Vor mir liegt der Wachtturm vom 15. Oktober 2007. Auf der Seite 24, Absatz 7, wird die Frage gestellt:
"Wie steht es aber mit […] Oralverkehr?"
In Absatz 7 lesen wir weiter:
Wie aus Hebräer 13:4 und 1. Korinther 6:9 hervorgeht, missbilligt Gott sowohl Ehebruch als auch Hurerei (griechisch: pornéia). Was fällt unter Hurerei? Das griechische Wort bezeichnet sowohl den natürlichen als auch den widernatürlichen intimen Sexualkontakt in unzüchtiger Absicht. Darunter fallen alle außerehelichen intimen Sexualkontakte, also auch Oralverkehr, wenngleich viele Teenager weltweit gesagt bekommen oder schlussfolgern, gegen Oralverkehr sei nichts einzuwenden. Wahre Christen lassen sich im Denken und Handeln nicht von der Meinung ´eitler Schwätzer und Sinnesbetörer` leiten (Titus 1:10). Auch als Unverheiratete halten sie an der hohen Norm der Heiligen Schrift fest. Für sie ist Oralverkehr biblisch gesehen Hurerei (pornéia), und deshalb versuchen sie keine Ausflüchte zu machen. Ihr Gewissen ist nach dieser Norm geeicht (Apostelgeschichte 21:25; 1. Korinther 6:18; Epheser 5:3).*
*Im Wachtturm vom 15. Juni 1983, Seite 30, 31 wird gezeigt, was Ehepaare berücksichtigen sollten.
Interessant ist dabei, wie zweimal auf das griechische Wort pornéia hingewiesen wird. Nun lässt sich nicht pauschal behaupten, Oralverkehr sei die exakte Wiedergabe von pornéia, denn in den griechischen Wörterbüchern steht nichts von Oralverkehr. Da dem so ist, „bezeichnet pornéia […] den widernatürlichen intimen Sexualkontakt“, wie es im Wachtturm heißt. Damit besteht das Problem nicht in dem griechischen Wort selbst, sondern die Frage reduziert sich darauf, was mit „widernatürlichen intimen Sexualkontakt“ gemeint ist. „Wider die Natur“ heißt es wörtlich im Griechischen in Rö 1, 26 (parà phýsin). Was verstand man aber in der griechischen Antike unter „wider die Natur“? Im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament (Abkürzungen sind ausgeschrieben, griechische Wörter transliteriert. Griechische Übersetzungen von mir) heißt es dazu:
Vor allem werden diese Wendungen im ethisch wertenden Sinne gebraucht, und zwar ganz vornehmlich in Bezug auf geschlechtliche Verfehlungen. Bereits bei Plato findet sich eine entsprechende Verurteilung der Päderastie: „wenn jemand das entsprechende, vor der Zeit des Laios bestehende Gesetz einführte“, akolouthōn tā phýsei [gemäß der Natur] Leg VIII 836c, vgl II 636b. Begründet wird das mit dem Hinweis auf die Tiere, wo nie ein männliches ein anderes männliches zu solchem Zweck berührt […] parà phýsin gámos [Ehe gegen die Natur] heißt es von einer Heirat, in der die Frau in Wirklichkeit ein Mann ist. […,] vergleiche die Anklage gegen die Philosophen, daß sie die Aphrodite parà phýsin [gegen (die) Natur] gebrauchen (Päderastie) […], während es durchaus katà phýsin [gemäß der Natur] ist, daß der Spartaner Cleonymus sich 200 Frauen als Geseln nimmt, 13, 84 (605d-e).
Band IX, S. 256 unter dem Stichworteintrag phýsis (Natur) (Die Abhandlung umfasst 24 Seiten.)
In der Stoa galten beispielsweise Gesundheit, Stärke und Vollkommenheit der Sinne als katà phýsin (der Natur entsprechend), Krankheit und Schwäche dagegen als parà phýsin (gegen die Natur). Im Wörterbuch heißt es auf der S. 258-259 weiter:
Aber ein wirklich sozialethischer Ansatz kommt nicht in den Blick, da das katà phýsin échein tān diánoian [gemäß der Natur haben sie einen Verstand] ja gerade als Loslösung des Einzelnen vom Zwang der Verhältnisse, als Beständigkeit und Unerschütterlichkeit verstanden wird […]. Was innerhalb der bestehenden Ordnung katà phýsin und was parà phýsin ist, lehrt der gesunde Menschenverstand, vergleiche die Kritik an dem Vater, der von seiner kranken Tochter fortlief in der Meinung, das sei natürlich [physikōs, „natürlich“, Anm. des Übersetzers: das Adjektiv physikōs steht synonym auch für katà phýsin]. So ist tatsächlich oft der Maßstab die bestehende Ordnung als solche: für Zeno ist es parà phýsin, einer durch Gesetz mit einem anderen verheirateten Frau beizuwohnen und so dessen Haus zu zerstören […], und für Epictet gilt von dem Stande, in dem man nun einmal sei, katà phýsin échonta autòn tārein.
Ebenso und auch in diesem Sinne begegnen wir in Rö 1,26 katà phýsin (wider die Natur). Der Kontext zeigt jedoch, dass hier wie auch bei Plato nur von homosexuellen Praktiken die Rede ist. Die Verse regeln nicht die Sexualpraktiken zwischen weiblichen und männlichen Eheleuten. Damit verfehlt der Wachtturm sowohl die außerbiblische als auch die neutestamentliche Bedeutung von katà phýsin und dirigiert auf ungeziemende Weise bis in unbescholtene Ehebetten hinein. Der Artikel verhält sich auf maßlose Weise indiskret und geht damit über das Schriftgemäße hinaus, das mit keinem Wort irgendwelche sexuellen Praktiken zwischen Eheleuten regelt.
Es ist somit eine Privatangelegenheit von Pärchen, wie sie ihren Sex gestalten.