Die Wachtturm-Gesellschaft behauptet zunehmend in der Öffentlichkeit, bei den Zeugen Jehovas gäbe es weder autoritäre Strukturen, noch würde irgendein Einfluß auf die Entscheidungen der Gläubigen ausgeübt. Wenn sich also ein Zeuge Jehovas nicht an demokratischen Wahlen beteiligt oder eine Bluttransfusion ablehnt, dann sei das einzig und allein seine persönliche Gewissensentscheidung.

Dieser Artikel zeigt, wie sich die Wachtturm-Führung hinter einem schwer durchschaubaren Organisationsgeflecht verschanzt, von ihren Anhängern Unterwürfigkeit und Gehorsam einfordert, aber keinerlei Verantwortung für die Folgen ihrer als "Empfehlungen" getarnten Anordnungen übernimmt.

Wenn man sich mit Zeugen Jehovas über ihre Religion unterhält, fällt auffällig oft der Begriff "die Gesellschaft". Seltsam ist jedoch, daß die meisten Zeugen nur äußerst vage Vorstellungen davon haben, wie ihre Religion eigentlich strukturiert ist. Statt dessen ist von einem ominösen "treuen und verständigen Sklaven" oder von einer "leitenden Körperschaft" die Rede, ohne daß man genau sagen kann, aus welchen Personen sich diese offensichtlich alles bestimmenden Gruppe zusammensetzt.

Diese Unwissenheit ist offensichtlich gewollt, denn es gibt keine einzige Wachtturm-Publikation, die ein klares Bild von der Zusammensetzung des weltweiten Firmenimperiums vermittelt. Im Gegenteil, die WTG sorgt sogar ganz bewußt selbst für Verwirrung. So schreibt zum Beispiel Der Wachtturm vom 15. März 1998 auf Seite 18: "Jehovas Zeugen benutzen die Watch Tower Society als gesetzliche Körperschaft ... um ihr Werk durchführen zu können" und verdreht dabei ganz bewußt die Tatsache, daß es in Wirklichkeit genau umgekehrt ist.

Doch die nächste Falschdarstellung folgt schon eine Seite später. Dort heißt es nämlich:

Die gesetzliche Körperschaft und der "treue und verständige Sklave" können natürlich nicht gleichgesetzt werden. Die Vorstandsmitglieder der Watch Tower Society werden gewählt, wohingegen die Zeugen Jehovas, die den "treuen Sklaven" bilden, durch Jehovas heiligen Geist gesalbt wurden."

Eine geschickte Augenwischerei, die nur funktioniert, weil praktisch kein Zeuge Jehovas die personelle Zusammensetzung der Wachtturm-Führung kennt und weiß, was es mit Watch Tower Society of Pennsylvania, Watch Tower Society of New York. Inc., Watchtower Tresuries usw. auf sich hat.

Eines ist dem gemeinen Zeugen aber dennoch bewußt. Die Tatsache nämlich, daß es irgendwo im fernen New York "die Gesellschaft" gibt, deren Wort für Zeugen Jehovas nichts geringeres als "die Wahrheit" und damit so gut wie Gesetz ist.

  1. Wenn "die Gesellschaft" verkündet, 1975 würde diese Welt zerstört werden, dann richtet man eben nach dieser "Wahrheit" seine gesamte Lebensplanung aus.
  2. Wenn "die Gesellschaft" behauptet, alle 1914 lebenden Menschen würden auch das Ende dieser Welt miterleben, dann gilt es eben, diese "Wahrheit" von Haus zu Haus zu predigen.
  3. Wenn "die Gesellschaft" der Auffassung ist, eine Bluttransfusion verletze das Gesetz Gottes, dann nimmt man eben für diese "Wahrheit" den Tod eines lieben Angehörigen in Kauf.
  4. Wenn "die Gesellschaft" demokratische Wahlen für unchristlich hält, dann geht man eben wegen dieser "Wahrheit" nicht zur Wahl.
  5. Wenn "die Gesellschaft" gegen Zivildienst ist, dann geht man notfalls sogar für diese "Wahrheit" ins Gefängnis.

Alle diese "Wahrheiten", für die Zeugen Jehovas ihre Karriere geopfert, ihre Familie verloren, ins Gefängnis gegangen und sogar ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, sind inzwischen Schnee von gestern.

Mit anderen Worten, die Opfer waren völlig umsonst. Nicht weil die Betreffenden ihrer eigenen Überzeugung gefolgt sind, sondern weil ihnen das, was "die Gesellschaft" in ihrer endlosen Bücherflut schrieb, glaubwürdiger erschien als das Wort Gottes selbst.

Doch der "treue und verständige Sklave" hat sich nicht etwa für seine Irrtümer entschuldigt. Ganz im Gegenteil. Die zehn "Gesalbten" ganz oben im Wachtturm haben bisher keinen Fehlschlag ihrer zahlreichen "Wahrheiten" eingestanden. Die Endzeit-Hysterie vor 1975 wurde als Übereifer einzelner Christen abgetan, die abgelaufene Generation von 1914 wurde als "neue Erkenntnis" umgedeutet und das Problem Zivildienst wich einem "erweiterten Verständnis".

Ein Problem hat die WTG allerdings, wenn es um das Verbot von Bluttransfusion und demokratische Wahlen geht. Diese schon seit Jahrzehnten penetrierten "Wahrheiten" sitzen einfach zu tief in den Köpfen der Gläubigen, als daß man sie von heute auf morgen aufgeben könnte. Es gilt daher, einen Weg zu finden, um diese faktischen Verbote aufzuheben und den "Brüdern" dennoch das Gefühl zu vermitteln, es habe sich im Grunde genommen nichts geändert.

Die Lösung ist ganz einfach. Sie heißt Gewissensentscheidung.

Einen ersten Probelauf dieser neuen Taktik der WTG konnten die Ältesten aus den neuen Bundesländern erleben, die man im Oktober 1993 in Berlin zusammengetrommelt hatte, um ihnen klar zu machen, wie das mit der Theokratie zu verstehen sei (siehe: "Legt euer Geld zu Füßen der Apostel nieder"). Dabei ging es zwar vorrangig um den Bau von Königreichssälen. Doch ein Vortrag beschäftigte sich auch mit dem Thema Zivildienst. Der Redner hieß Uwe Herrmann und wurde als Mitglied der Rechtsabteilung in Selters vorgestellt. Seine Ausführungen machen deutlich, welche scheinheilige Argumentation man in Zukunft von der WTG zu erwarten hat:

Die Wahrung der Neutralität ist eine Angelegenheit, die jedem Zeugen Jehovas persönlich in seinem biblisch geschulten Gewissen berührt"

lauteten die einleitenden Worte, ergänzt durch den Hinweis zum Thema Zivildienst:

Die leitende Körperschaft... hat sich daher stets irgendwelcher Stellungnahmen enthalten. Niemand wünschte, andere in ihrer Gewissensentscheidung zu beeinflussen."

Es folgte eine ebenso falsche wie dreiste Erklärung, warum es angeblich ohne jegliche Einflußnahme in Sachen Zivildienst trotzdem zu einer so einmütigen Gewissensentscheidung gekommen sei:

Das Zivildienstverhältnis ist ebenfalls auf Befehl und Gehorsam aufgebaut, wie das Wehrdienstverhältnis. Der Zivildienst ist Erfüllung der Wehrpflicht. Der Zivildienst ist von seiner Anlage her mit der zivilen Verteidigung verknüpft. Und so erklärten die einzelnen Brüder aufgrund ihrer eigenen Gewissensentscheidung, daß sie die Ausübung des Zivildienstes nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können."

Die WTG will also allen Ernstes der Öffentlichkeit weis machen, daß alle jungen Zeugen Jehovas in der Vergangenheit den Zivildienst einzig und allein aufgrund ihrer persönlichen Überzeugung ablehnten. Seltsam ist allerdings, daß diejenigen, die sich bewußt für den Zivildienst entschieden, von der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden. Noch seltsamer ist, daß diese angeblich "eigene Gewissensentscheidung" plötzlich völlig anders ausfällt, seitdem die WTG in Sachen Zivildienst zu einer "erweiterten Erkenntnis" gekommen ist.

Mit anderen Worten, wenn die WTG Begriffe wie "eigene Gewissensentscheidung" oder "persönliche Entscheidung" in den Mund nimmt, dann handelt es sich lediglich um Stichworte einer neuen Taktik, mit der sich die "leitende Körperschaft" mal wieder aus der Verantwortung stehlen möchte.

Neuestes Beispiel ist die Übereinkunft zwischen der WTG und der Bulgarischen Regierung. Belege der Europäischen Kommission für Menschenrechte zeigen, daß sich die WTG ausdrücklich dazu verpflichtet hat, ihren Mitgliedern keine Anweisungen zu geben, was die Ablehnung von Bluttransfusionen angeht und auch von jeglichen Sanktionen oder Kontrollen Abstand zu nehmen.

Zeugen Jehovas, die unter anderem durch InfoLink (heute: Netzwerk Sektenausstieg) von dieser Übereinkunft erfuhren, riefen beim eigens zur Verhinderung von Bluttransfusionen gegründeten Krankenhaus-Verbindungskommitee in Selters an. Sie berichten von widersprüchlichen Antworten auf die Frage, ob es denn in Sachen Bluttransfusion eine "neue Erkenntnis" gäbe. Einmal soll gesagt worden sein, die bulgarische Regierung hätte hier wohl etwas mißverstanden, dann wieder war von Falschdarstellungen in der Presse die Rede. In jedem Fall wurde aber beteuert, Bluttransfusionen wären schon seit jeher eine persönliche Gewissensentscheidung jedes einzelnen Zeugen Jehovas.

Eine erste klare Anweisung, was ein Zeuge Jehovas in der Öffentlichkeit sagen sollte, wenn es um strittige Lehren der WTG geht, ist im oben erwähnten Wachtturm zu finden. Auf Seite 19 heißt es:

Statt zu sagen: "Die Gesellschaft lehrt..." verwenden viele Zeugen Jehovas Formulierungen wie: "Gemäß meinem biblischen Verständnis...". Dadurch weisen sie ausdrücklich auf die persönliche Entscheidung hin ... und vermeiden es außerdem, den falschen Eindruck zu erwecken, Zeugen Jehovas würden irgendwie dem Diktat einer religiösen Sekte unterliegen."

Danach folgt eine Lobrede auf die persönliche Freiheit des Einzelnen, wobei jedoch auch deutlich darauf hingewiesen wird, an welcher Stelle diese angebliche Freiheit für einen Zeugen Jehovas endet:

Da jeder ... ein Geschöpf mit einem freien Willen ist, hat sich jeder persönlich dazu entschieden, ... politisch neutral zu bleiben, sich des Blutes zu enthalten... Es sind Entscheidungen ..., die sich voraussichtliche Zeugen Jehovas persönlich erwählen, bevor sie den Schritt zur christlichen Hingabe machen."

Danach folgt eine Lektion über die Rolle des "treuen und verständigen Sklaven", also der anonymen geistige Führung der Zeugen Jehovas. Dabei ist viel von "Empfehlungen", "Hinweisen", "Anleitungen" und "biblischem Rat" die Rede. Es wird also geschickt jede Vokabel vermieden, aus der sich eine Anordnung oder ein Verbot ableiten ließe. Stattdessen wird mit einem Bibelzitat aus Hebräer 13:17 klargestellt, wie der aus freiem Willen entscheidende Zeuge Jehovas die Entscheidungen seiner Führung aufzunehmen hat: "Gehorcht denen, die unter euch die Führung übernehmen und seid unterwürfig..."

Im Klartext: Lieber Leser, du hast dich völlig freiwillig dazu entschieden, ein Zeuge Jehovas zu sein. Als solchen sehen wir dich aber nur an, so lange deine freien Gewissensentscheidungen auch den aktuell gültigen "Wahrheiten" entsprechen. Aber sage nie wieder in der Öffentlichkeit, wir hätten dich davon abgehalten, dein demokratisches Wahlrecht auszuüben. Und behaupte niemals, wir seien daran schuld, wenn du deinem Kind eine Bluttransfusion verweigerst.

Es kann also davon ausgegangen werden, daß sich die WTG in Zukunft immer mehr von den Handlungen ihrer Mitglieder distanziert und von einer "persönlichen Gewissensentscheidungen" spricht. Leider ist jedoch auch zu erwarten, daß immer mehr Zeugen Jehovas diese Taktik nicht durchschauen und ihr ferngelenktes Verhalten als eigene Entscheidung ausgeben.