Zwei Frauen aus dem mittleren Tennessee haben gesagt, sie verstünden völlig eine Frau aus Tullahoma, die behauptet, die Organisation der Zeugen Jehovas habe jahrelang sexuellen Kindesmissbrauch ignoriert oder heruntergespielt.
„Tatsächlich passierte nichts mit dem Mann, der mich belästigt hat“, sagte Melissa Trice, 30, aus Spring Hill über einen Vorfall, der sich nach ihren Worten vor 22 Jahren in Shelbyville ereignete. „Einer der Ältesten hat mich gefragt: ‘Welche Kleidung hast du getragen?’, als ob ich das provoziert hätte. Das werde ich nie vergessen. Verdammt nochmal, ich war doch erst acht Jahre alt.“ Die andere Frau, die darum bat, dass ihr Name nicht genannt wird, führte an, dass ein Teenager in ihrer Versammlung in Mitteltennessee sie wiederholt missbrauchte, und zwar von ihrem 7. bis zum 9. Lebensjahr. „Sie beteten mit ihm, aber er ging nicht weg“, sagte die 25-Jährige Frau, die in der Gegend von Nashville lebt. Die Frauen sahen sich veranlasst, ihre Erfahrungen zu enthüllen, nachdem sie in der Samstagsausgabe des Tennessean eine Geschichte über eine Frau in Tullahoma gelesen hatten, die vor dem Gemeinschaftsentzug stand, der Exkommunikation aus der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Diese Frau, Barbara Anderson, riskierte, geächtet zu werden, weil sie glaubte, die Organisation hätte wiederholt sexuellen Missbrauch von Kindern durch Mitglieder der Versammlung nicht zur Kenntnis genommen. Anderson war eine von vier Zeugen Jehovas, die ihre Geschichten in Dateline erzählten, der Nachrichtenshow der NBC, die die Religionsgemeinschaft über ein Jahr lang untersucht hatte. Ein Sprecher der Sendung sagte, der Film werdevoraussichtlich am 28. Mai ausgestrahlt. Zwei von den vier wurden letzte Woche ausgeschlossen, während Anderson noch auf eine Entscheidung wartete. Der vierte, ein Mann aus Kentucky, soll in ein paar Wochen mit den Ältesten seiner Versammlung zusammenkommen.
Die Frauen aus Mitteltennessee, die sagten, sie seien missbraucht worden, waren erleichtert, jemanden kennen zu lernen, der mit ihnen über das Thema redete. „Ich dachte: Endlich nimmt sich jemand der Sache an“, sagte Trice, die die Person, die sie missbraucht hatte, als Mitglied der Versammlung identifiziert hatte, zu der ihre Eltern gingen. Der Mann sei aber inzwischen schon tot. Der Mann habe an dem Tag, an dem er sie missbrauchte, zu Hause für ihren Vater Gelegenheitsarbeiten verrichtet. „Er schickte meine Schwester in den vorderen Raum und rief mich zu sich. Die Ältesten versuchten ihm das durchgehen zu lassen, weil er alt und senil sei, aber er hat mich bei meinem Namen gerufen. Ich glaube nicht, dass er senil war“, sagte sie.
Henry Carr aus Shelbyville, den Trice als einen der Ältesten in der Kirche zu der Zeit, als sie missbraucht wurde, nannte, wollte zu der Anschuldigung der Frau keinen Kommentar abgeben. „Ich kann dazu, glaube ich, nichts sagen. Ich möchte nicht in all das verwickelt werden“, sagte Carr in einem Telefoninterview. Nachdem sie missbraucht wurde, sagte Trice, lief sie in ihr Zimmer und wartete auf ihre Eltern. „Ich habe ihnen erzählt, dass er mich angefasst hat“, erinnerte sich Trice. „Sie gingen mit der Sache zu den Ältesten, weil man das als Zeuge Jehovas gewöhnlich tut.“ „Man hat mit niemandem außerhalb der Kirche Umgang“, meinte die andere Frau, die sagte, der Mann, der sie missbraucht hatte, sei auch straflos weggekommen, weil der jetzt 18 Jahre alte Fall nie den Strafverfolgungsbehörden gemeldet wurde.
Nach den Gesetzen des betreffenden Bundesstaates hätten die Fälle der Frauen angezeigt werden müssen. Seit 1972 fordere Tennessee, dass Kindesmissbrauch angezeigt werden muss, selbst wenn nur eine Vermutung vorliege und niemand direkt von einem Missbrauch wisse, sagte Carla Aaron, Sprecherin des Ministeriums für Jugend. Wenn Leute einen Missbrauch vermuten, aber nicht die Behörden darauf aufmerksam machen, können sie nach dem Gesetz bestraft werden, weil das ein Vergehen ist. Trice sagte, die Kirchenältesten hätten ihre Eltern angewiesen, Frieden in der Versammlung zu halten, indem sie den Täter zum Essen einladen sollten. „Können Sie sich vorstellen, was ich empfand, wie ich ihm im eigenen Haus am Tisch gegenüber saß?“ fragte Trice.
Die Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs in der Organisation der Zeugen Jehovas, die in den Vereinigten Staaten eine Million Mitglieder hat, folgen auf zahllose Presseberichte über Anklagen, dass pädophiles Verhalten von katholischen Priestern landesweit vertuscht werde. Vertreter im New Yorker Büro der Watchtower Bible and Tract Society, der Rechtskörperschaft der Zeugen Jehovas, bestreiten, dass die Organisation versuche, eine Strafverfolgung von Kinderschändern abzubiegen, so dass die Organisation nicht ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gerät. Ältesten, Eltern und Opfern werde nahegelegt, mutmaßlichen Missbrauch bei den Behörden anzuzeigen, so Kirchenvertreter und eigene Literatur. In einem Abschnitt der Website der Wachtturm-Gesellschaft behandeln ihre Funktionäre das Thema Kindesmissbrauch durch Erklärungen von Kirchenvertretern.
Trice und die ungenannt bleibende Frau sagten, sie litten noch heute darunter, dass sie sexuell missbraucht wurden. „Ich bin jetzt über zwanzig, und ich bin immer noch nicht über das Geschehene hinweg. Ich ängstige mich um meine Sicherheit und habe sehr wenig Selbstvertrauen. Es gibt eine Menge, das Kindern jahrelang zu schaffen machen kann“, sagte die Frau, die darum bat, anonym zu bleiben. Sie ist seit 1997 nicht mehr in eine Zusammenkunft der Zeugen Jehovas in den Königreichssaal gegangen, was, so sagte sie, zu einer Kluft zwischen ihr und ihren Eltern, die immer noch in der Organisation tätig sind, geführt habe. „Meine Eltern und ich reden nicht miteinander. Sie verstehen das nicht.“ Trice sagte, durch den Missbrauch sei sie „gründlich verwirrt“ worden. „Keiner hat mir erklärt, dass das, was passiert war, nicht mein Fehler war, und ich dachte, ich sollte auf sexuelle Weise reagieren, als der Mann Interesse an mir fand“, sagte sie. Ihre Promiskuität hatte dann dazu geführt, dass ihr im Teenageralter die Gemeinschaft entzogen wurde. „Es brauchte lange, bis ich verstand, dass ich nichts getan hatte, aber ich habe immer noch daran zu knabbern, und das ist schwer.“ Beide Frauen sind Mütter und sagten, sie hätten besondere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, um sicher zu stellen, dass ihre Kinder nicht sexuell missbraucht würden. „Das wird meinem Kind nicht passieren. Ich möchte nicht, dass das mit irgendjemandes Kind geschieht“, sagte Trice.
Quelle: The Tennesean, 16.5.2002