Nachfolgender Bericht aus Quebec, Kanada, beschreibt den Tod eines Zeugen Jehovas im Beisein seiner Familie und des „Krankenhaus-Verbindungskomitees“, die fest davon überzeugt waren, es sei sein Wille, lieber zu sterben, als sich eine Bluttransfusion geben zu lassen.

Tod in der Stadt Quebec

Von Jonathan Levoie

Am 18. Dezember 2006 erhielt ich eine E-Mail von meiner Schwester, welche mir mitteilte, dass mein kleiner Bruder im HÔPITAL SAINT-FRANÇOIS D'ASSISE in der Stadt Québec im Koma läge. Da ich die E-Mail um 3.00 Uhr nachts erhalten hatte, begab ich mich am nächsten Morgen zu ihm.

Am ersten Tag traf ich viele Zeugen Jehovas im Zimmer meines Bruders. Sie alle stellten sich als „Freunde“ vor. Als ich sie näher befragte, in welcher Beziehung sie zu ihm stünden, antwortete keiner von ihnen und verließen das Zimmer. Dann traten mein Großvater Lavoie und einer meiner Onkel ein, die ich seit 15 Jahren nicht gesehen hatte. Ein paar Minuten später kam auch mein Vater Jocelyn ins Zimmer. Die drei sind Zeugen Jehovas. Wir redeten über dies und das. Immerhin hatte ich meinen Großvater und Onkel seit 15 Jahre und meinen Vater seit 7-8 Jahre nicht gesehen. Jocelyn fragte mich, wie ich davon Kenntnis bekommen habe. In diesem Moment erschien es mir, als sei er besorgt darüber, dass ich informiert sei. Wir redeten auch über die Gesundheit meines Bruders, Jean-Claude. Es folgt nun, was er mir berichtete.

Jean-Claude war wegen eines weichen Gewebesarkoms (Tumor) im Darm ins Krankenhaus eingewiesen worden.

Diese Art von Tumor ist weder bösartig noch gutartig und bereitet keine Probleme, sofern er unter der Haut liegt. Tatsächlich wurden meinem Bruder einige Tumore in der Vergangenheit entfernt; es fing bereits wenige Monate nach seiner Geburt damit an. In den letzten Jahren haben die Ärzte herausgefunden, dass das Entfernen eigentlich mehr Probleme macht, als wenn man sie dort belässt, wo sie sind. Wenn man operierte, riskierte man, dass sich der Tumor in umliegendes Gewebe ausbreitete.

Meine Mutter leidet an der gleichen Krankheit. Sie wurde in den vergangenen 10 Jahren jedes Jahr deswegen operiert. Ihr Darm und das Rektum mussten entfernt werden. Aber sie lebt noch.

Da sich der Tumor am Dünndarm meines Bruders befand, musste etwas unternommen werden. Sie entfernten einen Teil seines Darms und legten einen Bypass um den Tumor und beließen ihn dort, wo er war, um eine Ausbreitung zu verhindern. Die Operation war erfolgreich. Mein Bruder verbrachte zwei Wochen im Hospital und wurde dann entlassen. Aber acht Tage danach kam er wieder in die Notaufnahme. Er verlor seine Sprachfähigkeit, seine Sehkraft und konnte kaum noch laufen. Er wurde wieder auf die Intensivstation gebracht, wo er ins Koma fiel. Dort verbrachte er bereits fünf Wochen, bevor meine kleine Schwester über die Situation in Kenntnis gesetzt wurde. Ich war kein Zeuge dieser Geschehnisse, aber mein Vater erzählte mir es. Die Ärzte bestätigten den Vorfall, erwähnten aber noch etwas Entscheidendes, das mein Vater mir vorenthielt.

Als ich meinen Bruder das erste Mal sah, war er wirklich in schlechter Verfassung. Seine Haut war gelblich und bleich. Seine Hände waren fast weiß. Wer jemals einen nur leicht geschminkten Leichnam in einem Sarg gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Genauso sah mein Bruder aus. Es ist das gleiche Aussehen, die ein Körper hat, wenn man alle Flüssigkeit aus ihm entfernt hat.

An diesem Morgen erzählte mir Jocelyn, dass er nicht in der Lage war, einen Arzt abzufangen, damit er ihn über den gegenwärtigen Zustand meines Bruders hätte unterrichten können. Ich wurde wirklich misstrauisch wegen des Blutproblems und glaubte allmählich, dass die Ärzte wohl sauer auf sie seien, weil sie aus religiösen Gründen eine Bluttransfusion für meinen Bruder ablehnten. Daher sagte ich Jocelyn, dass ich versuchen würde, mich mit ihnen (den Ärzten) zu treffen, damit sie mit mir sprechen. Als mein Vater fort war, ging ich zur Krankenschwester. Ich wusste, dass, wenn die Blutfrage der Grund war, würden sie nicht in Gegenwart meines Vaters mit mir reden. Sobald er also gegangen war, ging ich zur Krankenschwester und bat darum, mit dem Arzt zu sprechen. Ich erwähnte auch, dass ich KEIN Zeuge Jehovas sei. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass höchstens 10 Minuten später der Arzt im Zimmer meines Bruders war. Der Arzt meines Bruders berichtete mir folgendes:

Alles, was mir mein Vater erzählte, träfe zu. Nur auf einen Punkt sei er nicht näher eingegangen: Vor der OP betrug der Hämoglobin-Wert meines Bruders 86. Normale Menschen haben einen Hämoglobin-Wert von 160. Ärzte führen keine Operationen durch, wenn der Wert bei 80 liegt. Da der Blutwert meines Bruders knapp über dem Limit lag, fingen sie mit der Operation an. Sie unterrichteten meinen Bruder über das damit verbundene Risiko, aber mein Bruder und seine Frau unterschrieben Formulare für die Ablehnung von Behandlungen. Die Ärzte waren ratlos, warum der Blutwert meines Bruders so niedrig war. Bei niemandem in meiner Familie, der an Gardner-Syndrom litt, trat zuvor ein solches Problem auf. Eigentlich benötigte meine Mutter, die jedes Jahr operiert wurde, niemals eine Bluttransfusion. Auch ein einige Anverwandte wurden operiert, aber keiner von ihnen benötigte jemals eine Transfusion.

Da die Blutwerte meines Bruders nach der Operation weiter stabil waren, entließen sie ihn nach zweiwöchiger Beobachtung. An diesem Punkt begann sein Blutwert zu fallen. Er war kaum bei Bewusstsein, als er wieder ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Er fiel nach ein bis zwei Tagen ins Koma. Die Ärzte verabreichten ihm dann Medikamente, um ihn weiter im Koma zu halten. Er sollte das Bewusstsein nie wieder erlangen. Obwohl die Ärzte ihn darauf hinwiesen, dass dies den Tod unweigerlich zur Folge hätte, unterschrieb er erneut die Papiere, kurz bevor er ins Koma fiel. Meine Eltern wiederholten immer wieder, dass auch schon andere im gleichen Zustand, in der sich mein Bruder befand, überlebt hätten. Die Ärzte gingen dem [dieser Behauptung] nach und berichteten mir, sie hätten nicht einen einzigen Fall entdeckt, bei dem ein Patient mit einem derart niedrigen Blutwert ohne Bluttransfusion überlebt habe, auch beim Einsatz alternativer Behandlungsmethoden nicht. Zu diesem Zeitpunkt lag der Blutwert meines Bruders bei 26. Jawohl, 26! Damit liegt er fast viermal unter dem bei Operationen zulässigen Mindestwert. Wieder einmal war die Propagandamaschinerie der Zeugen Jehovas am Laufen. Ich erinnerte mich, oftmals das Gegenteil im Wachturm gelesen zu haben.

Die Ärzte ließen meinem Bruder jegliche denkbare alternative Behandlung zukommen, aber ohne Erfolg. Seine Blutwerte stiegen nicht. Sie blieben bei 26. Ein so niedriger Blutwert hat schon manch andere gravierende und gefährliche Probleme verursacht: Sauerstoffmangel für Gehirn und Muskeln, was später eine Verringerung des Muskelumfangs und der Muskelstärke zur Folge hat; Infektionen, Geschwüre und erhöhte Herzfrequenz, weil das Herz den Blutmangel zu kompensieren strebt. Ohne medikamentöse Behandlung lag die Herzfrequenz meines kleinen Bruders bei 198 Schlägen [pro Minute]. Mit herzfrequenzsenkendem Morphium betrug sie 140-150 pro Minute. Ein Marathonläufer hat 130-140. Das Herz meines Bruders würde also mit sehr hoher Morphindosis immer noch schneller schlagen, als bei einem Marathonlauf. Dieser Wert hielt sich bei ihm 5 Wochen lang. Das Herz kann mit dieser Frequenz nicht überleben. Jeder Arzt war überrascht, dass er noch lebte.

Nach 5 Wochen beschlossen meine Eltern schließlich, mit meiner Schwester, welche die Zeugen Jehovas ebenfalls verlassen hat, Kontakt aufzunehmen. Daraufhin informierte sie mich per E-Mail, da sie auf einer Parisreise war.

An jenem Abend tauchte meine Mutter Lyse zum ersten Mal auf. Ich telefonierte gerade mit der Frau meines kleinen Bruders, als sie den Aufzug verließ. Als Jocelyn mich sah, zeigte sie auf meine Mutter und sagte: „Sieh mal, wer da ist!“

Sein Ausdruck und Klang in seiner Stimme muteten eher wie ein Ausruf an, der eines Vaters, der seinen Sohn auf dessen Mutter aufmerksam macht, die ihn seit Jahren nicht gesehen hat. Sie reagierte mit einem abfälligen „Pfff“-Ton, drehte sich mit Verachtung auf dem Absatz um, um weiter mit einem beliebigen ZJ, den ich Mister Arrogant nenne, zu reden. Ich werde später erklären, warum ich ihn so nannte.

Als ich sah, dass meine Mutter über meine Anwesenheit nicht erfreut zu sein schien. nahm ich Jocelyn beiseite. Ich begann ihm zu erzählen, dass ich mich mit den Ärzten getroffen hätte und mir berichteten, dass Jean-Claudes Zustand auf Blutarmut zurückzuführen sei und er sterben würde, falls er keine Bluttransfusion bekäme, da alternative Behandlungsmethoden nicht ansprächen. In diesem Moment drehte sich meine Mutter um und schrie mich an: „Was mischt du dich ein; kümmere dich um deinen eigenen Kram!“

Ich versuchte, ruhig zu bleiben und erzählte ihr, dass Jocelyn ein aktuellen Bericht wollte, aber keinen Arzt abfangen konnte. Und da ich schon mit den Ärzten gesprochen hätte, könne ich nur das wiedergeben, was sie mir mitgeteilt hätten. Sie schrie mich weiter wie verrückt an. Da ging mein Temperament mit mir durch. Ich schrie zurück: „Das ist verdammt noch mal meine Sache; es geht hier um meinen kleinen Bruder, ich versuche gerade, das Leben meines kleinen Bruders zu retten!“

Sie antwortete: „Das geht dich nichts an; Jean-Claude wollte es so. Wer bist du, dass du weißt, was er will?“

„Wie zum Teufel kannst du mir erzählen, was er heute will? Er befindet sich seit fünf Wochen in dem scheiß Koma! Keiner kann wissen, was er will.“

In diesem Moment schrie ich aus vollen Lungen. Sie drehte sich nur noch um und ging. Mein Vater sagte gelassen zu mir: „Du weißt, Jonathan, genau das wollte er vor fünf Wochen. Wir folgen nur seinem Entschluss und respektieren seine Entscheidung.“

Als ich ihn anschaute, sah ich, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. Ich beruhigte mich und antwortete: „Du weißt genauso gut wie ich, dass es nicht seine Wahl war. Niemals.“

An diesem Punkt drehte er sich um und folgte meiner Mutter auf die Intensivstation. Sobald meine Mutter zu schreien anfing, versuchte er, sie zu beruhigen. Wer von euch das Verhältnis, das ich zu ihm hatte, kannte, musste genauso überrascht gewesen sein wie ich. Er hat mich immer angeschrieen, und war immer äußerst gewalttätig. Als ich noch jung und bei den Zeugen Jehovas war, hatten meine Freunde solche Angst vor ihm, dass sie nicht zu uns nach Hause kamen, weil sie ihn fürchteten. Doch der Mann, den ich an diesem Tag im Krankenhaus getroffen habe, war völlig anders. Er war ruhig, besonnen. Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, er hätte gewünscht, dass Jean-Claude Blut erhält.

Am nächsten Tag, als ich das Zimmer meines Bruders betrat, reagierte er auf einmal völlig anders. Sobald ich hereinkam, forderte er mich auf, unverzüglich zu gehen oder er würde den Sicherheitsdienst rufen, um mich aus dem Krankenhaus zu entfernen. Ich entgegnete ihm: „Gut! Ruf auch gleich die Armee, denn ich werde nirgendwo hingehen!“

Er ging zur Schwester, um sie zu bitten, den Sicherheitsdienst zu rufen, um mich des Zimmers zu verweisen, worauf die Schwester ablehnend reagierte. Er begann, etwas zu mir zu sagen, aber ich drehte durch. Er sagte mir: „Das geht dich nichts an“.

Ich wiederholte daher noch einmal, was ich bereits meiner Mutter sagte: „Es geht auch mich etwas an, er ist mein Bruder.“ Dass ich versuchen würde, ihn zu retten. Er sagte mir: „Du scheinst zu vergessen, dass Jean-Claude auch unser Sohn ist.“

Meine Antwort darauf war: „Dann beweise zum Teufel noch mal, dass er dein Sohn ist und ihn liebst UND RETTE SEIN LEBEN!“

Er drehte sich um und kehrte zurück in das Zimmer meines Bruders. Zu diesem Zeitpunkt schrien wir beide. Nicht gerade der passende Ort auf einer Intensivstation. Aber die erste Reaktion des Personals war Beifall und Applaus. Sie sagten so was wie: „Meine Güte, tut das gut, jemanden zu sehen, der was auf dem Kasten hat! Schön gesagt! „Gut gemacht! „Gratulation“.

An diesem Punkt verließ ich die Station. Der ganze Verdruss, die Wut, was sich seit Tagen angestaut hatte, stand kurz vor dem Ausbruch. Hinzu kommt noch, dass ich unter meinem Vater zu leiden hatte, aber die Zeugen Jehovas halfen mir, es durchzustehen. Ich war eine tickende Zeitbombe. Während ich dies schreibe, stehen mir die Tränen in den Augen. Es ist so, als ob die ganzen Jahre, in denen ich durch die Hölle ging, wieder hochkommen. Die Oberschwester suchte mich auf. Hätte sie mir die 5-10 Minuten nicht zugehört, wäre ich möglicherweise zurückgegangen, um ihn [den Vater] all die Gewalthandlungen spüren zu lassen, worunter wir all die Jahre zu leiden hatten.

Ich rief einen Freund an, damit er mich abholte. Ich musste zur Hölle noch mal raus hier. Ich konnte nicht länger mit ihm am selben Ort sein.

Mein Bruder war verheiratet. Offensichtlich war ich nicht zur Hochzeit eingeladen gewesen. Daher hatte ich seine Frau nie getroffen. Zeugen Jehovas lehnen jeden Kontakt mit Leuten außerhalb ihrer Sekte ab, insbesondere solche, welche sie mal in ihren Fängen hatten. Als ich meine Telefonnummer der Krankenschwester für die Akte meines Bruders gab, entdeckte ich die Nummer meiner Schwägerin. Ich merkte sie mir und rief sie später an. Das Gesetz sieht vor, dass nur sie den Arzt anweisen darf, meinem Bruder eine Bluttransfusion zu geben. Ich sprach mit ihr eine Stunde, versuchte sie zu überreden, ihm das Blut geben zu lassen, das er benötigte. Ich bekam nicht das Ergebnis, welches ich erhofft hatte. Ehefrauen von Zeugen Jehovas müssen ihren Männern gehorchen und sie in jeder Hinsicht respektieren. Frauen müssen untertan sein. Daher lehnte sie es ab, ihm Blut verabreichen zu lassen; die einzige Grundlage dafür war Gehorsam und Respekt ihrem Mann gegenüber.

Ich hatte fast alle möglichen Karten verspielt. Nicht mal meine Jahre als Berater konnten ihre Entschluss in nur einer Stunde über den Haufen werfen. Gehirnwäsche kann in so kurzer Zeit nicht rückgängig gemacht werden. So versuchte ich am nächsten Morgen einen Anwalt zu konsultieren. Ich rief eine Rechtsabteilung an, unzählige Anwaltsbüros, das Barreau du Quebec, sogar Gerichtssäle, um zu versuchen, mit jemandem zu sprechen. Aber weil es der Freitag vor Weihnachten war, war niemand bei der Arbeit. Als ich nach oben zurück in das Zimmer meines Bruders ging, sah ich den Oberarzt. Er teilte mir mit, dass z. Zt. eine Familienkonferenz stattfände. Ich machte mich weiter auf den Weg, um die Medien zu kontaktieren, um Hilfe zu bekommen, einen Richter oder Anwalt zu finden, der zur Arbeit käme.

Einige Jahre zuvor war in der Stadt Quebec eine Frau gezwungen worden, eine Bluttransfusion durch einen Richter zu akzeptieren. Daher wusste ich, dass ich eine Chance hatte wegen des Präzedenzfalles. Doch während der Sprechstunde, die ich beim Arzt hatte, wurde festgestellt, dass die Überlebenschance meines Bruders nun selbst mit einer Bluttransfusion gegenwärtig wirklich gering war. Selbst wenn er überleben würde, war nicht abzusehen, ob sein Gehirn noch funktionieren würde. Er reagierte nicht auf Reize. Bestenfalls hätte er viele Jahre intensiven Trainings vor sich, das er absolvieren müsste. Aber die Ärzte teilten uns mit, dass es so gut wie keine Chance für ihn gäbe, wieder „bei uns“ zu sein. Man könne es nur mit Sicherheit wissen, wenn man ihn von den Geräten trenne. Die Medikamente abzusetzen, so dass er aufwachen könne, falls er noch Bewusstsein habe. Was er nie mehr tat.

Daher entschieden wir, seine Frau, ich und Jocelyn, die Beatmung abzuschalten und die Medikation abzusetzen. Die medizinischen Maßnahmen waren äußerst aufwendig, um ihn am Leben zu erhalten. Jehovas Zeugen drängen mit Hinblick auf aufwendige medizinische Maßnahmen niemandem ihre Ansichten auf. Als ich mit meinem Bruder vor ein paar Jahren darüber sprach, wusste ich daher, dass er es so wollte. Wir waren uns tatsächlich einig, dass wir unter solchen Umständen das gleiche füreinander tun würden. Mir war bewusst, dass es nicht jemand anders oder ein Zeuge Jehovas war, der diese Entscheidung beeinflusste. Das erklärt, warum ich zustimmte, als der Arzt uns wegen des Abschaltens der medizinischen Behandlung befragte.

An dieser Stelle möchte ich seiner Frau danken. Gemäß dem Gesetz war sie die Einzige, die entscheiden durfte. Doch sie sagte mir, dass sie meine Anwesenheit stellvertretend für mich und meine Schwester wünsche, obwohl meine Eltern gegen meine Anwesenheit waren. Sie hätte ohne meine Zustimmung nicht weiter gemacht. Jean-Claude sollte nun am 25. Dezember von den lebenserhaltenden medizinischen Geräten getrennt werden, sobald meine Schwester zurück wäre. Sie musste ihren Urlaub um einige Wochen abkürzen. Wir entschieden zu warten, damit meine Schwester noch etwas Zeit mit Jean-Claude verbringen konnte. Ich ging heim und wartete auf die Rückkehr meiner Schwester.

Während Jean-Claude im Koma lag, öffnete er gelegentlich seine Augen und bewegte sie sogar von einer Seite zur anderen. Doch das waren nur mechanische Bewegungen. Wie ich schon früher erwähnte, reagierte er nicht mehr auf Reize. Würde man seine Augen berühren, würde er nicht reagieren. Es war kein Lebensfunke in ihnen. Sie waren leer. Als ich meine Schwester im Zimmer meines Bruders traf, war auch meine Mutter da. Immer wenn mein Bruder die Augen öffnete, sagte sie ihm Dinge wie: „Ich weiß, Liebling; du willst ihn hier nicht sehen. Wie können ihn aber nicht hinauswerfen lassen. Ich weiß, dass du es aber gern würdest.“

Jedes Mal wenn ich zur Bettseite trat, kam sie herum und drückte mich weg, um sich zwischen meinen Bruder und mich zu stellen. Das entsetzte sogar meine Schwägerin. Das wäre das letzte Mal, dass ich ihn sehen sollte

Am 27. Dezember 2006, um 2.30 Uhr, starb mein Bruder. Ich entschied, nicht dabei zu sein, während er verstarb. Ich wollte dort nicht mit meinen Eltern sein. Ich ging auch nicht zu seiner Beerdigung. Beerdigungen sind für die Lebenden. Zum Königreichssaal der Zeugen Jehovas zu gehen, wäre für mich einem Zugeständnis gleichgekommen, als würde ich den Mörder meines Bruders billigen; als stimmte ich mit ihren falschen und kaltblütigen Glaubensansichten überein. Das sollte keineswegs der Fall sein.

Kehren wir zurück zu Mister Arrogant. Wie ich schon sagte, gaben sich die Zeugen Jehovas stets die Klinke in die Hand. Der Grund weshalb sie kamen, war, sicherzustellen, dass mein Bruder kein Blut bekäme. Ich tat das Gleiche als Teenager. Man stelle sicher, dass erkrankte Zeugen Jehovas sich nicht für eine Transfusion entscheiden oder der Arzt sie verabreicht, wenn der Patient schläft. Einer von ihnen kam jeden Tag. Mehrmals während eines Tages. Gleich nach dem Abschalten von Jean-Claudes medizinischer Unterstützung, vielleicht nach fünf Minuten, traf ich Mister Arrogant im Fahrstuhl. Ich fragte ihn, wer er sei und warum er meinen Bruder dauernd hatte sehen wollen.

Er nannte seinen Namen und gab sich als Freund meines Bruders aus. Er war etwa 45 Jahre alt. Jean-Claude war 26. Das passte nicht. Da ich meinen Bruder kannte, wusste ich, er hätte keine Freunde im Alter von 45. Außerdem war mein Bruder erst vor einem Monat in die Stadt Quebec gezogen. Daher fragte ich den Typ, wie es käme, dass er immer hier sei. Ich fragte ihn, ob noch jemand anders hier sei. Er erzählte mir, dass seine Mutter auch in dem Krankenhaus sei. Deswegen sei er den ganzen Tag hier. Ich fragte ihn, ob er auch ein Zeuge Jehovas sei, der nach meinem Bruder sehen sollte. Wie einer, der im Ring steht, hob er sein Kinn, zog seine Schultern zurück, streckte seine Ellbogen aus, und in wichtigtuerischer Manier sagte er mir (ich zitiere): „Ja, ich bin ein Zeuge Jehovas, und ich bin wirklich stolz darauf!“ Nicht den geringsten Respekt mir gegenüber und meiner Schwester, die mich zurückhielt.

Meine Schwester und ich konnten bezeugen, wie stark die Gehirnwäsche ist, unter der die Zeugen Jehovas durch die Wachtturm-Bibel- und Traktatgesellschaft leiden. Selbst diejenigen von euch, die nicht über medizinisches Hintergrundwissen verfügen, wisst, dass, wenn man kein Blut erhält, man sich Infektionen zuzieht und das Herz zu schnell schlägt, weil ein Mangel an weißen Blutkörperchen besteht. Sogar ein Kind kann das verstehen. Doch es scheint, dass meine Eltern es nicht verstehen. Immer wieder wiederholt meine Mutter: „Ich weiß nicht, warum das geschieht; er müsste eigentlich ok sein; warum schlägt sein Herz so schnell? Warum bekommt er dauernd Infektionen? Warum sieht seine Haut so aus?“

Man muss schon wirklich blauäugig sein, wenn man nicht begreift, dass mangelnde Blutversorgung die Ursache ist; oder man will die Wahrheit nicht sehen und/oder leidet an Gehirnwäsche.

Doch warum erwähne ich, dass ich Zeuge einer wirklich intensiven Gehirnwäsche war? Dir ist bekannt, was passiert, wenn du immer mehr Blut verlierst. Jedermann weiß das. Krankenschwestern sind sich dessen bewusst. Du brauchst es ihnen nicht zu erklären. Sie haben jahrelang studiert, um sich diese Kenntnisse anzueignen.

Meine Mutter, ... sie war Krankenschwester.