Sie glauben an den Weltuntergang und den nahen Sturz nationaler Regierungen, hoffen aber trotzdem auf staatliche Privilegien. Die Zeugen Jehovas kämpfen um den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts. Gestern wurde vor dem Verfassungsgericht verhandelt.

Von Michael Trauthig
KARLSRUHE. - Zum ersten Mal in der Geschichte will eine Religionsgemeinschaft in Karlsruhe den Körperschaftsstatus erstreiten. Doch nicht nur deshalb staunten erfahrene Prozessbeobachter. Ein vergleichbares Vorgehen habe man noch nie erlebt, hieß es. Zwei dicke Bände - zusammen etwa 1000 Seiten stark - haben die Zeugen Jehovas an die Medien verschickt. Darin wird das Verfahren dokumentiert. Auch die Positionen der Gegner werden wiedergegeben.

Die Religionsgemeinschaft, die ihren Anhängern eine rigide Moral predigt, demonstriert Selbstbewusstsein. Und sie widerlegt das Vorurteil, ihre Mitglieder seien rückständig. Die PR-Arbeit ist vielmehr so ausgefeilt wie bei einem straff geführten Konzern. Der Aufwand könnte sich lohnen. Denn der Körperschaftsstatus, um den die in Deutschland etwa 170.000 Anhänger zählende Gemeinschaft kämpft, beschert zahlreiche Privilegien. Die Zeugen könnten Kirchensteuern erheben und vom Staat eintreiben lassen, dürften in den Rundfunkräten mitwirken, Beamte beschäftigen und Stiftungen errichten. Auch als Träger der freien Jugendarbeit kämen sie in Frage. Zudem winkt die Befreiung von Körperschafts-, Vermögens- und Grundsteuer. Schon mehrfach hatte die Gemeinschaft auf dem Weg zu den Privilegien Erfolg. 1990 - kurz vor der Wiedervereinigung - wurde die von der Brooklyner Zentrale gelenkte Organisation von der DDR staatlich anerkannt. Im selben Jahr sollte dies der Berliner Senat bestätigen. Der weigerte sich, und der Streit landete vor Gericht. Zweimal siegten die Zeugen Jehovas. 1997 aber schmetterte das Bundesverwaltungsgericht ihr Anliegen ab. Begründung: weil Jehovas Jünger den Wehrdienst ablehnten und ihren Mitgliedern untersagten, wählen zu gehen, versagten sie dem Staat die Treue. Dagegen hat die Gemeinschaft vor dem Verfassungsgericht Beschwerde erhoben.

Tatsächlich - das wurde gestern deutlich - haben sich die Verwaltungsrichter auf juristisch dünnes Eis begeben. Denn das Grundgesetz, das sich in diesem Bereich auf die Weimarer Reichsverfassung stützt, hängt die Latte für die Verleihung des Körperschaftsstatus tief: Entsprechende Organisationen müssen lediglich die Gewähr der Dauer bieten. Die Zeugen - weltweit sind es etwa fünf Millionen - haben längst bewiesen, dass sie keine vorübergehende Erscheinung sind. Seit mehr als 100 Jahren missionieren sie in Deutschland.

Diese Hürde nimmt die Gemeinschaft daher ebenso locker wie Baptisten, Mormonen oder die Neuapostolische Kirche - auch Körperschaften des öffentlichen Rechts. Daneben allerdings wird die Voraussetzung der "Rechtstreue" verlangt. Darum wurde gestern in Karlsruhe gestritten. Kann, so die entscheidende Frage, eine Gemeinschaft, die jeden Staat offenbar als Produkt satanischen Wirkens betrachtet, von diesem Staat Privilegien verlangen? Der Vertreter des Landes Berlin nahm die Gemeinschaft mit den Argumenten der Sektenexperten unter Beschuss: Das Wahlverbot stelle die Zeugen in Gegensatz zur demokratischen Grundordnung. Der geforderte Verzicht auf Bluttransfusionen mache eine lebensverachtende Maxime zum Grundsatz, weil der Tod von Unfallopfern in Kauf genommen werde. Auch sei Gewalt in der Erziehung für die Gemeinschaft ein probates Mittel und werde etwa in der Broschüre "Stock und Rute" gepredigt.

Der juristische Vertreter der Religionsgemeinschaft hielt dem entgegen, über die Lehrinhalte dürfe sich der Staat - wie bei den großen Kirchen - kein Urteil anmaßen. Ein Zeuge Jehovas wehrte sich mit Bibelzitaten, die von der ,,Wachtturm-Bibel- und Traktatgesellschaft'' fundamentalistisch ausgelegt werden: Der Blutgenuss werde in der Heiligen Schrift eben verboten. Wählen zu gehen verletze die von der Bibel verlangte politische Neutralität. "Römer 13 aber fordert von uns, jedes Ergebnis einer Wahl anzuerkennen", so Gajus Glockentin. Gewalt in der Erziehung sei verpönt, ein "Klaps" aber denkbar. "Spar die Rute nicht", besage die Bibel.

Zweieinhalb Stunden fragten die Richter nach. Leicht machen sie sich die Entscheidung also nicht. "Wir stoßen mit dieser Frage ins Herz des Staatskirchenrechts vor", so Richter Winfried Hassemer. Wie eng das Verhältnis von Staat und Kirche sein müsse, darüber habe man nun zu befinden. Das Urteil wird Ende des Jahres erwartet.

Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 21.09.2000