Seit vergangenen Dienstag wird im Bürgerhaus Bornheim die Ausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" präsentiert. Anlaß genug für eine kontroverse Diskussion über die Rolle der Wachtturm-Gesellschaft – gestern und heute.
„Ich finde es legitim, daß die Zeugen Jehovas das bisherige Fehlen ihrer Opferrolle im NS-Regime beklagen", macht der Hamburger Zeithistoriker Detlev Garbe deutlich. Wer eine Auseinandersetzung mit den Zeugen Jehovas anstrebe, solle sie jedoch nicht über die Vergangenheitsbewältigung führen, sondern sich an den „aktuell strittigen Punkten aufhängen". Mit dieser Einschätzung stieß Garbe im Wesentlichen auf Zustimmung.
Mit „Widerstand aus dem Glauben?" hatte die Evangelische Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen die Diskussion überschrieben. Neben Garbe saßen Lutz Lemhöfer, Vertreter des katholischen Bistums Limburg, Matthias Benad, Professor für Geschichte an der kirchlichen Hochschule Bethel, und Moderator Kurt-Helmuth Eimuth, der Sektenbeauftragte des Evangelischen Regionalverbands Frankfurt, auf dem Podium. Gemeinsam gingen die vier der Frage nach, welche Rolle Katholiken, Protestanten und Zeugen Jehovas während des nationalsozialistischen Regimes einnahmen.
Die bis zu Beginn der 90er Jahre in der Forschung völlig unbeachteten Zeugen Jehovas hätten die empfindlichsten Eingriffe durch die faschistische Diktatur erlitten, berichtete Garbe. Die von den Nationalsozialisten mit dem Begriff „Bibelforscher" benannten Zeugen Jehovas hatten 1933 etwa 25.000 Mitglieder.
Sie gehörten zu den ersten, die als gesamte Gruppe vom NS-Regime verfolgt wurden – unter anderem weil sie konsequent den Kriegsdienst verweigerten. Etwa 10.000 Angehörige der Glaubensgemeinschaft wurden in Gefängnissen und Konzentrationslagern eingesperrt. In den KZs bildeten sie eine eigene Häftlingsgemeinschaft, deren Angehörige den „Lila Winkel" zu tragen hatten.
Etwa 1.200 Zeugen Jehovas seien von den Nazis ermordet worden, berichtete Garbe. Der Hamburger Historiker ist Mitarbeiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und hat die bisher einzige – unabhängige – Gesamtdarstellung über die Verfolgung der Zeugen Jehovas geschrieben.
Garbes Einschätzung ist in diesen Tagen besonders gefragt, da die Wachtturm-Gesellschaft sich nun selbst darum bemüht, die Verfolgung ihrer Gemeinschaftsmitglieder zu würdigen: Die Ausstellung „Standhaft trotz Verfolgung – Jehovas Zeugen unter dem NS-Regime" ist seit Dienstag in Frankfurt zu sehen. Insbesondere die hierbei präsentierte Video-Dokumentation der Wachtturm-Gesellschaft stieß jedoch bereits im Vorfeld auf vielfältige Kritik.
„Mangelnde Differenziertheit" lautet der Hauptvorwurf, den Lemhöfer als Vertreter des katholischen Bistums Limburg in die Diskussion einbrachte. Die Zeugen Jehovas versuchten, sich als die einzigen darzustellen, die als christliche Gemeinschaft Widerstand gegen das NS-Regime geleistet hätten. Mit historischen Tatsachen stimme das nicht überein. Es habe – wenn auch in kleiner Zahl – Katholiken und Protestanten gegeben, die sich der Diktatur widersetzten, berichteten die Vertreter der beiden Volkskirchen. Sie machten allerdings auch deutlich, daß sie die Aufarbeitung der Geschichte der Zeugen Jehovas durch die Wachtturm-Gesellschaft nicht bekämpfen wollen. Vielmehr bedauerten sie deren „unsachlichen" Stil: „Die große Tapferkeit der Zeugen Jehovas hätte diese Stilisierung nicht nötig gehabt", betonte Lemhöfer.
Die schönfärbende Geschichtsdarstellung der Zeugen Jehovas sei jedoch nicht ungewöhnlich, bekannten die beiden Kirchenvertreter. Sowohl die katholische, als auch die evangelische Kirche hätten sich nach 1945 um eine positive Darstellung ihrer Rolle bemüht. „Diese Form der Legendenbildung kenne ich gut", sagte Benad. „Nach dem Krieg ist die bekennende Kirche immer größer geworden. Tatsächlich waren es einige wenige einzelne, die aus einer ureigenen und nicht kirchlich motivierten Ethik heraus Widerstand leisteten." Erst seit den achtziger Jahren sei eine differenzierte Darstellung der protestantischen Geschichte im NS-Regime möglich, erklärte der evangelische Geschichtsprofessor. „Auch die katholische Geschichtsschreibung hatte bis in die siebziger Jahre hinein eine starke Hymnenart, die wenig mit den historischen Tatsachen übereinstimmte", ergänzte Lemhöfer.
Dennoch mahnten beide einen kritischen Umgang mit der Wachtturm-Gesellschaft an. Benad seiht vor allem in dem Videofilm eine „Instrumentalisierung der Opfer zu Werbezwekcen für die Zeugen Jehovas von heute", gegen die es einzutreten gelte. „Man kann, soll und muß die Opfer würdigen – auch die der Zeugen Jehovas", betonte Lemhöfer am Ende der lobenswert sachlichen Diskussion. „Dies darf uns aber in einer aktuellen Auseinandersetzung nicht stumm machen."
Der Sonntag vom 12.10.1997
Gegen das Begleitprogramm der bis zum 19. Oktober dauernden Wanderausstellung „Strandhaft trotz Verfolgung – Zeugen Jehovas unter dem NS-Regime" im Bürgerhaus Bornheim hat der Weltanschaungsbeauftragte im Bistum, Lutz Lemhöfer, protestiert.
Zum einen beanstandete Lemhöfer die „satte antikatholische Polemik" der Zeitschrift „Erwachet" und der Videodokumentation. Sie führten nach Lemhöfer die beiden großen Kirchen als „Wegbereiter und Erfüllungsgehilfen der NS-Diktatur" vor. Zum anderen kritisierte er die unhistorische, „einmütige" Selbstdarstellung der Zeugen Jehovas als passive Widerstandskämpfer während des „Dritten Reiches". Lemhöfer setzt sich „gegen die Instrumentalisierung der Vergangenheit" für heutige Zwecke ein und forderte eine differenziertere Auseinandersetzung mit der eigenen kirchlichen als auch mit der fremden Vergangenheit.
Das forderte auch der über die Geschichte der Zeugen Jehovas während des NS-Regimes promovierte Historiker und Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Dr. Detlef Garbe. Trotz „exorbitant hoher Verfolgung" der Zeugen Jehovas sei nicht jeder Verfolgte automatisch „Leitbild für die freiheitlich-demokratische Grundordnung."
Stefan HeilStreit um die Rolle der "Bibelforscher" während des "Dritten Reiches"
Kein politischer Widerstand?
Büren-Wewelsburg – Auf einen schmalen Grat begab sich am Samstag die Bundeszentrale für politische Bildung als Mitveranstalter einer Tagung zum Schicksal der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus. Bereits im Vorfeld war Kritik an der Veranstaltung im Burgsaal der Wewelsburg laut geworden.
Der mit Historikern, Religionswissenschaftlern, Kritikern und Mitgliedern der Zeugen Jehovas besetzte Teilnehmerkreis könne der Religionsgemeinschaft als Plattform zur Werbung für ihren Glauben zur Verbesserung ihres Ansehens in der Gesellschaft dienen, hieß es. Andererseits setzte sich die Vertreterin der Bundeszentrale, Ulrike Puvogel, mit ihrer These, die Verweigerungshaltung der Zeugen Jehovas gegenüber Naziorganisationen und dem Kriegsdienst sei kein Widerstand im politischen Sinne gewesen, der Kritik von Zeitzeugen aus, die ihr vorwarfen, sie schränke den Respekt vor den Opfern ein. Wie heikel das Thema ist, zeigt die Forschungslage, die im Mittelpunkt der abschließenden Podiumsdiskussion stand. Bis in die 80er Jahre wurde die Diskriminierung und Verfolgung der damals noch als "Bibelforscher" auftretenden Zeugen Jehovas weitgehend tabuisiert.
In der 1993 erschienenen Studie "Zwischen Widerstand und Martyrium: Die Zeugen Jehovas im ‚Dritten Reich‘" führt Autor Detlef Garbe diese Vernachlässigung auch auf das Verhalten der Wachtturmgesellschaft zurück. Den heutigen offenen Umgang der Zeugen Jehovas mit ihrer Vergangenheit betrachtet Garbe vor dem Hintergrund des Strebens der Religionsgemeinschaft nach der Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts und nach einer Imageverbesserung. Garbe, der in einem schriftlichen Beitrag zum Tagesthema Stellung bezog, betonte jedoch, daß Forschungsberichte nicht durch die Öffentlichkeitsarbeit der Wachtturm-Gesellschaft falsch würden.
25.000 Bibelforscher lebten 1933 in Deutschland, 2.000 mußten ins Konzentrationslager, 1.200 kamen zu Tode. Für einige der 10.000 während der Naziherrschaft verhafteten Zeugen Jehovas begann der Leidensweg im Lager Niederhagen bei Wewelsburg. Daher wollte Landrat Reinhold Stücke die Tagung auch als einen Beitrag verstanden wissen, deren Schicksal bewußt zu machen. Beispiele für solche Einzelschicksale fanden Besucher in der Ausstellung "Standhaft trotz Verfolgung", die im Burgsaal gezeigt wurden.
James Pellechia von der Watchtower Society in New York warnte, die Auslöser des Hasses lägen auch heute in vielen Teilen der Welt in der Luft. Von der Tagung erwartete Pellechia, auf der Basis der historischen Analyse festzustellen, ob die Zeugen Jehovasan den von ihnen propagierten moralischen Grundsätzen festgehalten hätten. Verstärkt kamen Zeugen Jehovas jedoch erst am Sonntag bei einer zweiten Tagung unter dem Titel "Geschichte und Gegenwart – Zeugen Jehovas in Deutschland" zu Wort, die vom Regionalen Informationsdienst der Zeugen Jehovas in Kooperation mit dem Kreismuseum Wewelsburg ausgerichtet wurde.
Den unbedingten Pazifismus der Bibelforscher, der ihnen unter den NS-Opfern eine besondere Rolle zuweise, hob Daniel Strauß vom Fritz-Bauer-Institut hervor. Das Frankfurter Institut trat neben dem Kreismuseum und der Bundeszentrale für politische Bildung als dritter Veranstalter der Samstagstagung, die unter dem Titel "Widerstand aus christlicher Überzeugung" stand, auf.
Ulrike Puvogel verteidigte die Teilnahme der Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Argument, die Warnung vor einer Instrumentalisierung der Bundeszentrale rechtfertige nicht, auf eine Auseinandersetzung mit dem Thema zu verzichten. Die Standhaftigkeit aller Zeugen Jehovas während der Naziherrschaft verdiene höchsten Respekt und eine Würdigung, unabhängig davon, wie man die Motive beurteile. Allerdings müsse man berücksichtigen, daß die "Bibelforscher" nicht für die Freiheit aller gestritten hätten, sondern nur für die eigene uneingeschränkte Religionsausübung eingetreten seien, erklärte Ulrike Puvogel. Dies brachte ihr in der Diskussion den Vorwurf ein, die Zeugen Jehovas zu "Opfern zweiter Klasse" zu machen.
Neue Westfälische vom 7.10.1997