KARLSRUHE. (dpa) Die Zeugen Jehovas haben in Karlsruhe gewonnen - doch war dies ein halber Sieg, der sich am Ende sogar als Niederlage herausstellen könnte.
Denn mit den Vorwürfen, die Religionsgemeinschaft propagiere rigide Erziehungsmethoden und übe rigorosen Gruppenzwang aus, werden sich nun die Gerichte noch einmal beschäftigen müssen. Vom Spruch des Bundesverfassungsgerichts könnten aber andere profitieren: zum Beispiel die Moslems in Deutschland.
Der Zweite Senat hat mit seinem Grundsatzurteil aus der Feder des Verfassungsrichters Winfried Hassemer endlich die Trennung von Staat und Kirche vollzogen, die eigentlich schon seit 80 Jahren in der Verfassung steht. Denn das Staatskirchenrecht stammt noch aus der Weimarer Republik, einer Zeit, in der mehr als 95 Prozent der Bevölkerung den beiden großen Kirchen angehörten. Damals wurde die Staatskirche formal für beendet erklärt - faktisch blieb sie teilweise bestehen.
Doch angesichts vielfältigerer Formen der Religionsgemeinschaft war nun eine Neuformulierung der Kriterien überfällig, nach denen einer Gemeinschaft Zugang zum privilegierten Status einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" zu gewähren ist - der ja ein ganzes Bündel von Vergünstigungen wie das Recht zum Kirchensteuereinzug mit sich bringt.
Das Gericht erleichtert mit seinem Urteil den Eintritt ins Reich der Privilegierten. Eine Religionsgemeinschaft muss danach weder demokratisch organisiert sein, noch muss sie mit dem Staat zusammenarbeiten. Sie darf sich sogar von ihm abwenden, wie es die Zeugen Jehovas mit ihrer Wahlablehnung tun. Für sie ist der Staat "Bestandteil der Welt Satans". Der Staat wiederum ist zu religiöser Neutralität verpflichtet und darf Religionsgemeinschaften nicht nach ihrem Glauben, sondern nur nach ihrem Verhalten beurteilen.
Zugleich jedoch lassen die Richter keinen Zweifel daran, dass Recht und Gesetz auch für Religionsgemeinschaften gelten. Wer Rechtsstaat und Demokratie gefährdet, wer Gesundheit oder Menschenwürde seiner Mitglieder beeinträchtigt, darf nicht mit staatlicher Anerkennung rechnen.
Und um die Furcht vor fundamentalistischen Eiferern zu nehmen, die auch in Deutschland am liebsten einen islamistischen Gottesstaat errichten würden, fügt der Senat hinzu: Wer die Verwirklichung einer "theokratischen Herrschaftsordnung" anstrebt, verlässt den Boden der Verfassung. Dass sie die staatliche "Segnung" beanspruchen können, wollten die Karlsruher Richter ersichtlich ausschließen.
Nach der Karlsruher Entscheidung steht ganz oben auf der Tagesordnung das Thema Islam, mit gut drei Millionen Anhängern die größte nicht-christliche Glaubensgruppe in Deutschland. In Nordrhein- Westfalen wartet die Staatskanzlei bereits auf die Grundsätze aus Karlsruhe, denn dort haben der Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland, der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und die Föderation der Aleviten Gemeinden den begehrten Status beantragt.
Während der VIKZ zumindest bis vor kurzem als gemäßigt galt, gehört dem Islamrat die fundamentalistisch orientierte, 27.000 Mitglieder starke "Islamische Gemeinschaft Milli Görüs" an. Sollte sie am Ziel einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung festhalten, hätte sie nach dem Karlsruher Spruch keine Chance auf Anerkennung. Andere islamische Gemeinschaften scheiterten zum Teil, weil sie noch zu jung sind - die Behörden fordern ein mindestens 30-jähriges Bestehen.
Ob sich nun die Zeugen Jehovas den erhofften Status erkämpfen können, ist nach dem Karlsruher Spruch weiter offen. Der Erlanger Professor Christoph Link hatte ihnen schon 1997 in einem Gutachten vorgeworfen, ihre Mitglieder bei bestimmten Regelverstößen mit "Gemeinschaftsentzug" zu bestrafen. Dessen Folgen sie reichten von sozialer Isolation und totaler Kontaktsperre bis in die Familien hinein.
Quelle: Kölnische Rundschau, 20.12.2000