Karl-Heinrich Geis war über 43 Jahre Mitglied der Zeugen Jehovas, bevor er vor zweieinhalb Jahren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde - mit allen Konsequenzen.

Er verlor sein gesamtes soziales Umfeld, fühlte sich "allein auf einem anderen Planeten". Der Grund: Er zweifelte die Endzeitprophezeiungen an und stellte fest, dass in der Leitenden Körperschaft in Brooklyn "falsche Propheten" am Werk sind.

Im Blickpunkt: Karlsruher Urteil zu Zeugen Jehovas:
"Falsche Propheten am Werk"
Ein Aussteiger sieht in den Zeugen Jehovas eine "gefährliche Sekte"

Charly Geis war über 43 Jahre Mitglied der Zeugen Jehovas, bevor er vor zweieinhalb Jahren aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurde - mit allen Konsequenzen. Er verlor sein gesamtes soziales Umfeld, fühlte sich "allein auf einem anderen Planeten". Der Grund: Er zweifelte die Endzeitprophezeiungen an und stellte fest, dass in der Leitenden Körperschaft in Brooklyn "falsche Propheten" am Werk sind.

Der 62-Jährige, der als 17-Jähriger, fasziniert von der Botschaft der Endzeitprophezeiung, sich den Zeugen Jehovas anschloss, arbeitete 25 Jahre als Vollzeit-Prediger im Kreisdienst. Als eine "Art Inspektor" besuchte er im In- und Ausland die Versammlungen, um nach dem Rechten zu sehen. Heute nach seinem Ausstieg will Geis, der in Ludwigshafen lebt, keine Abrechnung. "Es gab durchaus auch positive Erfahrungen." Trotzdem ist er davon überzeugt, dass "die Zeugen Jehovas eine der gefährlichsten Sekten sind, da man als Mitglied Gesundheit und Leben verlieren kann". Die Verantwortlichen sitzen für Geis in Amerika - die religiösen Führer, "die zwölf Männer, die sich als Kanal Gottes bezeichnen".

Als ein Beispiel führt er die Bluttransfusion an. Seit den 40er Jahren sei diese verboten. Bis 1978 mussten sogar Bluter auf das Injizieren von Gerinnungsmittel verzichten. Nach Protesten hätten sich die religiösen Führer eines Besseren besonnen und zunächst eine einmalige, danach eine unbegrenzte Behandlung gestattet. "Doch Kindern wird weiter in einer lebensbedrohlichen Situation ein halber Liter Blut verweigert. So entscheiden zwölf Männer über Leben und Tod."

Der Beteuerung, jeder könne sich selbst für oder gegen eine Transfusion entscheiden, ohne Folgen befürchten zu müssen, glaubt Geis nicht. "Wenn heute ein Zeuge eine Blutübertragung akzeptiert, wird er nicht ausgeschlossen. In der Sprache der Wachtturm-Gesellschaft heißt es jetzt: Er hat die Gemeinschaft verlassen." Die Folgen seien dieselben: Er ist isoliert und als Außenseiter abgestempelt. "Dieser Gemeinschaftsentzug ist ganz furchtbar."

Den Aussteiger packt die heilige Wut, wenn er daran denkt, wie viele junge Männer weltweit im Gefängnis landeten, nur weil die Führung in Brooklyn nicht nur den Militär-, sondern auch den Zivildienst ablehnte. Erst 1996 wurde im Wachtturm ein Papier veröffentlicht, das wegen einer fehlenden Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Abstimmung in der Leitenden Körperschaft 18 Jahre in einer Schreibtischschublade lag. Darin heißt es: Die Bibel verbiete den Zivil- oder Ersatzdienst nicht. "Keine Entschuldigung für die tausenden Männer, die jahrelang hinter Gitter saßen - für nichts."

Das Bestreben der Wachtturm-Gesellschaft, als Religionsgemeinschaft anerkannt zu werden, ist in Geis' Augen rein wirtschaftlich begründet. Dafür lasse die religiöse Führung auch Mitglieder ziehen, die sich nicht auf diese Art und Weise der "Welt des Satans" anbiedern wollten. Geis glaubt, dass die Sekte ihren Weg mit allen Mitteln verfolgt - auch mit Hilfe der "theokratischen Strategie". Dieser Ausdruck bedeute, dass "die Zeugen nicht verpflichtet sind, den Feinden des Königreiches Gottes die Wahrheit zu sagen".

Aus dem Glauben sollte der Staat sich heraushalten. Diesen Satz atmet das gestern ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts seine ganzen 49 Seiten lang. Bedeutung haben wird es nicht nur im aktuellen Versuch der Zeugen Jehovas, den mit zahlreichen Privilegien versehenen Status der Körperschaft öffentlichen Rechts zu erlangen, sondern auch dann, wenn Moslem-Gemeinschaften an diese Tür klopfen. Einige tun das schon: In Nordrhein-Westfalen haben der Verband der Islamischen Kulturzentren und die Förderation der Aleviten Gemeinden die Anerkennung als Körperschaft beantragt. Karlsruhe hat für all diese Fälle nun Regeln aufgestellt.

Regel Nummer 1: Es zählt nicht was die Gruppe glaubt, sondern wie sie sich verhält. Der Staat ist weltlich, und er hat nur nach weltlichen Kriterien zu handeln. Der Vorbehalt innerhalb einer Religion, dass im unausweichlichen Konfliktfall den Glaubensgeboten mehr zu gehorchen sei als den Geboten des Rechts, sei zum Beispiel Ausdruck der "für Religionen nicht untypischen Unbedingtheit ihrer Glaubenssätze", merken die Richter an; sie haben auch Verständnis dafür, dass eine Religion sich nicht anderen Religionen gegenüber "neutral" verhält, sondern missionieren will. Ähnliches könnte übrigens vielleicht auch ein gläubiger Katholik für sich unterschreiben - und trotzdem ein guter Demokrat sein.

Regel Nummer 2: Der Staat erkennt gern die Religionsfreiheit an - aber das müssen Religionsgruppen auch. Eine Gemeinschaft, die sich am liebsten selbst zur Staatskirche aufschwingen und andere Religionen behindern würde, kann keine Unterstützung des Staates erwarten. Damit errichten die Verfassungsrichter unter anderem eine Hürde gegen fundamentalistische Islamisten.

Regel Nummer 3: Die "fundamentalen Verfassungsprinzipien", nämlich die Grundrechte und die Prinzipien von Rechtsstaatund Demokratie, dürfen von der Religionsgemeinschaft nicht angetastet werden. Zwar verlangt das Verfassungsgericht von den Religionsgruppen selbst keinen demokratischen Aufbau (damit hätte ja auch die katholische Kirche ihre Probleme), es verlangt nicht einmal aktive Bejahung des Grundgesetzes - aber gegen die Demokratie und beispielsweise für einen islamischen Gottesstaat arbeiten darf die Gemeinschaft nicht.

Besonders heikel wird die Sache im Fall der Zeugen Jehovas bei den Grundrechten. Ist das Kindeswohl noch gewährleistet, wenn Bluttransfusionen versagt werden und das Erziehungsbuch "Stock und Rute" zu drastischer Erziehung rät? Haben Erwachsene noch ihre ganze grundrechtliche Freiheit, wenn sie bei der Zustimmung zu Transfusionen, beim Gang zur Wahl oder beim Austritt aus der Gemeinschaft mit weit gehender Isolation zu rechnen haben, die Aussteiger als "Psychoterror" qualifizieren? Dies werden die Fachgerichte jetzt zu prüfen haben und leicht wird das nicht werden. Denn was die Zeugen Jehovas selbst mit treuem Augenaufschlag über ihre Praktiken sagen und was ihre Kritiker berichten, scheint zwei ganz verschiedene Welten zu beschreiben.

Quelle: Rheinpfalz, 20.12.2000
Autor: Anne-Susann von Ehr, Kerstin Witte-Petit