Karlsruher Grundsatzurteil zum Verhältnis von Religionsgruppen und Staat
KARLSRUHE (kwi). Die Chancen der Zeugen Jehovas, einen Status wie Kirchen zu erlangen, sind gestiegen: Vor dem Bundesverfassungsgericht haben sie gestern einen Etappensieg errungen.

Die Verfassungsrichter legten dabei erstmals Maßstäbe für die Anerkennung von Religionsgemeinschaften als Körperschaften öffentlichen Rechts fest, die auch beispielsweise für islamische Gruppen gelten.

Den ersehnten Status haben die Zeugen Jehovas jedoch noch nicht in der Tasche. Das Verfassungsgericht hat lediglich ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1997 aufgehoben, den Fall zur nochmaligen Prüfung jedoch dorthin zurückverwiesen. Laut Verfassungsgericht bietet die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas die "Gewähr der Dauer", auch wenn sie den Weltuntergang voraussagt. Ein Hindernis für die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts sei auch nicht das religiöse Verbot für "Zeugen", an Wahlen teilzunehmen. Sogar die Glaubensaussage, dass jedes politische System und damit auch die deutsche Verfassungsordnung zur "Welt Satans" gehöre, sei allein kein Hindernis. Eine Religionsgemeinschaft dürfe nicht nach ihrem Glauben, sondern nach ihrem Verhalten beurteilt werden. Die Verfassung fordere von religiösen Körperschaften keine "Staatsloyalität".

Allerdings müssen nach dem Richterspruch aus Karlsruhe die Fachgerichte künftig prüfen, ob Religionsgruppen sich rechtstreu verhalten, die Religionsfreiheit Einzelner nicht verletzen und vor allem die Grundrechte Dritter achten. Im Fall der Zeugen Jehovas werden sich die Gerichte mit deren Befürwortung der Prügelstrafe, mit der Ablehnung von Bluttransfusionen und mit der sozialen Ächtung von Aussteigern zu beschäftigen haben.

Der Status als Körperschaft öffentlichen Rechts ist für Religionsgemeinschaften interessant, weil sie damit unter anderem befugt sind, Steuern zu erheben und Stiftungen zu bilden. (Aktenzeichen 2 BvR 1500/97)


Kommentar:

Kein Persilschein

Von Anne-Susann von Ehr - Die Zeugen Jehovas sind einen Schritt weitergekommen, um als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden. Die Karlsruher Richter hoben das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts auf, das den Bibelforschern wegen mangelnder "Staatsloyalität" den Status einer "Körperschaft des öffentlichen Rechts" versagt hatte.

Allerdings wurde mit dieser Entscheidung den Zeugen kein Persilschein ausgestellt. Um an den Privilegien des von ihnen als "Welt des Satans" verteufelten Staates zu partizipieren, müssen sie sich einem Grundrechte-Check unterziehen. Denn die staatliche Anerkennung wird jenen verweigert, die Rechtsstaat und Demokratie gefährden - sie wird aber auch Vereinigungen vorenthalten, die Gesundheit und Menschenwürde ihrer Mitglieder beeinträchtigen. Auf diese Feststellung legten die Richter wert. Und da liegt - nimmt man Sektenbeauftragte und Jehova-Aussteiger ernst - bei den Zeugen einiges im Argen.

Mit seinem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Trennung von Kirche und Staat, die seit 80 Jahren in der Verfassung steht, bekräftigt und das Recht auf Religionsfreiheit unterstrichen. Angesichts der vielfältigen Formen der Religionsgemeinschaften war eine Klärung überfällig, wie nahe religiöse Vereinigungen dem Staat sein müssen, um von ihm anerkannt zu werden. In den Startlöchern stehen islamische Glaubensgruppen. Doch fundamentalistischen Eiferern hat Karlsruhe einen Riegel vorgeschoben: Wer einen islamischen Gottesstaat anstrebt, verlässt den Boden der deutschen Verfassung. Hier Ängste zu schüren, ist also überflüssig.

Die Zeugen Jehovas haben ein Etappenziel erreicht. Nun folgt ein Grundrechte-Check. Hier liegt einiges im Argen.

Quelle: Rheinpfalz