Die Behauptung der Zeugen Jehovas, Jesus sei der Mittler ausschließlich für die 144.000 und nicht für die Mehrzahl der „nicht gesalbten“ Zeugen Jehovas, setzt voraus, dass diese Zahl buchstäblich aufgefasst wird.

Dies sei zwingend, um diese buchstäbliche Anzahl von der aus einer unbestimmten Anzahl von Menschen bestehenden „[großen] Volksmenge“, die kein Mensch zählen konnte...“ (Off 7:9, 14), unterscheiden zu können. Doch welcher gedankliche Spagat ist notwendig, um diese Lehre aufrecht erhalten zu können?

Die aktuellste Information hierüber findet sich im Wachtturm vom 1. September 2004, S. 30 („Fragen von Lesern“), wo dies erneut klargestellt wird:

Beachten wir den Unterschied, der in Offenbarung, Kapitel 7 und in den Versen 4 und 9 gemacht wird. Wie Johannes zeigt, ist die Zahl der ersten Gruppe, das heißt derjenigen, „die versiegelt waren“, festgelegt. Die Zahl der anderen Gruppe - der „großen Volksmenge“ - ist dagegen unbestimmt. Das lässt uns zu dem logischen Schluss kommen, dass die Zahl 144.000 buchstäblich aufzufassen ist. Wäre sie symbolisch und würde sie sich auf eine zahllose Menge beziehen, wäre der deutliche Unterschied, der in den beiden Versen gemacht wird, unnötig. Der Kontext lässt daher ganz klar erkennen, dass es sich bei der Zahl 144.000 um eine buchstäbliche Zahl handelt.

Des Weiteren sind komplizierte hermeneutische Kunstgriffe seitens der Gesellschaft erforderlich, um zu einer solchen Auffassung zu gelangen. Z. B. wird nicht geklärt, warum eine solche Unterscheidung zwischen den Versen 4 und 9 überhaupt erforderlich sein soll. Es wird lediglich behauptet, eine solche Differenzierung sei vorhanden. In einem Zirkelschlussverfahren wird gewissermaßen unterstellt: Die Tatsache, dass die 144.000 eine buchstäbliche Zahl ist, beweist, dass zwischen der „großen Volksmenge“ in Vers 9 und den 144.000 Gesalbten in Vers 4 unterschieden wird. Oder anders ausgedrückt: Die Tatsache, dass es sich bei der großen Volksmenge in Vers 9 um eine unbestimmte Zahl handelt, beweist, dass die Zahl in Vers 4 buchstäblich aufzufassen ist. Da es sich hier um einen Zirkelschluss handelt, ist natürlich auch die Schlussfolgerung logisch, wie oben im Wachtturm festgestellt werden kann.

Aber wenn eine Schlussfolgerung logisch ist, bedeutet es nicht unbedingt, dass die diesem Schluss zugrunde liegende Prämisse der Wahrheit entspricht. Die Behauptung der Gesellschaft ist also „logisch“, obwohl der Schluss, die 144.000 sei eine buchstäbliche Zahl, auf einer falschen Prämisse beruht. Mit anderen Worten: Der Wachtturm setzt ohne Begründung etwas als gegeben voraus und baut darauf seine Beweisführung. Sie begründet zwar den Unterschied zwischen den Vers 4 und Vers 9, verzichtet jedoch darauf, einen Beweis dafür zu liefern, warum die 144.000 eine buchstäbliche Zahl sein soll. Eine solche Argumentation des Wachtturms kann man ganz bestimmt nicht als wissenschaftlich bezeichnen.

Ich möchte nun zeigen, warum die Prämisse der Gesellschaft falsch ist.

Gemäß der Auffassung der Wachtturm-Gesellschaft werden nur Gesalbte auch als „Kinder Gottes“ betrachtet. So heißt es im Einsichten-Buch:

Gott bewies seine Liebe, indem er seinen Sohn als ein Sühnopfer für unsere Sünden sterben ließ und indem er durch Christus dafür sorgte, daß seine Gesalbten Kinder Gottes werden ([1Jo] 3:1; 4:10) (Bd. 1, S. 1380)

Im dem Buch Unterredungen anhand der Schriften wird der Unterschied auf der S. 425 noch deutlicher gezeigt:

Joh. 1:12, 13: „So viele ihn [Jesus Christus] aber aufnahmen, denen gab er Befugnis, Kinder Gottes zu werden, weil sie Glauben an seinen Namen ausübten; und sie wurden nicht aus Blut noch aus dem Willen des Fleisches, noch aus dem Willen eines Mannes, sondern aus Gott geboren.“ („So viele ihn aber aufnahmen“ bezieht sich nicht auf alle Menschen, die Glauben an Christus ausgeübt haben. Aus Vers 11 geht hervor, wer gemeint ist [„sein eigenes Volk“, die Juden]. Dasselbe Vorrecht wurde anderen aus der Menschheit zugänglich gemacht, doch nur einer ‚kleinen Herde’.)

Es trifft zwar zu, dass die Juden Jesus verworfen hatten und ihn daher gemäß Joh. 1:11 nicht aufgenommen haben. Dass sich aber der Vers 12 nur auf eine „kleine Herde“ bezieht, geht daraus natürlich nicht hervor:

In der Neuen Jerusalemer Bibel wird der Vers wie folgt wiedergegeben:

Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, [...]

Der Ausdruck „so viele“ (NWÜ) bzw. „Allen“ (NJB) weist doch auf eine unbestimmte Anzahl Gesalbter hin, aus der die Kinder Gottes bestehen würden (Siehe auch unten Röm. 6:16, 17). Selbst wenn sich dieser Vers nur auf diejenigen „Gesalbten“, wie Jehovas Zeugen sie auffassen, beziehen würde, so wäre doch die Zahl weiter unbestimmt. Das beweist, dass die Zahl 144.000 nicht buchstäblich aufzufassen ist. Alle können Jesus Christus aufnehmen und daher seine Kinder werden. Und diese Kinder Gottes sind auch tatsächlich gesalbt:

Der Geist selbst bezeugt mit unserem Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Wenn wir also Kinder sind, sind wir auch Erben, nämlich Erben Gottes, doch Miterben mit Christus, vorausgesetzt, daß wir mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden. (Röm. 8:16, 17)

Der Klammerzusatz im obigen Wachtturm beweist zudem überhaupt nichts. Dass das gleiche Vorrecht nur einer „kleinen Herde“ (= den Gesalbten) zuteil wurde, steht nirgendwo geschrieben. Interessanterweise verweist der Querverweis in Lk. 12:33, wo von einer „kleinen Herde“ die Rede ist, auf Joh. 10:16. Dort spricht Johannes von den anderen Schafen, „die nicht aus dieser Hürde sind.“ Wenn sich also die „kleine Herde“ nur auf die Gesalbten bezieht, warum dann der Querverweis auf Joh. 10:16, in dem die Wachtturm-Gesellschaft die „anderen Schafe“ als „Nichtgesalbte“ betrachtet?

Die Wachtturm-Organisation muss schon einen riesen Spagat machen, um eine künstliche Unterscheidung zwischen den 144.000 „Gesalbten“ und den „anderen Schafen“, den „Nichtgesalbten“, herbeizuführen. Die Bibel kennt eine solche Unterscheidung nicht.