht. Karlsruhe rügte damit genau das Merkmal, das der Berliner Senat erfunden hatte, um der christlichen Sekte die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts einst zu verweigern. Schon seit zehn Jahren bemühen sich die Zeugen Jehovas um diesen Status, der ihnen in vielen Bereichen die Arbeit erleichtern würde. Sie wären dann von Grunderwerbs-und Erbschaftssteuer befreit, hätten planungsrechtliche Vorteile beim Bau ihrer "Königreichssäle" und auch besseren Zugang zur Seelsorge in Krankenhäusern und Gefängnissen.

Das Recht, Kirchensteuern zu erheben, wollen die Zeugen dagegen nicht nutzen. Den Antrag lehnte der Berliner Senat 1993 ab. Eine Entscheidung, die vier Jahre später vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt wurde. Weil die Zeugen Jehovas grundsätzlich aus religiösen Gründen nicht an politischen Wahlen teilnehmen, schwächten sie die "Legitimationsbasis" der Staatsgewalt, hieß es damals zur Begründung. Dieses Urteil hat Karlsruhe nun aufgehoben. Dass das Grundgesetz keine "Loyalität zum Staat" verlange, ergebe sich schon aus der im Grundgesetz gewährleisteten Religionsfreiheit. Nur zwei Kriterien ließ Karlsruhe gelten. Will eine Glaubensgemeinschaft als öffentlich-rechtliche Körperschaft anerkannt werden, muss sie zum einen die "Gewähr der Dauer" bieten, zum anderen "rechtstreu" sein. Mit "Rechtstreue" ist gemeint, dass eine Gemeinschaft "im Grundsatz bereit ist, Recht und Gesetz zu achten und sich in die verfassungsmäßige Ordnung einzufügen". Dabei stört allerdings nach Karlsruher Interpretation ein religiöser Dissens im Einzelfall ebenso wenig wie der für viele Religionsgemeinschaften typische Gewissensvorbehalt. Ein gläubiger Mensch darf im "unausweichlichen Konfliktfall" also durchaus eher Gott als dem Staat folgen. Deshalb kann auch die punktuelle Praxis des Kirchenasyls nicht dazu führen, dass etwa die evangelische Kirche ihren Körperschaftsstatus verliert.

Die Grenze der Rechtstreue ist aber dann erreicht, so das Urteil der Richter des Zweiten Senats unter Vorsitz ihrer Präsidentin Jutta Limbach, wenn die Grundsätze der Verfassung "systematisch" beeinträchtigt oder gefährdet würden. Gemeint sind hier insbesondere Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und der Schutz von Grundrechten. Auch "theokratische" Bestrebungen, also der Versuch, einen Gottesstaat zu errichten, dürfen nicht unterstützt werden. Dieser Passus ist ein deutlicher Fingerzeig dafür, dass fundamentalistische Moslem-Gruppierungen in Deutschland keine staatlichen Privilegien erhalten können.

Doch auch bei den Zeugen Jehovas sind noch nicht alle Fragen geklärt. Das Bundesverwaltungsgericht muss sich in einer neuen Verhandlung, so der Auftrag aus Karlsruhe, vor allem mit zwei Fragen auseinandersetzen. Zum einen geht es um die von den Zeugen Jehovas empfohlenen Erziehungsmethoden. Es besteht der Verdacht, dass intern noch immer die Prügelstrafe propagiert wird. Außerdem müsse geklärt werden, ob austrittswillige Mitglieder "zwangsweise oder mit vom Grundgesetz missbilligten Mitteln" in der Gemeinschaft festgehalten werden. Die Frage der Wahlverweigerung soll, so hieß es in Karlsruhe, nur noch im Rahmen einer Gesamtbeurteilung "berücksichtigt" werden.


Kommentar

Ein demokratisches Lehrstück

Von Joachim Frank

Das Karlsruher Urteil zu den Zeugen Jehovas und ihrem Anspruch, als Körperschaft öffentlichen Rechts anerkannt zu werden, ist ein Lehrstück für demokratisches Selbstbewusstsein und Toleranz. Der weltanschaulich neutrale Staat nimmt sich die Freiheit, den Inhalt religiöser Überzeugungen ganz ins Belieben der Bürger zu stellen, so lange die Verfassungsordnung gewahrt bleibt.

Das angestammte Staat-Kirche-Verhältnis hat das nahe liegende Missverständnis genährt, die Kirchen bekämen Privilegien zuerkannt, nur weil sie soziale Aufgaben übernehmen und am Wertegerüst der Gesellschaft mitzimmern. Der Staat darf sich aber nicht wie der Oberlehrer gebärden, der im Religionsunterricht für gutes Betragen seiner Schüler Fleißkärtchen verteilt.

Das gestrige Urteil betont das Recht der Religion auf Distanz zum Staat.

Bedenkt man, dass die frühen Christen einst als Fraß wilder Tiere endeten, weil sie den römischen Kaiser nicht als Gott verehren wollten, müsste den Kirchen die Haltung der Karlsruher Richter gefallen, zumal etwa die Katholiken mit ihrem Verbot des Frauenpriestertums an einer nicht unwesentlichen Stelle selber in einem Widerspruch zum Gleichberechtigungsgebot des Grundgesetzes stehen.

Quelle: Kölner Stadtanzeiger, 20.12.2000