Der Hintergrund: Wie staatsloyal müssen die Zeugen Jehovas sein?

Umstrittene Glaubensgemeinschaft klagt Körperschaftsrechte ein - Gestern Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht

Die Zeugen Jehovas haben mit ihrem Kampf um die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts dem Bundesverfassungsgericht ein Grundsatzverfahren zum Verhältnis zwischen Staat und Kirche beschert. Darf der Staat mit seiner Neutralitätspflicht gegenüber Glaubensinhalten eine Religion "bewerten", wenn er ihr gewisse Privilegien verleiht?

"Wir betreten verfassungsrechtliches Neuland", sagte Verfassungsrichter Winfried Hassemer als Berichterstatter gestern bei der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe. Der Spruch des Zweiten Senats, mit dem erst gegen Jahresende gerechnet wird, könnte auch islamische Gruppen interessieren.

Der Frankfurter Juraprofessor Hermann Weber machte gestern als Bevollmächtigter der Zeugen Jehovas klar, wie weit sich nach seiner Auffassung der Staat zurückhalten muss: "Die Religionsfreiheit schützt auch Fundamentalisten." Weber, selbst übrigens kein Mitglied der "Zeugen", sieht den Staat quasi in der Pflicht, Religionsgemeinschaften den Körperschaftsstatus zu verleihen. Aus seiner "Grundrechtsvorsorge" heraus müsse er den Zeugen Jehovas den gleichen Status verleihen, den neben den beiden großen Kirchen beispielsweise auch die Baptisten, die Mormonen und die Sieben-Tage-Adventisten genießen.

Als Körperschaften können Religionsgemeinschaften unter anderem Kirchensteuern einziehen, Stiftungen gründen und im sozialen Bereich als freie Träger auftreten (wir berichteten gestern). Diese Rechte hatte der Senat von Berlin und später auch das Bundesverwaltungsgericht in Berlin den "Zeugen" versagt. Das Gericht hatte dabei eine Hürde eingeführt, die im Grundgesetz nicht zu finden ist: Es forderte von den Zeugen Jehovas "Staatsloyalität". Wer solches verlange, der führe über die Hintertür die Staatskirche in Deutschland ein, kritisierte Hermann Weber.

Muss der Staat aber eine Gemeinschaft privilegieren, die ihn für ein Werkzeug des Satans hält und ihren Mitgliedern verbietet, zur Wahl zu gehen?, fragte dagegen Rechtsanwalt Stephan Südhoff als Vertreter des Senats von Berlin. Was wäre denn, wenn sich den Zeugen Jehovas die Mehrheit der Bürger anschlösse: Massenhafte Wahlenthaltung könnte dann den Staat zerstören. Für die Körperschaftsrechte dürfe der Staat mehr als bloße Rechtstreue verlangen, so Südhoff. Es gehe hier ja nicht um ein Akzeptieren und Gewähren lassen, "es geht um Privilegierung."

Auf Fragen vom Richtertisch gaben sich die Zeugen Jehovas demokratiefreundlich. Die Gemeinschaft achte das Ergebnis demokratischer Wahlen, erklärte ihr Justiziar Gajus Glockentin. Seit einigen Jahren stelle sie ihren Mitgliedern sogar frei, Zivildienst abzuleisten. Glockentin wies auch den Vorwurf zurück, die "Zeugen" setzten Mitglieder unter Druck. Dass Taufe bei ihr erst im Erwachsenenalter möglich sei, zeige, wie sehr die Gemeinschaft die freie Entscheidung des Einzelnen respektiere.

Rechtsanwalt Südhoff zeichnete von den Zeugen Jehovas ein gänzlich anderes Bild. In ihren Schriften, so warnte er, erlaubten sie ein Verschweigen von bestimmten Sachverhalten gegenüber der Außenwelt als "theokratische Kriegslist".

Kerstin Witte-Petit, Quelle: Rheinpfalz Online, 21.09.2000