Eine unscheinbare Meldung, die nur wenig von dem tragischen Schicksal erahnen lässt, das sich dahinter verbirgt:
Vermisster Mann tot aus Zürichsee geborgen
Taucher des Seerettungsdiensts haben am Donnerstagabend im Zürichsee bei Zollikon eine männliche Leiche entdeckt, die dann am Freitagmorgen von der kantonalen Seepolizei geborgen wurde.
Gemäss Angaben der Stadtpolizei handelt es sich beim Toten um den 40-jährigen Roger Quillet, der seit dem 15. November in Zürich als vermisst galt (NZZ 18. 11. 00). Wie Stadtpolizeisprecher Hans-Peter Fäh auf Anfrage erklärte, ist der Tod des Mannes nicht auf ein Gewaltverbrechen zurückzuführen.
Roger Quillet war Zeuge Jehovas. Zumindest bis zum Jahre 1998. Denn damals schaltete er seinen Computer an, loggte sich ins Internet ein und machte sich unter dem Suchbegriff "Zeugen Jehovas" auf die Reise durch den Cyberspace. Was er dort fand, sollte sein Leben verändern. Bei InfoLink stieß er auf Informationen über "Jehovas Organisation", die ihn zum Nachdenken brachten. Und auf der Website der Zeugen Jehovas für eine Reform in der Blutfrage fand er Denkanstöße, die eine Fülle von Zweifeln und Fragen in ihm auslösten.
Doch damals bewegte sich das Leben und Denken Rogers noch in den von der Sekte vorgegebenen Bahnen. Und so schrieb er an das Thuner Zeigbüro und bat um Aufklärung über einige Sachverhalte, auf die er bei seiner Internet-Recherche gestoßen war. Das Ergebnis war eine Demonstration der Macht, wie sie jedem Zeugen Jehovas bevorsteht, der sich erdreistet, die Lehren des "treuen und verständigen Sklaven" in Zweifel zu ziehen. In seiner ersten eMail am 13.11.1998 schrieb Roger an InfoLink:
Mein Name ist Roger Quillet, ich bin ein seit zwei Jahren 'untätiger' Zeuge Jehovas. Im September 98 habe ich einen längeren Brief an das WT-Zweigbüro in Thun gesandt, in dem ich meine Bedenken zu einigen Lehrpunkten (u.a. Blutfrage und Zivildienst) darlegte. Im Anschluss daran hat man zwecks Klärung meiner Fragen ein Treffen mit dem Bezirksaufseher Alfred Altwein, dem Kreisaufseher Franco Quilici und einem Aeltesten der Versammlung Zürich-Oerlikon arrangiert.
Bei dieser Zusammenkunft hat man mich in Kenntnis gesetzt, dass der Kopf und Initiator (Liberal Elder ?)der WebSite 'New Light on Blood' in Amerika ausgeschlossen sei und nun als Abtrünniger gelte. Die geschätzte Zahl von tausend toten Zeugen pro Jahr sei unwahr und deshalb sei das Ganze unseriös.
Bei diesem Gespräch hat man mir vorgeworfen, Spaltungen laut Römer 16:17 verursacht zu haben (ich habe den Brief auch an drei Versammlungen gesandt und mit Einzelnen darüber diskutiert). Am 28.11.98 findet eine Rechtskomitee-Verhandlung statt, an der ich aller Wahrscheinlichkeit nach ausgeschlossen werde.
Das Paradoxe an der ganzen Sache ist, dass man an dieser Verhandlung nicht über den Inhalt meines Briefes diskutieren will, sondern über mein Vorgehen, das die Einheit der Versammlung unterwandere und den Glauben der einzelnen Glieder schwäche.
Sein Ausschluss wird dem langjährigen Ältesten, der sich viele Jahre Jahre aktiv in der Kongressarbeit für die Wachtturm-Gesellschaft aufgeopfert hatte, mit dürren Worten am Telefon mitgeteilt. Für die Zeugen Jehovas zählte er nun nicht mehr. Er war ein Abtrünniger. Und noch dazu einer, der sich nicht still und leise zurückzog, wie es der Wachtturm-Gesellschaft am liebsten ist, sondern die Öffentlichkeit auf diese Religion aufmerksam machte, die für ihn einst nichts Geringeres als die "Wahrheit" war und die keine Skrupel dabei empfand, ihn eiskalt abzuservieren, nachdem er Zweifel an der Absolutheit ihrer Lehren geäußert hatte.
Im Februar 2000 entschloss sich Roger Quillet, über seine Erfahrungen mit den Zeugen Jehovas an die Öffentlichkeit zu gehen. Er richtete eine Beratungsstelle zur Aufklärung über die Zeugen Jehovas ein und nahm Kontakt mit den Medien auf. Außerdem setzte er seine eigene Website ins Netz, die unter dem Motto stand "Willkommen im Leben" und sich an alle "ehemaligen Zeugen Jehovas und Ausstiegswillige" richtete, "die ihre religiöse Vergangenheit durch sachlich-transparente und differenzierte Informationen aufarbeiten möchten, um im Leben wieder den Tritt und die nötige Freude zu finden."
Am 24.03.2000 schrieb Roger Quillet an InfoLink:
Unsere kostenlose Beratungsstelle läuft für CH-Verhältnisse erstaunlich gut (jeden Tag zwei drei Anfragen, Dauer der Gespräche 15-30 Minuten). FACTS (Schweizer SPIEGEL) möchte einen Artikel schreiben. Das Schweizer Fernsehen (Sendung RUNDSCHAU) hat mich gebeten, 'Ehemalige' zu suchen, die bereit wären, im Fernsehen von ihren Erfahrungen zu erzählen.
Am 11.05.2000 erschien in der Schweizer Zeitschrift Facts ein Bericht unter dem Titel "Gefallener Engel", der das Leben des Zeugen-Jehovas-Aussteigers Roger Quillet schilderte und die Gründe für seinen Ausstieg bei den Zeugen Jehovas erläuterte.
Danach wurde es still um Roger Quillet. Die eMails besorgter Freunde aus der Aussteiger-Szene blieben unbeantwortet. Bis Ende November 2000 eine Meldung in der lokalen Presse erschien, nach der ein gewisser Roger Quillet seit längerer Zeit vermisst wurde. Und bis man schließlich am 2. Dezember 2000 seine Leiche im Züricher See entdeckte.
Mit Roger Quillet hat sich ein weiterer Zeuge Jehovas das Leben genommen, der von seiner Religion tief enttäuscht wurde und offensichtlich in seinem neuen Leben nicht den Halt fand, den er für einen Neuanfang brauchte. Roger Quillet lässt eine völlig ratlose Frau und eine Tochter zurück. Ihr Leid und sein Tod geht auf das Konto einer Sekte, die an den Türen eine scheinheilige Botschaft der Liebe predigt, in Wirklichkeit aber alle "Weltmenschen" verachtet und Kritiker aus den eigenen Reihen mit einem abgrundtiefem Hass begegnet. Denn wie heißt es doch im Wachtturm vom 1. Oktober 1993:
Die Abtrünnigen... muss ein Christ ... als solche hassen. Wahre Christen... empfinden Ekel gegenüber denjenigen, die sich zu Gottes Feinden gemacht haben.
Quelle: Neue Züricher Zeitung vom 2. Dezember 2000