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"Was die anderen glauben" (Zeugen Jehovas)
Rund 300 Verkündiger bei Zeugen Jehovas in Neustadt und Haßloch - Aussteiger kritisieren Lehrautorität

Wer kennt sie nicht, die freundlichen, unauffällig gekleideten Frauen und Männer, die an der Haustür zum Bibelstudium einladen oder in der Fußgängerzone ihre Zeitschriften anbieten? Durchschnittlich 17 Stunden in der Woche wendet ein Zeuge Jehovas für seine religiöse Tätigkeit auf: in Zusammenkünften, Studien und im sogenannten Felddienst an Türen und auf der Straße. Im Mittelpunkt steht dabei immer die Verkündigung des Königreiches Gottes.

Die Gründung dieser christlichen Religionsgemeinschaft geht auf den Pittsburgher Kaufmannssohn Charles T. Russell zurück, der 1874 verbreitete, Christus sei in diesem Jahr unsichtbar auf die Erde zurückgekommen und werde 1914 das Königreich Gottes errichten. 1931 begann Russels Nachfolger Joseph F. Rutherford, die Gemeinschaft und die dazugehörige "Wachturm Bibel und Traktat-Gesellschaft" in eine hierarchisch-zentralistische Organisation umzuwandeln. Seitdem gibt es eine "Leitende Körperschaft", die über die weltweite Einheit der Lehre wacht.

Diese durch einen Bibelfundamentalismus geprägte Lehre enthält unter anderem die Aussagen, dass der Eigenname Gottes Jehova sei und Jesus alle Menschen aufgefordert habe, Zeuge dieses Namens zu sein, dass Jesus nicht am Kreuz,sondern am Pfahl starb und dass die Bibel irrtumslos, unfehlbar und wissenschaftlich korrekt sei. Zeugen Jehovas lehnen die Lehre von der göttlichen Dreieinigkeit, den Genuss von Blut (auch Bluttransfusionen) und Feste wie Ostern und Weihnachten als heidnisch ab. Das Abendmahl als Gedächtnis wird einmal im Jahr gefeiert. Im Zentrum des Glaubens steht die Endzeiterwartung. Da diese seit Gründung der Gemeinschaft wiederholt enttäuscht wurde, glauben die Zeugen Jehovas nun, dass Jesus seit 1914 seine Herrschaft im Himmel angetreten hat und in naher Zukunft in der "Schlacht von Harmagedon" alles Böse von dieser Welt tilgen werde.

Weltweit bekennen sich etwa sechs Millionen, in Deutschland rund 170.000 Menschen zu diesem Glauben. In Neustadt gibt es Zeugen Jehovas seit 1923, in Haßloch etablierten sie sich Ende der 40-er Jahre. Den Königreichssaal in der Rathausstraße teilen sich zwei Neustadter Ortsversammlungen mit insgesamt 200 "Verkündigern", in Haßloch sind es 95. Pressereferent Walter Zech und Hermann Blank, Sekretär der Neustadter Versammlung Nord, betonen, dass es sich bei ihren Brüdern und Schwestern um "brave Steuerzahler handele, die aber kein Teil dieser Welt sein wollen", sich deshalb nicht an politischen Wahlen beteiligen, den Wehrdienst verweigern und keinen Kontakt zu anderen Konfessionen halten. Den Absolutheitsanspruch ihrer Religionsgemeinschaft bestreiten sie nicht. "Wenn wir den nicht hätten, wären wir nicht so aktiv in der Verkündigung", sagt Zech.

Für ihn und die anderen Zeugen "gelten die strikten sittlichen Maßstäbe der Bibel", zum Beispiel kein Tabak, wenig Alkohol, eine strenge Sexualmoral. Und natürlich das intensive Studium des "Wachturms", eine der beiden Zeitschriften, die die deutsche Wachturmgesellschaft herausgibt. "Das Ewige Leben erfordert eben hartes Training", meint Zech. Wenn Verstöße gegen die Glaubens- und Lebensregeln bekannt werden, so erklärt Hermann Blank, müsse man ins Gespräch gehen und nötigenfalls einen Gemeinschaftsausschluss vollziehen. Mit Menschen, die freiwillig die Gemeinschaft verlassen oder ausgeschlossen werden, so Blank, dürften die Zeugen Jehovas wenig oder gar keinen Kontakt mehr pflegen. "Aber wir lassen auch niemanden einfach so gehen", ergänzt Zech. "Wir suchen das Gespräch und kämpfen um ihn." Die Religionsgemeinschaft ist immer noch als Verein organisiert, denn das Bundesverwaltungsgericht hat 1997 in einem Urteil deren Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts abgelehnt. Ausschlaggebend war dafür die Weigerung der Zeugen, an politischen Wahlen teilzunehmen, was im Widerspruch zum Demokratieprinzip stehe.

Aussteiger aus der Gemeinschaft haben noch viele andere Kritikpunkte anzubringen. Im Internet finden sich dazu zahllose Seiten, so zum Beispiel im Infodienst des Netzwerks ehemaliger Zeugen Jehovas in Deutschland (www.xzj-infolink.de). Von Überwachungsdruck und sozialer Ausgrenzung über Angstmacherei und körperliche Züchtigung von Kindern bis hin zu einem dubiosen Finanzsystem reichen die Vorwürfe.

Karl-Heinrich Geis aus Ludwigshafen sieht im "Machtmissbrauch der Leitenden Körperschaft" den eigentlichen Knackpunkt. Er selbst gehörte 43 Jahre zu den Zeugen Jehovas, bevor er wegen kritischer Äußerungen ausgeschlossen wurde. "Die Zeugen sind eigentlich aufrichtige Menschen, die ihre Zeit und manchmal auch Gesundheit für die Wachturmgesellschaft opfern, durch Ängste und Schuldgefühle und nicht zuletzt durch wechselnde Vorhersagen über die Endzeit bei der Stange gehalten werden", sagt er.

Ihn schmerzt es besonders, dass so viele Menschen wegen der Tranfusionsverweigerung sterben oder in Ländern wie Frankreich wegen Wehrdienst- und Zivildienstverweigerung ins Gefängnis gehen mussten. Unnötigerweise, wie er findet, denn seit 1996 sei den Zeugen der Ersatzdienst erlaubt. "Doch die Leitende Körperschaft hat sich nie für diese Irrlehre bei den Betroffenen entschuldigt".(ww)

Quelle: Rheinpfalz, April 2000