Von einem Patienten verklagt zu werden, weil man sein Leben gerettet hat, zählt auch in den prozessversessenen USA nicht zu den gewöhnlichen Kunstfehlerrisiken eines Arztes.

Aber Charlie Harvey (55) aus South Carolina glaubte, keine Wahl zu haben, als er 1997 aus der Narkose erwachte und zu seinem Entsetzen erfuhr, dass ihn sein Chirurg Glen Strickland während der Operation mit einer Bluttransfusion vor einem drohenden Herzinfarkt bewahrt hatte.

Strickland habe nicht nur seine schriftlich hinterlassenen Wünsche missachtet, warf der verzweifelte Patient in dem Prozess 1998 seinem Retter vor, sondern sich an seinem Glauben versündigt. Tagelang habe er bittere Tränen vergossen: Charlie Harvey (55) gehört zu den Zeugen Jehovahs, denen es von ihrem Schöpfer verboten ist, den Stoff des Lebens anderer Geschöpfe zu genießen - wie auch immer, essend, trinkend oder intravenös. Der Arzt habe sich an ihm der "medizinischen Körperverletzung" schuldig gemacht, sagte Harvey vor Gericht aus, und er habe sich zum Zensor seiner Religionsfreiheit aufgeschwungen. "Die Entscheidung stand ihm nicht zu. Diese Entscheidung gebührt Jehovah allein - ein Leben gehört ihm."

Glen Strickland verteidigte sich mit seinem hippokratischen Eid; darüber hinaus habe er die Mutter des ins Koma gefallenen Patienten um ihr Einverständnis für eine Bluttransfusion gebeten und sie erhalten. Er habe das Leben seines Patienten, der zuvor einen Schlaganfall erlitten hatte, retten müssen. Zu richten sei über seine Verletzung des Staatsgesetzes über das Verhältnis von Ärzten zu mündigen Patienten, "nicht über die theologische Schlüssigkeit der Haltung von Zeugen Jehovahs zu Blut". Harvey bestritt seiner Mutter das Recht, sich über sein schriftliches Verbot von Transfusionen hinwegzusetzen. Ein Bezirksgericht entschied im Jahr 2000 für Doktor Strickland. Der zum Leben gezwungene Patient gab nicht auf. Anfang April begann vor dem Obersten Gerichtshof von South Carolina die Berufungsverhandlung.

Es irrte, wer erwartet hatte, die US-Medien würden einigen Wirbel veranstalten, wie es die Regel ist in einer tiefgläubigen Republik, die von Religionsflüchtlingen gegen Fürsten, Papst und anmaßende Pfaffen gegründet wurde. Neben der jeden Tag wachsenden Sexaffäre um pädophile Priester und Amerikas Notwehrfeldzug gegen mörderische Islamisten mag die Klage Charlie Harveys, zum Überleben vergewaltigt worden zu sein, etwas frivol gewirkt haben. Zudem fallen sie, wie anderswo, kaum auf und niemandem zur Last, die knapp eine Million Zeugen Jehovahs in den USA, die schweigend ihren "Watchtower" feilbieten oder an der Haustür still ihrer Wege ziehen, wenn ihre Werbung für das Paradies nicht willkommen ist.

Das Verbot, Blut zu genießen, leiten sie von Gottes Geboten für Noah ab. Mehr als 400 Mal erwähne die Bibel das Blut von Mensch und Kreatur. Und trotz manchen Entgegenkommens - die Sekte lässt "Hemopure" zu, eine gereinigte Form von Kuhblut -, ist Sünde für sie "nicht verhandelbar. (...) Wer das Leben als Geschenk des Schöpfers versteht, wird nicht versuchen, Leben zu erhalten, indem er Blut zu sich nimmt." Diese Gewissheit begründen Amerikas Zeugen Jehovahs auf ihrer Web-Seite in halbwissenschaftlichen Abhandlungen ausführlich: Die Entdeckung des Blutkreislaufs durch William Harvey (vermutlich nicht verwandt mit dem Kläger) 1483 dient ihnen, Martin Luthers Warnung vor dem ganz besonderen Saft, das Trinken von Kinderblut des sterbenden Louis XI., ungezählte Bibelstellen. Auch eine deutsche Schrift namens "Herz Kreislauf" vom August 1987 argumentiert für sie. Das Patientenrecht auf Selbstbestimmung, heißt es da, habe Vorrang vor dem Prinzip der Lebenserhaltung.

Ob das in South Carolina gelten soll, werden die Obersten Richter entscheiden. Und es wäre, falls Charlie Harvey abermals unterliegt, kein Wunder, wenn der US Supreme Court über sein Recht zu verbluten befände. Ende März wurde der Fall eines 16-jährigen Mädchens im kanadischen Calgary bekannt, das als Zeugin Jehovahs die Behandlung ihrer Leukämie durch Blutpräparate verweigerte. Die Eltern kämpfen dafür, sie in die USA zu bringen, wo sie sich mehr Respekt für ihren Glauben erhoffen.

Quelle: Die Welt online, Autor: Uwe Schmitt