Schon seit ihren ersten Anfängen gehörten die Zeugen Jehovas zu den Sekten, die immer wieder neue Rechenkünste anstellten, um das baldige Ende dieses "Systems der Dinge" vorherzusagen. Doch damit ist jetzt anscheinend endgültig Schluß.

Mit der Ausgabe des Wachtturm vom 15. September 1998 wird jedenfalls ein Schlußstrich unter das gezogen, was jeder Zeuge Jehovas unter dem Begriff "Chronologie" versteht.

Nur wenige Zeugen Jehovas haben sich selbst damit auseinandergesetzt, doch jeder hat schon einmal von der "Chronologie" gehört, die angeblich ohne jeden Zweifel auf das Jahr 1914 deutet und damit beweist, daß genau in diesem Jahr das zweite Kommen Christi stattgefunden hat. Praktischerweise natürlich im Himmel und damit für unsere Augen nicht wahrnehmbar. Auch als man noch fest an das "Ende dieses Systems der Dinge" im Jahre 1975 glaubte, mußte sie als Beweis dafür herhalten. Damals rechneten die Zeugen Jehovas im Brustton der Überzeugung vor, daß genau in diesem Jahr 6.000 Jahre Menschheitsgeschichte abelaufen seien und daher der Beginn eines tausendjährigen Reiches unter der Herrschaft Christi anstehe.

Doch nichts ist vergänglicher als die Wahrheit. Zumindest wenn sie aus Brooklyn kommt und vom "treuen und verständigen Sklaven" verkündet wird, wie die Zeugen Jehovas ihre geistigen Vordenker nennen.

So haben die Zeugen Jehovas auch jahrzehntelang gepredigt, innerhalb einer Generation nach dem Jahr 1914 würde dieses "System der Dinge" sein Ende finden. Bis diese These nicht mehr haltbar war und die Wachtturm-Gesellschaft sich 1996 zu einer neuen "Erkenntnis" durchrang. Demnach mußte das Ende dieser Welt nicht mehr innerhalb einer Lebensspanne nach 1914 staffinden, sondern an jedem beliebigen anderen Zeitpunkt danach. Vielleicht schon morgen. Aber vielleicht auch erst in vielen Jahrzehnten.

Die "Chronologie" ist der nächste Grundpfeiler im Lehrgebäude der Zeugen Jehovas, der jetzt der Realität geopfert wird. So steht im Wachtturm vom 15. September 1998 auf Seite 14, Abschnitt 19:

Nachdem die ersten Heiden zu Nachfolgern Jesu geworden waren, standen den ersten Christen keine weiteren chronologischen Einzelheiten zur Verfügung, die über jene in Daniel, Kapitel 9 hinausgingen. Ereignisse, nicht Chronologie, sollte ihnen sagen, daß das jüdische System bald zu Ende gehen sollte.

Weiter hinten, in Abschnitt 20 heißt es dann:

Unsere Überzeugung, daß wir in der Zeit des Endes leben und daß unsere Erlösung nahe ist, beruht nicht allein auf Chronologie, sondern auf Ereignissen, die beweisen, daß sich biblische Prophezeihungen erfüllen.

Mit anderen Worten, die ganze abenteuerliche Berechnung, die mit dem Jahr 607 vor Christus begann und passend zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 endete, gehört damit ebenfalls zu den "Wahrheiten", die keine mehr sind. Eine Erkenntnis übrigens, die ein gewisser Olaf Jonsson schon vor Jahrzehnten hatte. Mit dem Unterschied, daß er dafür von der Gemeinschaft mit seinen Glaubensbrüdern ausgeschlossen wurde, weil er nicht mehr an die "Wahrheit" glauben konnte, die damals noch offizieller Stand der "Erkenntnis" aus Brooklyn war.

Es fragt sich nur, wie lange die Zeugen Jehovas dieses durchsichtige Spiel noch mitmachen. Immer wenn sich eine "Wahrheit" nicht mehr halten läßt, gelangen die geistigen Führer in Brooklyn zu einer "erweiterten Erkenntnis" und biegen die Sache so zurecht, daß sie wieder ins Bild paßt.

Daß ihnen dabei selbst nicht allzu wohl zu sein scheint, ist allein an der Tatsache zu erkennen, daß eine neue Richtung auf dem Weg der "Wahrheit" nie klar und offen ausgesprochen wird, sondern irgendwo im endlosen Wortschwall eines langen Wachtturm-Artikels versteckt wird. Damit möglichst wenige merken, daß man wieder einmal eine fundamentale Lehre gekippt hat. Und damit man später sagen kann, das wäre doch eigentlich schon immer so gewesen.

Nur, einen Eindruck von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit macht das Ganze nicht.