Von einer Organisation, die sich selbst als nichts Geringeres bezeichnet als "Gottes Organisation auf Erden" sollte man eigentlich erwarten, daß sie zumindest die elementarsten moralischen Grundwerte beherrscht.

Ganz besonders, da ihre Mitglieder voll davon überzeugt sind, "in der Wahrheit" zu sein und die einzige wahre Religion auf dieser Erde zu verkörpern. Seltsam nur, daß ihr Pressesprecher Wolfram Slupina offenbar keine Skrupel hat, in aller Öffentlichkeit zu lügen.

In der bundesweit verbreiteten Berliner Tageszeitung, besser bekannt als taz, konnte man am 1.November 1997 einen umfangreichen Artikel über die Zeugen Jehovas lesen. Er trug den Titel "Gottes eifrigste Kinder" und befasste sich im weitesten Sinne mit der um Anerkennung als Körperschaft des Öffentlichen Rechts kämpfenden Religionsgemeinschaft und enthielt auch ein Interview mit dem Pressesprecher der WTG, Wolfram Slupina.

Zur Frage, warum die Zeugen Jehovas den Zivildienst abgelehnt hätten, gab Slupina zur Antwort:

Weil er dem Verteidigungsministerium zugeordnet war. Jetzt untersteht er dem Familienministerium. Und ist dadurch kein Tabu mehr. Jeder Zeuge muss also selbst entscheiden."

Ein aufmerksamer Leser der taz, dessen Partnerin sich zu den Zeugen Jehovas zählt, stutzte bei dieser Aussage, denn ihm war bekannt, dass das Bundesamt für Zivildienst weder heute noch in der Vergangenheit dem Verteidigungsministerium unterstellt war. Eine Tatsache, die übrigens jeder Internet-Nutzer nachlesen kann, wenn er die Website der Behörde aufschlägt. Dort ist nämlich nachzulesen, dass das heutige Bundesamt für den Zivildienst bereits 1973 als Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung mit Sitz in Köln geschaffen wurde. Ab dem 1.10.1981 gehörte das Bundesamt für den Zivildienst in den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, seit 1990 durch eine neue Aufteilung zum Bundesministerium für Frauen und Jugend und seit 1994 zum Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.

Kein Wort vom Verteidigungsministerium.

Der betreffende taz-Leser konnte nicht so recht glauben, dass ein Vertreter dieser von ihrer eigenen Wahrhaftigkeit so überzeugten Glaubensgemeinschaft unverblümt lügen würde und rief am 31.3.1998 selbst in Selters an, um mit dem Interviewten persönlich zu sprechen. Slupinas Antwort war, er sei in dem betreffenden Interview falsch zitiert worden. Seine Antwort hätte sich ausschließlich auf die Wehrersatzdienste in Osteuropa bezogen. Hier, in Westdeutschland, sei die Ableistung des Zivildienstes jedoch reine Gewissenssache.

Ein weiteres Gespräch mit Uta Andresen, der TAZ-Redakteurin, die das Interview geführt hatte führte zu der Auskunft, das Interview sei wortwörtlich wiedergegeben worden. Herr Slupina hätte sogar den Text vorher zu lesen bekommen und selbst unterschrieben.

Mit anderen Worten, die WTG befindet sich in Erklärungsnotstand, was ihre Haltung zum Zivildienst angeht und sieht offensichtlich keinen anderen Ausweg, als sich durch bewusstes Verdrehen der Tatsachen aus der Affäre zu ziehen. Eine Taktik, die bei den meist gutgläubigen und wenig informierten Zeugen Jehovas funktionieren mag, die aber unter dem wachen Auge der Öffentlichkeit durchaus zum Fallstrick werden kann.

Es ist zu hoffen, dass auch immer mehr Zeugen Jehovas dahinter kommen, was für ein falsches Spiel jahrelang mit ihnen getrieben wurde. Jahrelang haben junge Zeugen Jehovas - in striktem Gehorsam zur geltenden Doktrin der WTG - nicht nur den Wehrdienst, sondern auch den Zivildienst abgelehnt. Viele von ihnen sind für diese Entscheidung sogar ins Gefängnis gegangen. Andere haben sich für lange Zeiträume für ein Minimalgehalt als Pfleger in einem Krankenhaus oder Altersheim verdungen, um auf diese Weise dem Problem Zivildienst zu entkommen. Und wer zu all dem nicht bereit war, wurde eiskalt aus der Gemeinschaft der angeblich einzig wahren Christen ausgeschlossen.

Die offizielle Aussage der WTG ist es, dies sei alles eine persönliche Gewissensentscheidung der Einzelnen gewesen. Doch jeder Zeuge Jehovas weiß sehr wohl, dass dem erst seit Mai 1996 so ist. In ihrer Pressemitteilung vom 13. März 1996 unter dem Titel "Zeugen Jehovas erklären ihr Verhältnis zum Staat" erklärte nämlich die WTG der desinteressierten Öffentlichkeit, dass man nach gründlichen Bibel-Recherchen zu der Erkenntnis gekommen sei, dass es eine Gewissensfrage des Einzelnen sei, ob er dem Staat durch Teilnahme am Zivildienst dienen möchte oder nicht. Der dazugehörende Wachtturm-Artikel geht nur mit einem einzigen Satz auf die Thematik ein und tut im übrigen so, als wäre das Thema Zivildienst schon immer eine Gewissensfrage gewesen.

Warum die WTG jahrelang so großen Wert darauf gelegt hat, die jungen Zeugen Jehovas vom Zivildienst abzuhalten, wird man wohl aus Brooklyn oder Selters nie erfahren. Aber vielleicht ist es aber ganz einfach so, wie es ein Ältester aus dem Raum Heidelberg ausdrückte. Auf die Frage, ob denn die vielen ausgeschlossenen Zeugen Jehovas jetzt rehabilitiert würden, antwortete er mit voller Überzeugung:

Ich werde auch heute keinen ehemaligen Zeugen Jehovas grüßen, der wegen der Zivildienstfrage ausgeschlossen wurde. Wichtig ist nicht, was heute ist. Wichtig ist allein, dass der Betreffende zum damaligen Zeitpunkt der Gesellschaft gegenüber ungehorsam war."

Vielleicht ist es wirklich nur eine Frage der Macht. Wer als junger Mensch blindgläubig das tut, was "die Gesellschaft" von ihm verlangt, der wird sich auch später noch für deren Interessen ausnutzen lassen.