Sie predigen Liebe und verschweigen dabei, daß ihr Denken von einer Organisation beherrscht wird, die sie mit einer hohen geistigen Mauer umgibt und überall Wachttürme aufstellt, um sie ständig im Blick zu haben.

Die Zeugen Jehovas vertreten nicht nur einen kindlichen Glauben an ein Paradies im Disney-Stil. Sie werden auch dazu angehalten, alle zu hassen, die sich gegen die Wachtturm-Gesellschaft stellen.

Wo ein Wachtturm steht, ist eine Mauer meist nicht fern. In früheren Zeiten dienten Mauern in erster Linie zum Schutz. Mauern sind aber auch ein ideales Mittel, um Menschen voneinander zu trennen. Die Freunde von den Feinden. Die Gefangenen von den Freien. Die Gläubigen von den Ungläubigen. Die Unwissenden von den Wissenden. Und dafür braucht man noch nicht einmal Mauern aus Stein, sondern muß nur Mauern in den Köpfen der Menschen errichten, die hoch genug sind, um unerwünschtes Gedankengut fern zu halten.

Eine Erkenntnis, die eigentlich jedem Zeugen Jehovas bewußt sein sollte, denn was das Aufbauen von geistigen Mauern angeht, hat die Wachtturm-Gesellschaft eine Geschichte, die nunmehr 125 Jahre zurückreicht. Nicht umsonst fühlen sie sich im "geistigen Paradies" und nehmen dabei gar nicht wahr, daß es sich in Wirklichkeit nur um ein geistiges Gefängnis handelt, das von der geistigen Mauer einer Organisation umgeben wird, die sinnigerweise unter dem Markenzeichen des Wachtturms auftritt.

Wer diese Schlußfolgerung anzweifelt, muß sich nur einmal klar machen, in welchem Umfang jeder einzelne Zeuge Jehovas im Laufe eines Jahres der Indoktrination seiner Religionsgemeinschaft ausgesetzt wird:

  1. 832 Seiten Wachtturm sind zu lesen.
  2. Dazu noch einmal 832 Seiten Erwachet.
  3. Und 48 Seiten Königreichsdienst
  4. Ganz zu schweigen von zahlreichen Broschüren und Büchern
  5. Jeden Tag heißt es, den "Tagestext" zu betrachten.
  6. Dann muß mit der Familie "studiert" werden.
  7. Ohne dabei das "persönliche Bibelstudium" zu vernachlässigen.
  8. 260 Stunden gehen für Zusammenkünfte drauf.
  9. Dazu noch 6 Tage für Kongresse.
  10. Außerdem soll er mindestens 120 Stunden im Predigtdienst verbringen.
  11. Und gelegentlich beim Bau von Königreichssälen mithelfen.

Mit allen peripheren Zeiten kommt ein durchschnittlicher Zeuge Jehovas dabei gut und gerne auf 1.000 Stunden im Jahr. Das sind 80 Strunden pro Monat. Oder 20 Stunden in der Woche. Oder fast drei Stunden jeden Tag. Und das ist noch sehr vorsichtig gerechnet.

Da ist es dann kein Wunder, wenn er weder Zeit erübrigen kann noch den Kopf frei hat, um Erkenntnisse an sich heran zu lassen, die nicht aus dem Wachtturm-Verlag kommen. Andere Informationsquellen zum Beispiel. Andere Gesichtspunkte. Andere Denkansätze. Oder kritische Überlegungen zu den häufig wechselnden Lehren seiner Religionsgemeinschaft.

Und dieser Zeuge Jehovas geht dann in seiner Nachbarschaft von Haus zu Haus, um Anderen von einem paradiesischen "neuen System der Dinge" zu berichten, in dem kleine Kinder mit großen Löwen spielen und fröhliche Paare in einer gepflegten Parklandschaft spazierengehen und sich gegenseitig üppige Schalen mit exotischen Früchten anbieten (wie es in zahlreichen WT-Publikationen zu sehen ist). Weil er sein ganzes Denken und Handeln einzig und allein auf dieses Paradies fixiert hat, merkt er auch nicht, daß seine geistigen Führer den Starttermin dafür schon mehrere Male verschoben haben und mittlerweile sogar dazu übergegangen sind, die Erfüllung dieser naiven Träume auf eine unbestimmte Zukunft zu vertagen.

Doch für einen echten Zeugen Jehovas bedeutet "die Wahrheit" (wie er seinen Glauben nennt) nicht nur viel Zeit für das Studieren und Verkündigen "der guten Botschaft". Er hat auch meist wenig Interesse daran, aus seinem jetzigen Leben etwas zu machen. Deshalb verschmäht er jegliche höhere Schulbildung, hält Universitäten für eine Einrichtung Satans, in der sich alles um gottlose Lehren, wie die Evolutionstheorie dreht und betrachtet allen Ernstes die "Predigtdienstschule" seiner Versammlung als vollwertigen Ersatz für Bildung überhaupt.

Das Ergebnis ist, daß seine Allgemeinbildung meist sehr begrenzt ist. Und daß sein Weltbild darin besteht, alles, was sich außerhalb der Mauern seines geistigen Paradieses abspielt, als Teil eines von Satan beherrschten und damit dem Untergang geweihten Systems zu betrachten. Daher interessiert er sich weder für Politik, noch nimmt er Anteil am Geschehen seiner Gemeinde oder ist sonst am Geschehen seiner Umwelt interessiert. Im Gegenteil, insgeheim vermutet er hinter jedem katholischen Priester einen Kinderschänder und sieht in jedem braven Familienvater einen potentiellen Ehebrecher. Schließlich lehrt ihn doch der Wachtturm, daß man alle "Weltmenschen" mit Vorsicht genießen muß, weil sie "nicht nach biblischen Grundsätzen" leben und folglich alle der Korruption und Unmoral verfallen sind.

So ist es denn auch nicht verwunderlich, daß eine Zeugin Jehovas aus Offenburg der Reporterin des Fernsehsenders VIVA antwortete, daß es so etwas wie Kindesmißbrauch in ihren Reihen nicht gäbe. Aber bei den Katholiken, das weiß man ja, da ist das ja gang und gäbe. Es ist zu befürchten, daß die Betreffende das wirklich glaubt.

Nachrichten sind für den Zeugen Jehovas nur die Bestätigung, daß es mit dieser Welt eindeutig dem Ende zugeht. Jedes Erdbeben führt er auf biblische Prophezeihungen zurück, genauso wie jeden Mord auf der Straße und jeden Krisenherd auf unserem Planeten. Daß das alles schon seit Jahrtausenden so ist und unser Zeitalter durchaus nicht zu den Schlimmsten aller Zeiten gehört, nimmt er dabei nicht zur Kenntnis. Stattdessen plappert er Wachtturm-Zitate nach, in denen Konrad Adenauer zitiert wird, der einmal gesagt haben soll, 1913 wäre das letzte normale Jahr in der Weltgeschichte gewesen.

Die unsichtbaren Mauer, die den typische Zeuge Jehovas umgibt, verhindert auch, daß er kritisches Gedankengut über sein geistiges Paradies an sich heranläßt. So läßt er sich zum Beispiel von seiner Religion verbieten, Bücher von Kritikern zu lesen. Und wenn ein guter Freund oder gar ein naher Verwandter von der Glaubensgemeinschaft exkommuniziert wurde, darf er sich noch nicht einmal frei fühlen, ihn auf der Straße zu grüßen. Nicht nur das, solche "Abtrünnige" soll er nicht nur meiden, er soll sie sogar regelrecht hassen.

So jedenfalls steht es im Wachtturm vom 1. Oktober 1993:

Die Abtrünnigen zeigen zum Beispiel ihren Haß auf Jehova dadurch, daß sie sich gegen ihn auflehnen. Manche Abtrünnige behaupten zwar, Gott zu kennen, aber sie lehnen Lehren und Anforderungen ab, die in seinem Wort dargelegt werden. Andere behaupten, an die Bibel zu glauben, verwerfen jedoch Jehovas Organisation und setzen alles daran, deren Werk zu behindern. Wenn sie bewußt solche Schlechtigkeit wählen... dann muß ein Christ sie als solche hassen. Wahre Christen teilen Jehovas Empfindungen gegenüber Abtrünnigen; sie möchten gar nicht wissen, was für Vorstellungen diese vertreten. Im Gegenteil, sie empfinden Ekel gegenüber denjenigen, die sich zu Gottes Feinden gemacht haben.

Vermutlich muß man sich erst einmal von dieser Organisation gelöst haben, um die billige Rhetorik hinter diesen Worten zu durchschauen.

Zunächt einmal wird einfach die Behauptung aufgestellt, daß sich alle, die nicht mehr die Lehren der Zeugen Jehovas vertreten, automatisch auch gegen Gott auflehnen. Dann wird ganz selbstverständlich der Glaube an der Bibel mit dem Gehorsam gegenüber "Jehovas Organisation" (gemeint ist die Wachtturm Gesellschaft) gleichgesetzt und damit der Umkehrschluß suggeriert, daß alle, die sich von dieser Organisation loslösen, automatisch auch keinen Glauben an die Bibel haben und "wahre Christen" (in der Wachtturm-Literatur ein Codewort für "Zeugen Jehovas") daher überhaupt keinen Grund haben, sich für das zu interessieren, was solche Abtrünnigen von sich geben.

Hinter diesen Worten steckt das Selbstverständnis, das nur Zeugen Jehovas "wahre" Christen sind und daß die Wachtturm-Gesellschaft nichts Geringeres als Gottes Organisation auf Erden ist. Eine Auffassung, die sich allerdings nur aufrecht erhalten läßt, wenn man die in dieser Organisation gefangenen mit einer möglichst hohen geistigen Mauer umgibt. Und wenn man überall Wachttürme aufstellt, um sie ständig im Blickfeld zu haben. Sonst besteht nämlich die große Gefahr, daß sie einen Blick über die Mauer werfen. Und dann stellen sie sich schnell die Frage, ob es wohl stimmen kann, daß Jehova eine Organisation auf Erden hat, deren mittlerweile hundertfünfundzwanzigjährige Geschichte eine einzige Verkettung von falschen Voraussagen und sich ständig ändernden Lehren ist. Zumal in seinem Buch, der Bibel, mit keinem Wort von so einer Organisation die Rede ist.

Daß die WTG von ihrer selbstverherrlichenden Haltung nicht abrückt, konnte man schon ein Jahr später in der selben Zeitschrift nachlesen:

Die Speise auf dem Tisch der Dämonen ist giftig. Man denke nur einmal an die Speise, die von der Klasse des bösen Sklaven, den Abtrünnigen, verbreitet wird. Sie ist weder nahrhaft noch erbauend; sie ist nicht förderlich. Das kann sie auch gar nicht sein, weil die Abtrünnigen aufgehört haben, sich am Tisch Jehovas zu ernähren. Aufgrund dessen ist von der gesamten neuen Persönlichkeit, die sie entwickelt hatten, nichts mehr übrig. Nicht der heilige Geist treibt sie an, sondern gehässige Bitterkeit. Sie sind von einem einzigen Ziel besessen: ihre früheren Mitsklaven zu schlagen, wie Jesus vorausgesagt hat ... "Es scheint ihnen die Bosheit eingeimpft zu sein, satanische Tollwut scheint sie ergriffen zu haben. Etliche von ihnen schlagen uns und behaupten sodann, daß wir geschlagen hätten. Sie sind bereit, verwerfliche Unwahrheiten zu sagen und zu schreiben und sich herabzulassen, gemeine Dinge zu tun." Ja, Abtrünnige veröffentlichen Literatur voller Entstellungen, Halbwahrheiten und absoluter Unwahrheiten.

Der Wachtturm, 1. Juli 1994, Seiten 11, 12