Kirchenführer schützen Kinderschänder und ächten die Opfer, sagt langjähriger Zeuge

Zug als „Präventivschlag“ angesehen, ehe Dateline-Untersuchungsbericht erscheint

In Erwartung der bevorstehenden Sendung eines NBC-Dateline-Untersuchungsberichtes hat die Führung der Zeugen Jehovas mit Sitz in Brooklyn begonnen, langjährige Mitglieder, die wegen des massiven Problems des Kindesmissbrauchs in der Organisation ihre Stimme erhoben haben, aus der Religionsgemeinschaft auszuschließen.

William H. Bowen, der Gründer von „silentlambs“, einer Hilfsorganisation für Zeugen Jehovas, die als Kinder sexuell missbraucht wurden, wird beschuldigt, „Spaltungen“ in der Religionsgemeinschaft zu erzeugen. Am vergangenen Freitag wurde er durch einen Brief davon in Kenntnis gesetzt, dass er diese Woche zu einer Anhörung zu kommen habe. Bowen sagt dazu: „Vor über einem Jahr, als wir erstmals vortraten, sagten die Führer der Organisation, das Problem gebe es nicht. Als wir über eintausend Geschichten von Opfern auf der Website von „silentlambs“ vorstellten, wurden die Opfer als Lügner bezeichnet. Jetzt, nachdem das Dateline-Programm mit ausgiebigen Belegen aufgezeichnet worden ist, beschließen Ortsversammlungen auf Anweisung der Zentrale, langjährige Mitglieder, die von Dateline gefilmt wurden, auszuschließen, kurz bevor das Programm Ende Mai/Anfang Juni gesendet werden soll? Offensichtlich geschieht dies, um Kirchenmitglieder davon abzuhalten, die Sendung einzuschalten, weil die Theologie der Zeugen Jehovas von den Mitgliedern fordert, auf nichts zu hören, das Ausgeschlossene über ihre Kirche zu sagen haben. Wenn sich die Mitglieder weigern, zu gehorchen, könnte das dazu führen, dass auch sie ausgeschlossen werden.“

Als Dateline die Familie Pandelo aus New Jersey interviewte, beschrieb die Familie, wie herzlos sie von den Zeugenältesten behandelt wurde, nachdem sie vor ihnen offen gelegt hatten, dass ihre Tochter von einem anderen Zeugen belästigt worden war. Obwohl die Kirche schon seit geraumer Zeit von dem in Kürze zu sendenden Interview Kenntnis hat, erhielten die Pandelos am Mittwoch vergangener Woche einen Brief, in dem sie zu einer Anhörung wegen des Vorwurfs der „Abtrünnigkeit“ einbestellt werden. In dem Brief wurde ihnen auch nahegelegt, selbst zu gehen. Bei den Zeugen Jehovas bedeutet das soviel wie, sich selbst die Gemeinschaft zu entziehen. Wenn andere Zeugen, selbst Angehörige, weiter mit einem Mitglied, das gegangen ist oder dem „die Gemeinschaft entzogen“ wurde, Umgang haben, dann kann auch diesen die Gemeinschaft entzogen werden.

Am Donnerstag wurde Barbara Anderson davon in Kenntnis gesetzt, dass sie beschuldigt wird, „Spaltungen“ in der Organisation zu verursachen. Sie wurde aufgefordert, an einer Sitzung eines Rechtskomitees teilzunehmen oder selbst die Gemeinschaft zu verlassen. Anderson ist eine frühere Forscherin, die für die Schreibabteilung der Kirche in Brooklyn, New York, arbeitete, und auch sie wirkt in Dateline mit und redet über das Vertuschen von Kindesmissbrauch bis in die leitende Körperschaft der Religionsgemeinschaft hinein. „Jahrelang hat die leitende Körperschaft (die Führung der Kirche) versucht, Missbrauchsopfer zum Schweigen zu bringen, so dass sie das Bilde der Kirche schützen kann“, sagte Anderson. „Nun dehnen sie ihre Einschüchterung und ihre Vertuschungen auf diejenigen von uns aus, die die Sache auffliegen lassen und versuchen, die Kinder zu schützen.“

In einer im Januar dieses Jahres eingereichten Klageschrift verklagte eine 23-Jährige Frau aus Sacramento, Erica Rodriguez, den Geistlichen der Zeugen Jehovas, der sie missbrauchte, und die Religionsgemeinschaft mit Sitz in New York, die Pädophilen „routinemäßig“, so die Klageschrift, „Zuflucht, Schutz, Mitgefühl und Unterstützung gibt“. „Als ich wegen meines Missbrauchs zu den Ältesten ging, hat man mir gesagt, man würde mir die Gemeinschaft entziehen, wenn ich zur Polizei ginge“, klagt Rodriguez. Manuel Beliz aus der spanischen Versammlung der Zeugen Jehovas in Othello im Bundesstaat Washington wurde für schuldig befunden, Rodriguez während ihrer Kindheit vergewaltigt und missbraucht zu haben, und zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl die Kirche Beliz schließlich wegen der Kinderschändung ausschloss, benutzt sie nun seine Erklärung: „Der Beklagte bestreitet alle falschen Anschuldigungen“ als Grundlage, ihn und die Kirche vor einer Zivilklage zu bewahren.

Einer der Anwälte von Rodriguez in dem Verfahren, Jeffrey Anderson aus St. Paul, Minnesota, hat mehr Klagen wegen sexuellen Missbrauchs gegen religiöse Körperschaften eingereicht als jeder andere Rechtsexperte. „Meiner Erfahrung in den vergangenen zwanzig Jahren nach tritt in jeder Religionsgemeinschaft eine Handvoll tapferer Opfer vor. Wenn eine Religion Personen angreift, die versuchen, Kindern zu helfen, dann muss man sich wirklich fragen, was sie zu verbergen hat“, sagte er.

„Das ist nicht das erste Mal, dass Kirchenführer diejenigen bestraft haben, die Fehlverhalten entlarven. Aber jedes Mal, wenn das passiert, ist es traurig“, sagte David Clohessy aus St. Louis. Er ist Landesdirektor von SNAP, dem Netzwerk von Überlebensopfern, die von Priestern missbraucht wurden, mit Sitz in Chicago. „Bowen und Anderson und ihre Mitstreiter verdienen Lob und keine Verurteilung. Wir zollen ihrem Mut Beifall und hoffen, dass die öffentliche Aufmerksamkeit sich bald auf Missbrauch in weiteren religiösen Gruppen richtet.“

„Seit Januar sind 177 katholische Priester wegen sexuellen Missbrauchs aus ihren Ämtern entfernt worden, und katholische Bischöfe sprechen über eine ‚Null-Toleranz’-Politik“, sagt Bowen. „Während katholische Führer die richtige Richtung einzuschlagen scheinen, wendet sich die Führung der Zeugen Jehovas rückwärts.“ Bowen aus Calvert City, Kentucky, war Kirchenältester in seiner Ortsversammlung und seit 43 Jahren Zeuge Jehovas. Er trat im Dezember 2000 als vorsitzführender Aufseher zurück, um Opfer zu unterstützen und die Führung der Religionsgemeinschaft zu drängen, einfühlsamer auf Missbrauchsopfer zu reagieren und mutmaßliche Täter dem Justizsystem zu übergeben. Bowens „silentlambs“ ist eine landesweite Selbsthilfeorganisation für Männer und Frauen, die von Jehovas Zeugen missbraucht wurden. (www.silentlambs.org, 1-887 WTABUSE) Bowen sagte, man benutze den Gemeinschaftsentzug als geistige Keule, um die Opfer zum Schweigen zu bringen, wenn sie vergewaltigt wurden. Dann, Jahre später, wenn es aufgrund der Verdrängung zu geistigen und seelischen Verhaltensauffälligkeiten kommt, schließt die Kirche sie aus, um das Problem loszuwerden. Das Opfer kann nicht gewinnen und wartet wie ein schweigendes Lamm auf die Schlachtung durch Anordnungen der Kirche, wenn es Hilfe am meisten braucht. Er meint, dass Mitglieder anderer Glaubensgemeinschaften, die missbraucht wurden, bereitwilliger sind, die Stimme zu erheben und Anwälte aufzusuchen oder sich an die Polizei zu wenden.

Die Religionsgemeinschaft hat eine Million Mitglieder in den Vereinigten Staaten und sechs Millionen auf der ganzen Welt.

Quelle: silentlambs, 7.5.2002