Ein Artikel aus der österreichischen Zeitung Der Standard sorgte unter Zeugen Jehovas für beträchtlichen Wirbel. Hatte sich doch herausgestellt, daß ein gesuchter Serienmörder "in der Wahrheit" aufgewachsen war.

Doch offensichtlich hat der junge Mann in seiner Jugend nicht die vielgepriesene Liebe erfahren, von der unter Zeugen Jehovas immer die Rede ist. Stattdessen berichtete sein Verteidiger: "Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, er durfte als Kind nie seinen Geburtstag feiern, Weihnachten ist auch immer ausgefallen, geprügelt wurde er. Er weiß nicht, was Liebe ist". Das Ergebnis dieser Erziehung nach Wachtturm-Vorbild faßte der Staatsanwalt mit den Worten zusammen, der Angeklagte sei ein "sexueller Sadist".

Ein Mordprozeß ohne Emotionen

Wolfgang Ott referiert über seine Unschuld - "Ein Serienmörder", sagt Staatsanwalt

Kerstin Scheller

LEOBEN - Eine Kapuze stülpt er sich zwar nicht mehr wie bei seinem ersten Prozeß über den Kopf, doch mit der rechten Hand hält er einen aufgeklappten Ordner vor sein Gesicht, um es vor den Blitzlichtern der Pressefotografen zu schützen. Unter seinem linken Arm geklemmt hält Wolfgang Ott einen Pappkarton mit verschiedenen Ordnern, sie enthalten seine Lebensgeschichte. Diese erzählt er auch bereitwillig ohne irgendeine Regung dem Richter. Überhaupt wirkt alles sehr nüchtern im Schwurgerichtssaal A am Landesgericht Leoben. Und dabei wird doch über ein Kapitalverbrechen verhandelt: Mord, begangen im Juni 1995 an der damals 19jährigen Schülerin Karin Müller aus Bisamberg.

Warum darüber überhaupt verhandelt wird, erklärt der Staatsanwalt den Geschworenen: Sicherlich, der Filmemacher Ott sitze bereits seit vier Jahren im Gefängnis. Wegen Mordes an Sonja Svec und zwei Vergewaltigungen wurde er 1996 zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Auch wenn ein weiterer Schuldspruch das Strafmaß nicht hinaufsetze, könne er doch verhindern, daß Ott nach 15 Jahren bedingt entlassen werde. Denn für den Staatsanwalt ist der 42jährige nicht einfach ein Mörder, sondern ein Serienmörder.

Kühles Auftreten

Nicht einmal bei diesem Vorwurf ist irgendeine Regung bei Ott wahrnehmbar. Er sitzt aufrecht im Stuhl, seine Haare haben dasselbe Grau wie seine Hose und der Pulli, sein Auftreten ist kühl, besonnen. Ein "sexueller Sadist" soll er sein, sagt der Staatsanwalt. "Seine Eltern waren Zeugen Jehovas, er durfte als Kind nie seinen Geburtstag feiern, Weihnachten ist auch immer ausgefallen, geprügelt wurde er. Er weiß nicht, was Liebe ist", meint Verteidiger Karl Muzik; jedoch auch recht emotionslos. Der Rechtsanwalt rattert die Worte eher herunter, als daß er ihnen Gewicht verleiht, um nicht "auf die Tränendrüse zu drücken". Er hält seinen Mandanten auch für einen Mörder, doch den Mord an der 19jährigen Karin Müller habe er nicht begangen. Das müsse ein Trittbrettfahrer gewesen sein.

"Ich habe sicher keinen Kontakt zu einer jungen blonden Frau gehabt, ich habe sie bewußt niemals gesehen", wiederholt der Angeklagte vor Gericht. Mit dem gewaltsamen Tod der Maturantin will er nach wie vor nichts zu tun haben. Es stimme zwar, daß er zur selben Zeit, am 10. Juni 1995, wie die 19jährige Niederösterreicherin zum Paddeln im Ennstal, in der Gegend bei Palfau/Großraming, gewesen sei. Was er an jenem Tag gemacht habe, verdeutlicht er anhand eines Zeit-Wege-Diagramms, das er am Computer entworfen hat.

Mit einem Over-Head-Projektor wird die Graphik an die Wand im Gerichtssaal geworfen, Ott holt sich vom Vorsitzenden Richter den Laser-Pointer und erklärt, unsagbar lang. Das Szenario erinnert an einen Vortrag eines Sachverständigen. Wäre da nicht der Einwurf des Richters. "In 50 Minuten wollen Sie diese Strecke gepaddelt sein. Es gibt Zeugen, die zwei Stunden, zwanzig Minuten für dieselbe Strecke benötigten." Das erste Mal beginnt Ott zu stottern, "ich w... w... w... weiß nicht, wie ich es erklären soll".

Doch der Mann in Grau gewinnt schnell wieder seine Haltung. "Gehen wir mein Zeit-Wege-Diagramm noch einmal durch." Immer mehr gerät in Vergessenheit, daß hier über einen Mord "referiert" wird und Ott als geistig abnormer Rechtsbrecher in Kalau einsitzt.

Belastende Indizien

Die Indizien belasten Ott schwer. So wurden in seinem Auto blonde Haare gefunden, die mit 99,6prozentiger Sicherheit vom Opfer stammen. Die sterblichen Überreste von Karin Müller waren erst fast zwei Jahre nach ihrem Verschwinden entdeckt worden. Und zwar ganz in der Nähe, wo Ott seine Paddeltour unternommen hatte.

Heute, Dienstag, werden die Eltern von Karin in den Zeugenstand treten. Ein Urteil ist für Mittwoch geplant.

DER STANDARD, Dienstag, 23. Februar 1999, Seite 10