Wenn man die Berichte von Sektenaussteigern vergleicht, merkt man sehr schnell, dass sie sich alle irgendwie gleichen. Und dass alle Sekten nach dem selben Strickmuster arbeiten. Eine Tatsache, die auch in einem Bericht in der norwegischen Zeitung Aftenposten zum Ausdruck kommt.

Von Gott zu Satan?

Aus "rechtgläubigen" Gemeinden auszubrechen ist kein Scherz. Glücklicherweise benützen die wenigsten in diesem Konflikt Sprengstoff.

LARS-LUDVIG RØED

Sie sind aus unserer Mitte gekommen, aber sie gehörten nicht zu uns; denn wenn sie zu uns gehört hätten, wären sie bei uns geblieben. (1 Joh 2, 19)

Es ist still, es ist früh am Samstagmorgen. Plötzlich ein gewaltiger Knall. Im alten Industriegebäude am Vaterlandsveien 33 in Slemmestad zerbersten die Fenster, zersplittern die Innenwände. In der Nachbarschaft erwachen die Leute, erschreckt und verwirrt. Im schläfrigen kleinen verbauten Viertel ist eine Bombe explodiert. Mindestens 15 Kilo Dynamit, was die Polizei "eine kräftige Ladung" nennt. Der Räumlichkeiten der Gemeinde "Sannhetens ord" sind zerstört. Zum ersten Mal wurde in Norwegen im Streit zwischen einer Gemeinde und ihren ehemaligen Mitgliedern Sprengstoff verwendet. Als der Rauch sich legt, sagen Leute, welche die Sektensituation in Norwegen kennen: Auf so etwas haben wir fast gewartet.

Das Sektenproblem ist viel umfangreicher, als jeder von uns ahnt. Zeitweise erhielt ich drei Telefonanrufe täglich von Menschen, die das Sektenmilieu verlassen wollten, von Menschen, die es bereits verlassen hatten, denen es aber schlecht ging, oder von verzweifelten Betroffenen, schreibt Arne Tord Sveinall, Leiter des Instituts für Seelsorge in Modum Bad, im Buch "Troende til litt av hvert" ("Glaubende an ein wenig von allem"). Herausgegeben drei Jahre vor dem Drama in Slemmestad.

Fünf Wochen nach der Explosion weint eine Frau still in ihrer Wohnung. Sie blickt über einen herbstlich schönen Oslofjord hinüber, während sie über das erzählt, was sie ihre zerstörten Jahre nennt. Die sechs Jahre bei "Sannhetens Ord". - Aber was für eine Erfahrung!

Sie lächelt schwach, trocknet vorsichtig die Tränen.

Das Schlimmste war die Kontrolle. Eine Superkontrolle. Die Leiterschaft wollte auch unser Privatleben lenken: Wer eine Ausbildung machen durfte, wie wir handeln sollten, mit wem wir Kontakt haben durften. Daß wir Familienmitglieder ausschließen mußten, die nicht rechtgläubig sind.

Daher hörte sie auf.

"Du wirst nie mehr einen glücklichen Tag erleben", sagte einer der Leiter zu mir, als ich austrat. Wir gehörten nicht mehr zu Gott, wir Ausgetretenen, wir befänden uns im Reiche Satans. Ich wurde der Feind der Gemeinde Nummer eins. Wären sie Christen, so hätten sie sich um uns gekümmert. Das hätte Jesus getan. Statt dessen bekamen wir einen Tritt in den Hintern.

Die etwas fünfzigjährige Frau hatte nichts mit der Bombe zu tun. - Aber etwas mußte wohl schließlich geschehen.

Sie kennt allzu gut die Verzweiflung, den Zorn. Die Verzweiflung über die Spaltung der Familie. (Zwei der Beschuldigten, ein ehemaliges Mitglied und deren Bruder, haben einen nahen Verwandten, der noch immer in der Gemeinde aktiv ist.)

Ich bin stark. Ich kann zwischen Gott und Nicht-Gott unterscheiden. Aber das erzeugt ja Wunden. Tiefe Wunden. Du verlierst dein ganzes Netzwerk. Sie hören auf zu grüßen. Von der Kanzel aus wir vor mir gewarnt: "Geht nicht zu ihr, sie hat eine schwarze Lunge". Du wirst zu einem Verräter. Und sehr einsam. Du vermißt die Gemeinschaft sehr. Daher denkst du darüber nach, welchen Preis du bezahlen mußt, auch wenn er der höchste ist.

Sie möchte anonym bleiben, sie muß ständig Rücksicht nehmen. Während der letzten Jahre hatte sie gesundheitliche Probleme, sie zweifelt nicht daran, daß ein Teil der Schuld daran an dem liegt, was sie durchmachte. - Es ist so, als ob man über einen Abgrund hinaus geschoben würde.

Mit ihren 103 registrierten Mitgliedern ist "Sannhetens Ord" eine kleine örtliche Gemeinde. Die Zeugen Jehovas sind groß und landesumfassend (und international). Aber die Beschreibung des Ausbrechens, der Verneinung, sind erstaunlich gleich.

Der Preis für den Ausstieg ist extrem hoch. Alle Freunde, vielleicht auch alle Verwandten verschwinden, sie brechen mir dir, verweigern sich dir.

Sagt Norman Hovland. 15 Jahre lang war er Mitglied der Zeugen Jehovas, heute beschreibt er sich als "ordentlicher frecher Atheist". In den letzten zehn Jahren hat er viel Zeit und Energie dafür aufgewendet, mit anderen ehemaligen Zeugen zu reden.

Sehr vielen geht es sehr schlecht. Wenn du dich jahrelang in einem System befindest, wo alles andere außerhalb schlecht und sündhaft ist, dann bist du wenig gerüstet, dich da draußen selbständig zu behaupten. Eine junge Ausbrecherin wußte nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie schlief mit allen Burschen - sie hatte ja im "Wachtturm" gelesen, daß dies draußen so üblich war. Für manche kann alles in Wanken geraten, alle Regeln und Codes. Einige benötigen Jahre, um ihr Leben neu zu ordnen, manchen gelingt dies vielleicht nie. Der Bedarf an Hilfe ist groß, sagt Hovland.

Trotz krasser Unterschiede zwischen den Gemeinden in der Lehre kann das Verhältnis zur Umwelt sehr ähnlich sein.

Wichtig ist die Meinung über die anderen, daß die Grenzen zwischen der Gemeinde und "denen da draußen" absolut sind. Einige Glaubensgemeinschaften kennen da keine Nuancen, die Welt ist nur schwarz/weiß: sie und wir, Satan und Gott. Die Mitglieder können außerhalb der Gemeinde nur ein sehr begrenztes Leben führen, sie werden zu ihren eigenen Gefangenenwächtern, meint Hovland.

An diesem Vormittag liegt Slemmestadt still und schläfrig in der Herbstsonne. Am Industriegebäude am Vaterlandsveien sind die leeren Fenster mit Plastikbahnen überklebt, von innen hörtman Hammerschläge, die Reparatur läuft. Und in der Polizeistation Røyken sind die Verhöre abgeschlossen. Drei der Verdächtigten riskieren Anklage für Mordbrand. Ein dramatisches Kapitel in der Geschichte norwegischen Christentums ist auf dem Weg in den Gerichtssaal. In Modum Bad, der norwegischen Behandlungsinstitution, die am meisten an der Ausbrecherthematik gearbeitet hat, möchte Institutsleiter Arne Tord Sveinall die aktuelle Angelegenheit nicht kommentieren. Aber in den letzten Jahren hat er mehrere hundert Gespräche mit Menschen geführt, die Sektenmilieus verlassen haben, manche von ihnen so erschöpft, daß sie psychische Probleme haben. - Einige schaffen es gut, andere benötigen jahrelang Hilfe. Je längere Zeit man im Sektenmilieu zugebracht hat, desto länger braucht man, bis man sich mental daraus verabschiedet, sagt Sveinall. Und spricht über Depressionen, Aggression und Trauer. Oft sieht er auch Selbstverachtung und Selbstvorwürfe, die Leute fühlen sich rundherum getäuscht und klagen sich selbst an, daß sie es nicht früher bemerkt haben. - Aussteiger haben auch Probleme, sich anderen mitzuteilen, und das ganze Dasein soll mit einer Energie wieder aufgebaut werden, die oft nicht vorhanden ist. Einsamkeit vereinigt sich mit Scham, man möchte nicht einsehen, daß man viele Jahre für etwas verwendet hat, was dessen nicht wert war, sagt Sveinall. Und weist darauf hin, daß es Zeit kosten kann, die Sprache und das Realitätsverständnis zu ändern. Einige finden die Situation so schwierig, daß sie sich dafür entscheiden, zumindest für einige Zeit zur Gemeinde zurückzukehren.

Im Buch "Ansatt av Gud. Et kritisk søkelys på Smiths Venner" ("Von Gott angestellt. Ein kritischer Blick auf die Smiths Freunde") (Genesis, 2002) verheimlicht der Verfasser Johan Velten nicht, daß er seine alten Freunde vermissen könnte.

"Gefühlsmäßig war es für mich und meine Frau sehr schwer. Wir, die wir so viele Freunde gehabt hatten, waren plötzlich ganz einsam (...) In einem Alter von 25 Jahren mußte ich vom Neuembeginnen, die elementarsten Codes für den Umgang mit gewöhnlichen Menschen zu lernen. Selbst so einfache Dinge, wie in ein Restaurant essen zu gehen, mußten wir lernen. Ich kämpfte damit und mit gefühlsmäßigen Problemen mehr als zehn Jahre lang."

Velten schreibt, daß "Perioden mit Anfechtungen, Angst und Schrecken das Normale sind, wenn man sich dazu entschließt, die Smiths Freunde zu verlassen." Die Gemeinde erneuert sich in ungewöhnlichem Maß selbst durch Kindergeburten, vermutlich sind drei Viertel der Mitglieder in der Versammlung aufgewachsen. Velten schätzt jedoch, daß knapp die Hälfte der Kinder, die in einer "Freundefamilie" aufwachsen, einen anderen Lebensweg wählen. Die Anzahl der Ausbrecher kann daher groß sein, d.h. mehrere Tausend. Was die Zeugen Jehovas betrifft, so meint Norman Hovland, daß es heute in Norwegen mehr ehemalige Zeugen als aktive Zeugen geben könnte. In diesem Fall könnte die Ausbrecherzahl allein dort mehr als 10.000 betragen. "Sannhetens Ord" hat heute etwas mehr als hundert Mitglieder. Die Anzahl der Aussteiger ist wahrscheinlich 15 - 20. Aber die Schätzungen sind allgemein unsicher, die Konflikte wenig sichtbar. Die (in Norwegen) kleine Scientology-Kirche ist unter den wenigen, deren Augenmerk auf die Ausbrecher gerichtet ist, die Gemeinde wurde verurteilt, beträchtliche Geldsummen an ehemalige Scientologen zurückzuzahlen. Ehemalige Mitglieder und Verwandte haben außerdem FRI, Foreningen Redd Individet (Vereinigung rette das Individuum) gegründet, um Menschen aus verschiedenen Sekten herauszuhelfen.

Als Aussteiger der "Kinder Gottes" aus so vielen Kindern und Jugendlichen bestanden, wurden 1999 die Kirchenbehörden alarmiert und Redd Barna (Rettet die Kinder) einbezogen. Redd Barna verwirklichte das "Go on"-Projekt mit dem Fokus auf Kinder in geschlossenen und fundamentalistischen Gemeinden. 150 Kinder waren mit "Go on" in Kontakt. - Wir wurden mit Problemen konfrontiert, die wir früher nicht gesehen oder verstanden hatten, sagt die Leiterin von Redd Barnas Rechtsabteilung Marianne Borgen. - Wir trafen auf Kinder, die in ständiger Angst vor dem jüngsten Gericht und dem Teufel lebten, Kinder mit wenigen oder keinen Kenntnissen über die Großgesellschaft, Kinder, die niemals eigene Entscheidungen treffen konnten oder eigene Meinungen haben durften, Kinder ohne Netzwerk außerhalb der Gemeinde, berichtet Borgen. "Go on" ist nun abgeschlossen, mündete aber in den Bericht "I god tro" ("In gutem Glauben"). Und Redd Barna hat den Ball an den Premierminister und an die Kinder- und Familienministerin Laila Dåvøy weitergegeben, mit der Herausforderung, wo die Grenzen für die Äußerungs-, Gedanken- und Glaubensfreiheit der Kinder liegen sollten. "Go on" ist vorläufig im Weltzusammenhang einzigartig, und der Nordische Ministerrat hat in einer Entschließung darum gebeten, daß die Mitgliedsländer mehr Kenntnisse und Forschung über das Thema beisteuern sollten.

Bei so vielen Ausbrechern oder Abtrünnigen gibt es auch Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu treffen, um mit ihnen zu reden.

Ob der Bedarf für Diskussion groß ist? Ja, der ist enorm, sagt Norman Hovland mit Nachdruck. - Ich selbst schrieb wie ein Verrückter, in alle Richtungen. Und ich glaube, meine offensive Rolle hat viel für andere bedeutet, ich habe unglaublich viele Rückmeldungen von anderen ehemaligen Zeugen bekommen, besonders aus dem Ausland. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, und ich habe Freunde fürs Leben bekommen.

In den Gegenden rings um Slemmestad haben Ausbrecher aus "Sannhetens Ord" aneinander Trost gefunden.

Die, welche ausgestiegen sind, hatten an uns große Freude. Wir werden "eine organisierte Gruppe" genannt, wir müssen fürchterlich gefährlich sein, ich begreife das nicht. Wir kümmern uns um einander. Wir müssen doch reden dürfen! Sprechen ist gesund, sagt die fünfzigjährige Frau. Die erlebt, daß die Kanäle zurück zur Gemeinde völlig abgebrochen sind - außer man kehrt bereuend und bedingungslos zurück.

Nein, die Zeugen wollen nicht diskutieren, sie haben wasserdichte Schotten. Die Struktur ist hierarchisch, kein Leiter möchte mit Abgefallenen diskutieren. Aber im Internet können wir anderen diskutieren, anonym, sagt Norman Hovland. Und weist auf eine Reihe internationaler Websites und Diskussionsgruppen hin, wo das Gespräch läuft.

Eine norwegische Website, www.forlosning.com (die sich auch Zeitschrift nennt) hat in großem Maß Benützer, die bei den Smiths Freunden beheimatet waren. Über sich selbst schreibt das Blatt, daß, es "auf respektvolle und sachliche Weise die Mißverständnisse klären möchte, von denen wir meinen, daß sie die Ansicht der Smiths Freunde über den allgemeinen christlichen Glauben prägen", außerdem "eine Hilfe für ehemalige Mitglieder zu sein, einen glaubensmäßigen Standpunkt und eine Versammlungszugehörigkeit in gesunden christlichen Zusammenhängen zu finden". Die Wörter "respektvoll" und "sachlich" haben auf die Leiter der (Smiths) Freunde keinen entscheidenden Eindruck gemacht, diese wünschen mit den Ausgetretenen keine Debatte.

Gibt es da so einen Haß? Einen Zustand, der mehr Bomben, mehr verzweifelte Handlungen, Rache bedeuten kann? Der Wunsch nach Rache in Form von Gewalt ist selten, lauten die Antworten. Auch wenn die Leute verzweifelt sind, sich der Freunde und vielleicht auch des Geldes beraubt fühlen (viele geben der Gemeinde große Summen). - Man kann wohl einen Haß gegen die Leiterschaft merken. Aber die Leute sind meist erschöpft, und es sind friedliche, gemütliche und ordentliche Menschen. Sie wollen eher anderen in der gleichen Situation helfen und die Leute daran hindern, dasselbe zu erleben, sagt Norman Hovland.

Was ist dann mit Gemeinden, die so starke Gefühle, so lebenslange Identifikation - und vielleicht so tiefe Traumata - erzeugen?

Es muß die Gemeinschaft unter den gewöhnlichen Frauen und Männern in der Bewegung sein, schreibt Johan Velten: - Warme, aufrichtige, inkludierende Menschen. Aber im gleichen Maß wie sie inkludierend waren, waren sie exkludierend, wenn man sich außerhalb des Kreises befand. Ich komme zu dem Schluß, daß es vielleicht keine Freundschaft innerhalb der Gemeinde gibt, sondern nur Gemeinschaft.

Quelle: Aftenposten, Norwegen 25.10.2003