Vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts könnten auch Moslems profitieren

KARLSRUHE - Die Zeugen Jehovas haben in Karlsruhe gewonnen - doch war dies ein halber Sieg, der sich am Ende sogar als Niederlage herausstellen könnte.

Denn mit den Vorwürfen, die Religionsgemeinschaft propagiere rigide Erziehungsmethoden und übe rigorosen Gruppenzwang aus, werden sich die Gerichte noch einmal beschäftigen müssen. Vom Spruch des Bundesverfassungsgerichts könnten aber andere profitieren: etwa die Moslems in Deutschland.

Wann muss einer Gemeinschaft der Zugang zum privilegierten Status einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" gewährt werden - und damit der Zugang zu einem ganzen Bündel von Vergünstigungen wie dem Recht zum Kirchensteuereinzug? Der Zweite Senat legte nun fest, dass eine Religionsgemeinschaft weder demokratisch organisiert sein noch mit dem Staat zusammenarbeiten muss. Sie darf sich sogar von ihm abwenden, wie es die Zeugen Jehovas mit ihrer Wahlablehnung tun. Für sie ist der Staat "Bestandteil der Welt Satans". Der Staat wiederum ist zu religiöser Neutralität verpflichtet und darf Religionsgemeinschaften nur nach ihrem Verhalten beurteilen.

Zugleich jedoch lassen die Richter keinen Zweifel daran, dass Recht und Gesetz auch für Religionsgemeinschaften gelten. Wer Rechtsstaat und Demokratie gefährdet, wer Gesundheit oder Menschenwürde seiner Mitglieder beeinträchtigt, darf nicht mit staatlicher Anerkennung rechnen. Und um die Furcht vor fundamentalistischen Eiferern zu nehmen, die auch in Deutschland am liebsten einen islamistischen Gottesstaat errichten würden, fügt der Senat hinzu: Wer die Verwirklichung einer "theokratischen Herrschaftsordnung" anstrebt, verlässt den Boden der Verfassung. Dass sie die staatliche "Segnung" beanspruchen können, wollten die Richter ausschließen. Das Votum dürfte auch Muslime aufhorchen lassen, mit drei Millionen Anhängern die größte nicht-christliche Glaubensgruppe in Deutschland. Die Düsseldorfer Staatskanzlei wartet bereits auf die Grundsätze aus Karlsruhe, denn dort haben der Islamrat, der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) und die Föderation der Aleviten-Gemeinden den begehrten Status beantragt.

Während der VIKZ bis vor kurzem als gemäßigt galt, gehört dem Islamrat die fundamentalistisch orientierte, 27.000 Mitglieder starke Islamische Gemeinschaft Milli Görüs an. Sollte sie am Ziel einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung festhalten, hätte sie nach dem Karlsruher Spruch keine Chance auf Anerkennung. Andere islamische Gemeinschaften scheiterten, weil sie noch zu jung sind - die Behörden fordern ein mindestens 30-jähriges Bestehen.

Jehova-Jünger unter der Lupe

Die Zeugen Jehovas fühlen sich in der "Welt Satans" ganz wohl. Zwar hat die Glaubensgemeinschaft unter ihren Mitgliedern immer wieder Ängste geschürt, dass das Jüngste Gericht unmittelbar bevorstehe. Doch passiert ist nichts. Die Erde dreht sich allen Endzeitgerüchten zum Trotz weiter. Zwar verdammen die Zeugen diesen Staat, doch auf Privilegien wollen auch sie nicht verzichten.

In Karlsruhe haben sie nun einen Etappensieg errungen, der sich allerdings als Bumerang erweisen könnte. Das Urteil der Verfassungsrichter ist wegweisend: Erstmals hat das höchste deutsche Gericht Kriterien festgeschrieben, die eine Religionsgemeinschaft erfüllen muss, wenn sie vom Staat als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt werden will. Mangelnde Loyalität gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat jedenfalls ist nicht entscheidend. Dass die Richter damit die Religionsfreiheit und Toleranz besonders betonen, ist zu begrüßen. Noch entscheidender ist aber, dass das tatsächliche Verhalten der Gruppe gegenüber ihren Mitgliedern unter die Lupe genommen werden soll. In den Augen ihrer Kritiker sind die Zeugen Jehovas eine Sekte, die austrittswillige Anhänger drangsaliert, Mitglieder psychisch abhängig macht und die Gesundheit von Kindern durch körperliche Züchtigung gefährdet.

Jehovas Zeugen als Körperschaft anzuerkennen hieße auch, sie mit den großen Kirchen gleichzustellen. Zwar sind auch Christen nicht vor Fehlentwicklungen gefeit, doch ist das kirchliche Selbstverständnis ein völlig anderes: Das Christentum will die Menschen zu mündigen Staatsbürgern erziehen und nicht zu verängstigten Subjekten, die voller Angst dem Endgericht entgegenharren.

Quelle: Sindelfinger/Böblinger Zeitung, Autor: Markus Brauer, Wolfgang Janisch