Wenn auch diese Frage an und für sich für die Bedeutung des Todes Christi unerheblich ist, stellen sich aktive und ehemalige Zeugen Jehovas und womöglich auch Außenstehende zu Recht diese Frage, wird doch in der eigenen Neuen-Welt-Übersetzung (im Folgenden durch „NWÜ“ abgekürzt) ausschließlich das Wort „Marterpfahl“ oder „Stamm“ verwendet. In allen anderen Bibeln begegnet uns das Wort „Kreuz“, wie es auch aus der darstellenden Kirchenkunst vertraut ist. Im Folgenden soll gezeigt werden, warum das Bestehen auf die Wiedergabe ausschließlich mit „Marterpfahl“ oder „Stamm“ unbegründet ist. Ich zeige ferner, warum Jehovas Zeugen diese Unterscheidung sehr wichtig ist.

Aufgrund des neuen Artikels im Erwachet! vom April 2006, wurde die vorliegende Abhandlung revidiert und wesentlich erweitert. Die Erwachet!-Ausgabe trägt das Thema: „Starb Jesus tatsächlich an einem Kreuz?“ (Seite 12-13).

Die Übersetzer verwenden im Anhang 5C der NWÜ, S. 1641-1642 sehr viel Mühe darauf, ihre Wiedergabe mit „Marterpfahl“ zu rechtfertigen. Das folgende Zitat sei daher zunächst einmal vollinhaltlich wiedergegeben, weil vor allen Dingen Außenstehende die NWÜ womöglich nicht zur Hand haben mögen oder ihnen gegenwärtig nicht zugänglich ist:

In Mat 27:40 wird „Marterpfahl“ in Verbindung mit der Hinrichtung Jesu auf dem Kalvarienberg, der Schädelstätte, verwendet. Es liegen keine Beweise vor, daß das griechische Wort staurós hier ein Kreuz bedeutete, wie es die Heiden viele Jahrhunderte lang vor Christus als religiöses Symbol gebrauchten.

Im klassischen Griechisch bedeutete das Wort staurós lediglich einen aufrechtstehenden Stamm oder Pfahl, wie er für ein Fundament verwendet wird. Das Verb stauróo bedeutete mit Palisaden versehen, um ein Pfahlwerk oder eine Palisade zu errichten. Die inspirierten Schreiber der Christlichen Griechischen Schriften schrieben in der griechischen Gemeinsprache (koine, die Koine) und verwendeten das Wort staurós in derselben Bedeutung wie im klassischen Griechisch, nämlich als einfachen Stamm oder Pfahl ohne irgendeinen Querbalken in irgendeinem Winkel. Es gibt keinen gegenteiligen Beweis. Die Apostel Petrus und Paulus verwendeten auch das Wort xýlon, um sich auf das Marterinstrument zu beziehen, an das Jesus genagelt wurde. Das zeigt, daß es ein aufrechtstehender Stamm ohne Querbalken war, denn das bedeutet xýlon in diesem besonderen Sinn (Apg 5:30; 10:39; 13:29; Gal 3:13; 1Pe 2:24). In der LXX finden wir xýlon in Esr 6:11 (2 Esdras 6:11), und dort bezeichnet es einen Balken, an den der Gesetzesübertreter gehängt werden sollte, so wie in Apg 5:30; 10:39.

W. E. Vine bemerkt zur Bedeutung von staurós in seinem Werk An Expository Dictionary of New Testament Words (Nachdruck 1975), Bd. I, S. 256 folgendes: „STAUROS (σταυρός) bezeichnet in erster Linie einen aufrechtstehenden Pfahl oder Stamm. Übeltäter wurden zur Hinrichtung daran genagelt. Sowohl das Substantiv als auch das Verb stauroo, an einem Stamm oder Pfahl befestigen, sind ursprünglich von der kirchlichen Form eines aus zwei Balken bestehenden Kreuzes zu unterscheiden. Die Form des letzteren hat ihren Ursprung im alten Chaldäa. Sie wurde als das Symbol des Gottes Tammuz (in der Form des mystischen Taus, der Initiale seines Namens) in diesem Land und in angrenzenden Ländern, einschließlich Ägyptens, verwendet. In der Mitte des 3. Jh. A. D. hatten die Kirchen entweder gewisse Lehrpunkte des christlichen Glaubens verlassen oder aber entstellt. Um das Ansehen des abgefallenen kirchlichen Systems zu heben, wurden Heiden ohne Erneuerung durch Glauben aufgenommen, und es wurde ihnen erlaubt, ihre heidnischen Zeichen und Symbole weitgehend beizubehalten. Daher wurde das Tau oder T in seiner meistverbreiteten Form, mit dem tiefer hängenden Querholz, als das Kreuz Christi darstellend angenommen.“

Im Lateinischen Etymologischen Wörterbuch von A. Walde, 3., neubearbeitete Aufl., Heidelberg 1938, wird zur grundlegenden Bedeutung von crux auf S. 297 folgendes bemerkt: „Freilich scheint die älteste Form wie bei gr. (σταυρός) ein vertikaler Pfahl ohne das patibulum [Querbalken] gewesen zu sein.“ In dem Kleinen lateinisch-deutschen Handwörterbuch von Prof. Dr. K. E. Georges, 4., verb. u. verm. Aufl., Leipzig 1880, heißt es zur Grundbedeutung von crux: „das Marterholz, sowohl zum Anpfählen als zum Hängen od. Spießen“ (Sp. 621). In den Schriften des Livius, eines römischen Historikers aus dem ersten Jahrhundert v. u. Z., bedeutet crux lediglich einen Stamm. „Kreuz“ ist nur eine spätere Bedeutung von crux. Ein einfacher Stamm zum Anpfählen eines Verbrechers wurde im Lateinischen crux sịmplex genannt. Ein solches Marterinstrument wird von Justus Lipsius (1547—1606) in seinem Buch De cruce libri tres, Antwerpen 1629, auf S. 19 dargestellt. Die nebenstehende Fotografie der crux simplex ist eine tatsächliche Reproduktion aus seinem Buch.

In dem Buch Das Kreuz und die Kreuzigung von Hermann Fulda, Breslau 1878, heißt es auf S. 109: „Bäume gab es aber nicht überall auf den zu öffentlicher Hinrichtung ausgewählten Plätzen. Man grub dann einen einfachen Balken , wie er grade zu finden war, in den Boden. An diesen wurden die Geächteten mit aufwärts gereckten Händen und häufig auch mit den Füssen angebunden, oder angenagelt.“ Nachdem Fulda eine Fülle an Beweismaterial unterbreitet hat, kommt er auf S. 219, 220 zu folgendem Schluß: „Jesus starb am einfachen Todespfahl: Dafür sprechen a) die damaligen im Morgenland üblichen Gebräuche dieser Hinrichtung, b) indirect die Leidensgeschichte Jesu selbst und c) viele Aeusserungen der frühern Kirchenväter.“

Paul Wilhelm Schmidt, ehemaliger Professor an der Universität Basel, stellte in seinem Werk Die Geschichte Jesu, Bd. 2, Tübingen und Leipzig 1904, auf S. 386—394 eine detaillierte Studie über das griechische Wort staurós an. Auf S. 386 seines Werkes sagte er: „σταυρός [staurós] heißt jeder aufrechtstehende Pfahl oder Baumstamm.“ Über die Hinrichtung Jesu schrieb P. W. Schmidt auf S. 387—389: „Außer der Geißelung ... kommt für den Strafvollzug an Jesus, den evangelischen Berichten zufolge, nur die einfachste Art der römischen Kreuzigung in Betracht: die Aufhängung des entkleideten Körpers an einem Pfahl, den übrigens, wohl zur Schärfung der schändenden Strafe, J[esus] selber zur Richtstätte tragen bezw. nachschleppen mußte. ... Etwas anderes als ein einfaches Aufhängen verbot sich von selbst bei der Massenhaftigkeit, in welcher diese Exekution oft betrieben wurde: 2000 auf einmal durch Varus bei Jos Ant. XVII 10. 10 [Flavius Josephus in Jüdische Altertümer, 17. Buch, 10. Kapitel, Absatz 10], durch Quadratus BJud. II 12. 6 [Flavius Josephus in der Geschichte des Jüdischen Krieges, 2. Buch, 12. Kapitel, Absatz 6], durch den Prokurator Felix BJud. II 15. 2 [13. 2], durch Titus BJud. VII. 1 [V 11. 1].“

Es fehlt also jeglicher Beweis dafür, daß Jesus Christus an zwei rechtwinklig zueinander angebrachten Holzstücken gekreuzigt worden ist. Wir möchten dem geschriebenen Wort Gottes nichts hinzufügen, indem wir den heidnischen Begriff „Kreuz“ in die inspirierten Schriften aufnehmen würden, und geben daher staurós und xýlon gemäß ihrer einfachsten Bedeutung wieder. Da Jesus das Wort staurós gebrauchte, um die Leiden und die Schande oder Marterqual seiner Nachfolger darzustellen (Mat 16:24), haben wir staurós mit „Marterpfahl“ übersetzt, um es von xýlon zu unterscheiden, das wir mit „Stamm“ oder (in der Fußnote) mit „Baum“ übersetzt haben, wie in Apg 5:30.

Der Verfasser dieser Abhandlung führt zahlreiche Werke und Gelehrte an, die die Schlussfolgerung nahe legen, dass eine andere Wiedergabe des griechischen Substantivs staurós als mit Marterpfahl nicht korrekt sei. Man darf dabei jedoch nicht übersehen, dass der Schreiber nur Werke ab dem Jahr 1975 abwärts anführt, wobei die älteste Quelle, Das Kreuz und die Kreuzigung, aus dem Jahr 1878 stammt. Zudem werden in den zitierten Büchern nur die etymologischen Gesichtspunkte in ihrer Grundbedeutung erläutert. Auch das Einsichten-Buch führt unter dem Eintrag „Marterpfahl“ (Bd. 2, S. 283) nur eine einzige Quelle, The Non-Christian Cross („Das unchristliche Kreuz“) von John Denham Parsons, aus dem Jahr 1896 an. Die Erwachet!-Ausgabe von April 2006 greift diese Quelle auf der Seite 12 noch einmal auf, die auch im Internet unter THE NON-CHRISTIAN CROSS vollinhaltlich eingesehen werden kann.

Neuere Forschungen aus dem 20. Jahrhundert vor allen Dingen in der Archäologie bleiben aber auch hier wieder unberücksichtigt.

Nun trifft es zwar zu, dass staurós in seiner eigentlichen, ursprünglichen Bedeutung tatsächlich nur einen aufrechtstehenden Pfahl oder Stamm bezeichnet. An allen Stellen im Neuen Testament bezieht sich dieses Wort auf das damals speziell römische Hinrichtungsmittel (Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Kohlhammer Verlag 1992, Bd. 3, S. 640). Zeugen Jehovas haben zumindest in diesem Punkt also nicht ganz Unrecht. Sie lassen jedoch andere Gesichtspunkte, die dafür sprechen, dass Jesus am Kreuz hing, außer Acht. Im eben zitierten exegetischen Wörterbuch wird nämlich auch der historische Hintergrund kurz beleuchtet und außerdem auch noch auf einen archäologischen Fund hingewiesen:

Die Kreuzigung Jesu wird der damals offenbar üblichen Kreuzigungsweise (vgl. für Palästina jetzt auch den Fund von Giv’at ha-Mivtar) an einem Pfahl mit Querbalken, und zwar eher an einer crux commissa (also an einem T-förmigen Kreuz) entsprochen haben. [Ebd.]

In der vierten Auflage des Werkes Religion in Geschichte und Gegenwart (im Folgenden mit „RGG4“ abgekürzt) wird noch genauer auf den Fund von Giv’at ha-Mivtar (Jerusalem) eingegangen. Dort heißt es, dass 1968 in einem Ossuar Knochen eines Gekreuzigten (nicht Gepfählten!) aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. gefunden wurden. Die Knochen des Gekreuzigten wurden 1984 erneut untersucht. (RGG4, Bd. 4, S. 1745, Mohr-Siebeck Verlag 2001). Was die Kreuzigungspraktiken in der Antike betrifft, so heißt es im RGG4 weiter:

Eine Kreuzform (als crux commissa [T] oder crux immissa [†]) ergibt sich, wenn – wie röm[isch] weithin üblich – ein oft vom Verurteilten zu tragender Querbalken (patibulum; auch Synonym für crux) Verwendung findet.

Der oben zitierte John Denham Parsons hat dagegen noch in The Non-Christian Cross behauptet, die Hinrichtungspraxis der Römer hätte ausschließlich darin bestanden, den Verurteilten an einen Stamm oder Pfahl zu schlagen. Dies ist jedoch nun durch den Fund von Giv’at ha-Mivtar widerlegt ist. Wie man sieht, genügt es nicht, nur auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes staurós zu verweisen, wie Parsons es praktiziert und der deshalb auch immer wieder in den Wachtturm-Schriften zitiert wird, um daraus auf die Hinrichtungspraxis zu schließen. Vielmehr muss berücksichtigt werden, in welchem Herrschaftsgebiet und unter welcher Befehlsgewalt eine solche Hinrichtung ausgeführt wurde. Ferner muss man sich über die Sichtweise des Verfassers, der dieses Wort verwendet, im Klaren sein. In dem Werk New International Dictionary of New Testament Theology (Abridged Edition) wird genau erläutert, wie eine solche Kreuzigung stattgefunden hatte:

Es gab zwei Möglichkeiten, den staurós aufzurichten. Der Verurteilte wurde an das noch am Boden liegende Kreuz, das sich bereits am Hinrichtungsort befand, befestigt und schließlich aufgerichtet. Bei der zweiten Möglichkeit war zunächst nur der Pfahl bereits in die Erde getrieben. Das Opfer wurde anschließend an den Querbalken befestigt und mit diesem zusammen am bereits aufgerichteten Pfahl hochgezogen und daran befestigt. [...] Jesus trug den Querbalken zum Hinrichtungsort. [S. 5088, 5089]

Wie oben beschrieben, trug Jesus zunächst nur den Querbalken zum Hinrichtungsort, wo sich der bereits in die Erde getriebene Stamm befand. Dort angekommen, wurde er mit dem bereits an ihm befestigten Querbalken entlang des Stammes hochgezogen und der Querbalken an den Stamm befestigt. Diese Erklärung deckt sich auch mit Johannes 19:17. RGG4 verweist auf diese Stelle, wenn es vom „Tragen des Querbalkens [staurón, (dekliniert)] durch Jesus“ spricht (Bd. 4, S. 1746). Es würde keinen Sinn machen, anzunehmen, dass Jesus den Stamm trug, denn dieser war dessen ungeachtet bereits an der Hinrichtungsstätte, zu der er sich begab, in die Erde gehauen. Die Darstellungen in biblischen Filmen wie beispielsweise Die Passion Christi, wo Jesus das vollständige Kreuz (Querbalken und Stamm) trägt, ist daher historisch nicht ganz korrekt. Die Absicht liegt offensichtlich darin, dass nicht die Historizität, sondern vielmehr die symbolische Bedeutung des Kreuzes im Vordergrund stehen soll. Aus dieser Sicht wird gemäß Lukas 14:27 das Tragen des Kreuzes („Marterpfahl“, NWÜ) als Modus der Nachfolge verständlicher.

Sowohl der im Boden stehende Stamm als auch der Querbalken werden im Griechischen auch als xýlon bezeichnet. Xýlon bezeichnet auch das Holz als Baumaterial (1. Kor. 3:12), einen Baum (Ez 17:24; Lk 23:31), aber auch die Kreuzigung Jesu (Gal 3:13). Interessanterweise benutzt Apg 13: 29 xýlon bei der Abnahme Jesu vom Kreuz. Offenbar war Jesus noch am Querbalken (xýlon) befestigt, als er vom Stamm (staurós) entfernt wurde. Der Stamm blieb wahrscheinlich für künftige Hinrichtungen weiter an seiner Stelle.

Wir stellen also fest, dass erst die Kombination aus Querbalken und Pfahl die Kreuzform, die auch als crux commissa oder crux immissa bezeichnet wird, ergibt. Dieser Sachverhalt wird von dem Schreiber des Anhangs ignoriert. Im oben zitierten Anhang der NWÜ heißt es eingangs, es würden keine Beweise vorliegen, dass das griechische Wort staurós hier ein Kreuz bedeutete. Wenn man aber nur einen bestimmten Aspekt oder Teilbereich eines Sachverhalts untersucht, wundert es auch nicht, wenn man keine weiteren Beweise findet. Aus den fehlenden Beweisen lässt sich außerdem auch nicht automatisch das Gegenteil schließen, denn wie gezeigt wurde, lässt sich dies allein daran nicht festmachen. Wie wir gesehen haben, müssen außer etymologische auch andere Aspekte wie historische und archäologische berücksichtigt werden.

Abschließend heißt es im Anhang, „es fehl[e] also jeglicher Beweis dafür, daß Jesus Christus an zwei rechtwinklig zueinander angebrachten Holzstücken gekreuzigt worden ist“. Das gleiche Argument hat auch der oben zitierte J. D. Parsons ins Feld geführt. Diese Art der Beweisführung, wie sie im Anhang der NWÜ praktiziert wurde, ist natürlich schon wissenschaftlich nicht zulässig, denn man kann – wie in diesem Fall geschehen - immer Werke und Gelehrte so zitieren oder gezielt auswählen, dass nur bestimmte Aspekte oder Teilbereiche eines zu untersuchenden Wortes oder Sachverhalts zum Vorschein kommen mit der Absicht, gegenteilige Beweise unter den Tisch fallen zu lassen, weil sie nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen. Warum z.B. nicht auch aus einer neueren Auflage des Lateinischen Etymologischen Wörterbuchs zitieren?

Im oben zitierten neuen Erwachet! wird die Verehrung des Kreuzes als Götzendienst bezeichnet. Auf der Seite 13 wird dies damit begründet, dass das Kreuz oder der Pfahl lediglich ein Hinrichtungswerkzeug sei, dem keinerlei Symbolismus beizumessen ist. Dort wird schließlich ein Vergleich mit einer Mordwaffe herangezogen:

Sollte ein solches Werkzeug, ob aufrechter einfacher Marterpfahl, Kreuz, Pfeil oder Messer, zur Anbetung verwendet werden?

Angenommen, einer unserer nahen Angehörigen wurde brutal ermordet und die Tatwaffe liegt dem Gericht als Beweismittel vor. Würden wir versuchen, der Mordwaffe habhaft zu werden, sie fotografieren und die Fotos zum Verteilen vervielfältigen? Würden wir von der Waffe verschiedene große Nachbildungen anfertigen? Würden wir einige davon zu Schmuck verarbeiten? Oder würden wir diese Nachbildungen kommerziell herstellen lassen und an Freunde und Verwandte verkaufen, damit diese sie verehren? Vermutlich schrecken wir allein vor der Vorstellung zurück. Aber genau das alles ist mit dem Kreuz geschehen.

Mit solchen rhetorischen Fragen Götzendienst nachzuweisen widerspricht der Auffassung des Neuen Testaments darüber, wie die ersten Christen das Kreuz betrachteten. Es widerspricht auch der neutestamentlichen Aussage, dass das Kreuz nicht etwa als Symbol für eine Mordwaffe aufzufassen ist, sondern als Symbol für die Nachfolge Jesu. Wenn in Lk 14:27 (Mk 8:34 parr.) davon die Rede ist, das Kreuz auf sich zu nehmen, um Jesus nachzufolgen, dann würde ein Christ niemals das Kreuz als Mordwaffe betrachten. Zusätzliches Gewicht gewinnt der Symbolismus des Kreuzes noch dadurch, wenn in Mk 16:6 nicht nur von Jesus, den Nazarener, sondern zusätzlich vom „Gekreuzigten“, der ‚nicht hier, sondern auferstanden ist’, gesprochen wird. Das war die Antwort, die Maria Magdalene und Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome erhielten, als sie Jesus suchten. Wenn zudem auch noch die Kreuzigung als Erhöhung im Rahmen der Verherrlichung Jesu bei Joh 12:23, 27f., 32f. gedeutet wird, dann deshalb, weil damit „das Handeln Gottes an Jesus stereotyp einen Kontrast zur Kreuzigung als verwerflichem Handeln der angesprochenen Juden“ bildet (Ebd., RGG4, Bd. 4, S. 1746).

Nicht zu vergessen ist noch die soteriologische Dimension des Kreuzes. Durch sein „Kreuzesblut“ (im Griechischen wörtlich: tou aimatoj tou staurou, „durch sein Blut am Kreuz“) wurde alles mit ihm versöhnt und hat Frieden gestiftet (Kol 1:20). Er hat „den Schuldschein“ und damit „seine Forderungen, die uns anklagten, aufgehoben. Er hat ihn dadurch getilgt, daß er ihn an das Kreuz geheftet hat“ (Kol 2:14, Neue Jerusalemer Bibel). Durch das Kreuz hat er die Juden und Heiden miteinander versöhnt (Eph 2:16).

Ja, selbst durch das Abfallen vom Glauben wird Christus erneut an das Kreuz geschlagen.

Die Beispiele sollten ausreichen, um zu verdeutlichen, welche symbolische Bedeutung dem Kreuz im Neuen Testament beigemessen wird. Wenn die Beimessung einer solchen symbolischen Tragweite als Götzendienst ausgelegt wird, dann müsste man sich fragen, warum die neutestamentlichen Schreiber das Kreuz überhaupt ins Spiel gebracht haben. Warum haben sie beispielsweise nicht lediglich davon gesprochen, dass durch ihn oder Jesus Christus beide Völker vereint wurden, statt dessen schrieb Paulus „durch sein Blut am Kreuz“? Warum hat Paulus hier „Kreuz“ nicht einfach weggelassen und lediglich „durch sein Blut“ erwähnt? Die gleichen Fragen ließen sich auch auf die anderen Stellen anwenden, die stets einen Kreuzesbezug aufweisen.

Im Übrigen hinkt der naive Vergleich im Erwachet! mit einer Tatwaffe. Eine Analogie bestünde, wenn die Tatwaffe mit der Lanze oder dem Speer in Joh 19:34 verglichen worden wäre, mit dem die Soldaten Jesus in seine Seite stießen. Über diese rhetorischen Fragen könnte man noch schmunzeln, wenn es nicht so traurig wäre, denn der Vergleich wertet das Symbol und damit auch die Bedeutung des Kreuzes, die das Neue Testament ihm beimisst, auf traurige Weise herab.

Warum ist Zeugen Jehovas diese Unterscheidung so wichtig?

Jehovas Zeugen erheben einen Exklusivheitsanspruch, die auf ihre „Sprachregelung“ großen Einfluss hat. Verständlicherweise vermeiden sie daher Ausdrücke und Wendungen, wie sie auch von den Großkirchen gebraucht werden, um sich von diesen abheben zu können. Genauso wie Zeugen Jehovas in ihrer NWÜ oder Publikationen beispielsweise den Ausdruck „unverdiente Güte“ statt „Gnade“ oder „Versammlung“ bzw. „Königreichssaal der Zeugen Jehovas“ statt „Kirche“ verwenden, so ziehen sie es vor, statt „Kreuz“ „Marterpfahl“ oder „Stamm“ zu gebrauchen. Eine solche Sprachregelung sichert ihnen unter den tausenden von Religionen und Sekten ein Alleinstellungsmerkmal. Sie pflegen gewissermaßen ein „Corporate Identity“, was ihnen weltweit ein einheitliches Erscheinungsbild in Sprache, Schrift und öffentliches Auftreten sichert, damit das „wahre Volk“ Gottes sofort erkannt werden kann. Paradoxerweise sind es gerade nicht diese Merkmale, die Jesus aufzählte, an die man seine wahren Jünger erkennen kann.

Bei meinem Lehrer Dr. Carl (...), der auch katholischer Theologe ist, lerne ich sowohl Altgriechisch als auch Latein. Er lehrt außerdem auch Althebräisch. In der folgenden an ihn gerichteten E-Mail möchte ich einmal seine Meinung dazu wissen, wie er über die Behauptung von Zeugen Jehovas denkt, Jesus sei nicht an einem Kreuz, sondern an einem Marterpfahl gestorben. Den Namen meines Lehrers habe ich bis auf den Doktortitel anonymisiert. Nicht relevante Passagen, die persönliche Dinge betreffen, habe ich in eckige Klammern gesetzt. Folgende Quellen hatte ich dem Lehrer zur Verfügung gestellt:

Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift - mit Studienverweisen, hrsg. von der Wachtturm-Bibel- und Traktat-Gesellschaft 1986, Anhang 5C, S. 1641 - 1642.

Einsichten über die Heilige Schrift, Bd. 2, Seiten 574-576


Sehr geehrter Herr Dr. Carl (...),

Ich bin der Auffassung, dass man erst mit Hilfe des Griechischen in die Geheimnisse des Neuen Testaments vordringen kann, denn im Gegensatz zum Deutschen und anderen Sprachen ist das Griechische in der Lage, auch komplizierte Gedankengänge auf den Punkt zu bringen. Im Griechischen ist es fast unmöglich, Unsinn zu reden, habe ich mal irgend wo gelesen. Ich freue mich sehr, von Ihnen Post zu erhalten und Ihre Anmerkungen zu studieren.

Freilich möchte ich Ihre Zeit nicht zu sehr in Anspruch nehmen. Aber zu Ostern ist doch sehr viel vom Kreuz Christi die Rede. Die im Betreff gestellte Frage (Marterpfahl oder Kreuz?) war eine der Fragen, vor der ich stand, bevor ich die Sekte der Zeugen Jehovas nach etwa 30 Jahren verließ, weil ich die theologischen Auffassungen dieser Organisation aus Gewissensgründen nicht mehr teilen konnte. Zu sehr spielt Jesus Christus bei Zeugen Jehovas nur eine untergeordnete Rolle. Daraus ist eigentlich auch mein Interesse für Theologie und Altgriechisch entstanden. Damit hat sich die so genannte „Wachtturm-Gesellschaft“ aber selber einen Bärendienst erwiesen.

Nun, ich denke, meine Frage an Sie passt gut zur Osterzeit.

Um sich von den übrigen Kirchen (den so genannten „falschen Religionen“) abzuheben, haben Zeugen Jehovas eine eigene Sprache und Sprachregelung entwickelt. So verwenden Zeugen Jehovas unter anderem in ihrer eigenen Bibelübersetzung das Wort „Pfahl“ statt „Kreuz“ oder „an den Pfahl bringen“ statt „kreuzigen“. Dort ist auch nicht von „Gnade“ die Rede, sondern von „unverdienter Güte“. Dabei bringen sie in ihrer eigenen Literatur (Der Wachtturm, Erwachet! und anderen Bücher) große Mühe auf, um eine scheinbar plausible Begründung dafür zu liefern, warum angeblich „Pfahl“ die korrekte Wiedergabe des griechischen staurós sein soll und muss (genau so auch „Gegenwart“ (seit 1914 lt. ihren Lehren) statt „Ankunft“ für das griechische parousía). Interessanterweise ist weder ihre Bibelübersetzung („Neue-Welt-Übersetzung der heiligen Schrift“) noch andere Literatur im Buchhandel – nicht einmal in den USA, wo sich die Weltzentrale der Zeugen Jehovas (Brooklyn) befindet - erhältlich. Die eigene Bibel ist kirchlich nicht anerkannt – aus guten Gründen, wie sich von selber versteht.

Ich habe im Anhang aus zwei „Standardwerken“ zitiert, die von Zeugen Jehovas herausgegeben wurden, in denen scheinbar plausible Beweise dafür geliefert werden, dass die Wiedergabe mit „Kreuz“ in allen Bibelübersetzungen außer der eigenen falsch ist. Jehovas Zeugen behaupten sogar, die Verwendung des Kreuzes als römisches Hinrichtungsmittel sei historisch nicht korrekt. Zeugen Jehovas schrecken nicht davor zurück, Kapazitäten auf dem Gebiet der Theologie oder Archäologie falsch zu zitieren, indem sie beispielsweise Zitate aus dem Zusammenhang reißen, um den Anschein zu erwecken, Fachleute würden die Theorie der Zeugen Jehovas stützen. Den Anhängern der Zeugen Jehovas soll damit suggeriert werden, dass ihre Religion die einzig wahre sein muss, wenn schon Theologen anderer („falscher“) Kirchen ihre Ansicht (scheinbar) stützen. So bin ich aufgewachsen und habe etwas für wahr gehalten, was nicht wahr ist.

Mich würde zu einer solchen „Beweisführung“ einfach mal nur Ihre Meinung interessieren, weil ich mich freue, in Ihnen endlich eine Kapazität auf diesem Gebiet gefunden zu haben, die ich persönlich befragen darf. Vielleicht handelt es sich für Sie sogar um wertvolle Informationen, denn ich kann mir gut vorstellen, dass auch an Ihrer Tür Zeugen Jehovas schon einmal angeklopft haben. Ich brauche natürlich nicht zu erwähnen, dass Zeugen Jehovas Ihnen theologisch weit unterlegen sind und auch die Literatur von Zeugen Jehovas nichts weiter als Pseudotheologie ist. Eigentlich ist es so, als ob man Äpfel mit Birnen vergleicht, wollte man Zeugen Jehovas mit studierten Theologen vergleichen.

[...]

Ich wünsche Ihnen gesegnete Ostertage oder ΚΑΛΗΝ ΑΝΑΣΤΑΣΙΝ und verbleibe

mit freundlichen Grüßen,

Frank Bruder


Sehr geehrter Herr Bruder!

Ich beschäftige mich nicht zum ersten Male mit Fragen der Zeugen J.s und habe früher verschiedentlich mit Vertretern dieser Gruppe disputiert, in den letzten Jahren nicht mehr, da es unfruchtbar bleibt: Die Leute schützen immer nur unaufschiebbare Verpflichtungen oder mangelnde Zeit vor, wenn ihnen die Argumente ausgehen, ehe daß sie nachgäben und sich überzeugen ließen.

Ersparen Sie es mir auch bitte, zu der mehrseitigen Beilage in Einzelheiten Stellung zu nehmen (trotz des am Rande so verführerisch gelassenen Platzes für Vermerke). Es ist die typische Art, gewisse Dinge nicht wirklich falsch, aber durch gewollte Einseitigkeit um so verzerrter auszudrücken. Die Gruppe sollte lieber ihre Energie darauf verwenden, die richtige Aussprache des hebräischen Gottesnamens herauszufinden, und daraufhin ihren „Vereinsnamen“ korrigieren.

Ich werde Ihnen in absehbarer Zeit die Ablichtung eines umfassenden inhaltlich einwandfreien Textes aus dem ThW zu dieser Fragestellung aushändigen.

Gestatten Sie mir heute nur einige Bemerkungen zur Sache:

Wenn die lateinische (Soldaten-) Sprache das griechische Wort ΣΤΑΥΡΟΣ mit „crux“ wiedergibt, dann signalisiert das zumindest, daß die übliche, den Soldaten vertraute Form in sich kreuzenden Balken bestand (wobei es sich auch um die T- Form handeln kann). Andernfalls hätte man das Wort „kreuzigen“ lateinisch nicht mit „aliquem cruci figere“ (jemanden einem Kreuze anheften), sondern z.B. mit „aliquem palo adiungere“ (jemanden einem Pfahle verbinden) ausdrücken können.

Das berühmte „Spottkruzifix vom Palatin“ zeigt einen an einem Kreuze stehenden Verurteilten mit einem Eselskopf (Anspielung auf das Intelligenzniveau der Christusverehrung) und davor den zu verhöhnenden Christen mit der Aufschrift ΑΛΕΞΑМΕΝΟΣ ΣΕΒΕΤΕ (muß richtig heißen: ΣΕΒΕΤΑΙ) ΘΕΟΝ (Alexamenos verehrt Gott); das zeigt, welche Kreuzesform zumindest dem spottenden Soldaten geläufig war.

Die Tatsache, daß die Christenheit offenbar von Anfang an das Hinrichtungswerkzeug Jesu mit sich kreuzenden Balken vorgestellt hat, und zwar in einer Umwelt, die (das gilt für Juden wie Griechen) über diese römische Hinrichtungsart bestens Bescheid wußte und bei falscher Darstellung den Spott nicht zurückgehalten hätte, ist ein gravierendes Argument.

Im übrigen, mit Verlaub, ist das ganze allenfalls ein Problem der christlichen Kunst, nicht aber der Theologie: Die Heilsbedeutung des Todes Christi ist doch nicht von der äußeren Form einer bestimmten Hinrichtungsart abhängig! Welch ein kleinkariertes Gottesbild!

Hier zeigt sich die typisch sektiererische Arbeit: Um die christlichen Kirchen zu diffamieren, bläht man Scheinprobleme zu angeblich ernsten wissenschaftlichen Detailfragen auf, die man vollkommen objektiv zu lösen vorgibt. Das Ergebnis hilft zwar nicht weiter, dient aber der Verunsicherung des Angesprochenen, dem dergestalt suggeriert wird, daß die Kirchen in einer scheinbar so grundlegenden Aussage offenbar bewußt falsche Darstellungen fördern (und das dann wohl auch in noch ganz anderen Punkten tun!).

Zugleich gaukelt man damit vor, ebenso vollständig wissenschaftlich und völlig unvoreingenommen an andere, insonderheit die theologischen Fragen heranzugehen, wie es der alte Vereinsname, „ernste Bibelforscher“, ja auch zum Programm erklärte.

[...]

Mit freundlichen Grüßen

Ihr Dr. Carl [...]