Kongresse "Lehrer des Wortes Gottes" 2001

Auf diesen von der Wachtturm-Gesellschaft (WTG) veranstalteten Kongressen wurden unterschiedliche Themen aus dem Bereich der Lehre und des Verhaltens behandelt.

Ähnlich wie auch in den Schriften der WTG der letzten Zeit zog sich der Anspruch der WTG und ihrer 'Leitenden Körperschaft' auf unbedingte Lehrautorität und Weisungsbefugnis gegenüber ihren Gläubigen wie ein roter Faden hindurch.

Dies wurde besonders deutlich am Vormittag des jeweils letzten Kongresstages, an dem ein Drama aufgeführt wurde. Es ist aus der Zeit Israels: Es stellte die in der Bibel geschilderte Begebenheit dar, in der die Familien Korah, Dathan und Abiram mit ihren Freunden sich gegen Moses und Aaron erhoben und letztlich wegen Rebellion gegen Gottes Einrichtung und Anordnungen umkamen. Dabei wurde betont dargestellt, wie die Parteinahme und Trennung mitten durch die Familien ging: Einige Söhne Korahs blieben auf Moses Seite, und am Beispiel eines Ehepaares wurde gezeigt, wie der Ehemann sich den Rebellen anschloss, während die Frau auf der Seite Mose's und damit Gottes verblieb.

Gegen die Darstellung des Ereignisses an sich wäre nichts zu sagen, wenn nicht ganz bestimmte Ziele im Interesse der Organisation angestrebt würden. Damit jeder diese Ziele verstand wurde im Anschluss an die Vorführung noch eine zwanzigminütige Ansprache gehalten, auf die ich hier näher eingehen möchte.

An sechs Punkten wurde deutlich gemacht, was die Zuhörer aus der Darstellung lernen sollten:

  1. Die damaligen Aufrührer verneinten die Autorität der von Jehova eingesetzten Moses und Aaron und damit die göttliche Autorität selbst. Sie verneinten Jehovas Recht auf Regelung der Dinge und waren deshalb Rebellen. Heute seien jene mit ihnen gleichzusetzen, die die 'von Jehova eingesetzten Personen' - Glieder der Leitenden Körperschaft, Bezirksaufseher, Kreisaufseher, Älteste usw. - kritisieren, ihre Entscheidungen zurückweisen nicht beachten, bei anderen durch Gespräche usw. in Misskredit brächten. Dabei wurde auch der Bibeltext aus Judas 8+13 angeführt, wo von solchen gesprochen wird, die die Herrlichen der Herde verachten und lästern. Diese Herrlichen der Herde sind natürlich die von der WTG ernannten Aufgabenträger, die wie Moses und Aaron ja alle von Jehova eingesetzt seien. Daher ist schon Kritik an ihnen gleichzusetzen mit Kritik an Jehova, folglich mit Rebellion gegen ihn. Hier wird bereits in den Sinn jedes Zeugen ein Schuldbewusstsein eingeimpft, das sofort in Tätigkeit tritt, wenn auch nur ein kritischer Gedanke im Kopf auftaucht, erst recht, wenn man kritische Gedanken von anderen hören oder lesen sollte. Schon dieses Schuldbewusstsein macht dann deutlich, dass der Betreffende zu den modernen Korahtiten usw. gehört.
  2. Es wurde deutlich gesagt, dass die Motive solcher Kritiker niemals Gewissensfragen oder Wahrheitsliebe sein könnten, sondern nur Ehrgeiz, Stolz, Eifersucht und Neid.
  3. Man warf und wirft solchen Personen vor, sie würden nur auf die Unvollkommenheiten ihrer 'Führenden' sehen, wozu sie jedoch kein Recht hätten, da der Heilige Geist diese Männer trotz und in Kenntnis ihrer Unvollkommenheiten eingesetzt habe.
  4. Menschen, die Kritik üben, lassen sich von einem Geist des Murrens und des Widerspruchs beherrschen, sie legen eine Kritikerhaltung an den Tag.
  5. Diese Personen sind nicht zufrieden mit den – theokratischen – Vorrechten, die sie haben, und die ihnen doch von Jehova – natürlich durch seine Organisation – gegeben wurden. Sie sind weder demütig noch dankbar.
  6. Die Loyalität gegenüber Jehova (gemeint ist natürlich seine Einrichtung, die Organisation) ist höher zu stellen als die Loyalität gegenüber der eigenen Familie, den Eltern oder den Freunden. Das sei schon daran zu erkennen, dass das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, erst das fünfte Gebot sei, während die ersten Gebote die Loyalität gegenüber Jehova zum Inhalt haben und daher dem fünften übergeordnet seien.

Hier wurde versucht, und das mit größtem Geschick, in den Köpfen der Zuhörer eine selbstkontrollierende Barriere gegen kritische Gedanken jeder Art aufzurichten. Doch wer noch ein wenig seine Gedankenfreiheit bewahrt hat, merkt die Absicht.

Es sind auch durchaus Einwendungen gegen eine solche Anwendung des Dramas aufzuführen; ich möchte hier fünf Punkte nennen:

  1. Nach meinem Verständnis biblischer, auch von der WTG sonst vertretenen Auslegung, ist Jesus Christus das Gegenbild von Moses. Er ist der Prophet gleich Moses, wie auch aus der Verklärungsszene in den Evangelien deutlich wird. Das Gegenbild des Hohenpriesters Aaron ist ebenfalls Jesus Christus, der Hohepriester, wie es besonders auch der Hebräerbrief erklärt. Eine Rebellion gegen ihn, ein Beiseiteschieben von ihm, das wäre aus meiner Sicht vergleichbar mit der Handlung von Korah und seinen Freunden, und das wäre auch wirklich ein Widerstand, ein sich Stellen gegen Gott, der Jesus Christus gesandt und eingesetzt hat. Aber seit wann können sich Aufseher der WTG mit Moses und Aaron identifizieren? Hätte Korah nur mit irgendeinem Stammesältesten Streit gehabt, dann würde das Bild vielleicht passen. Aber sich selbst als Gegenbild von Moses und Aaron zu sehen, bedeutet nicht gerade das, Christus zur Seite zu schieben? Die Übertragung der Personen Moses und Aaron auf die Beauftragten der WTG erscheint mir anmaßend, ein Ausfluss der Autoritätssucht und des Strebens nach absoluter Macht über die Gläubigen. Liegt hier nicht die Gefahr einer 'Rebellion' gegen den gegenbildlichen Moses und Aaron?
  2. Kann man denn die Gebote Gottes so wie hier geschehen gegeneinander ausspielen? Selbstverständlich sagt Gottes Wort, dass man Gott mehr gehorchen muss als Menschen und dass wir im Konfliktfall Jesus mehr lieben sollen als die Eltern. Aber ist das eine Rechtfertigung, diese nicht mehr zu achten, zu respektieren und zu ehren? Wenn mich Eltern auffordern sollten, meinen Glauben an Jesus zu verleugnen, könnte ich ihnen nicht folgen. Aber heißt das, dass ich dann mit ihnen jeden Kontakt abzubrechen habe, mit ihnen nicht einmal mehr sprechen darf? Wo steht hier dieses Gebot Gottes im Widerspruch zu anderen? Die WTG erwartet und verlangt von ihren Gläubigen, dass sie Eltern die nicht mehr der Gemeinschaft angehören, nicht mehr ehren, aber Gottes Wort fordert es!
  3. Sollte der Einwand erhoben werden, die Söhne Korahs im Drama hätten nur mit ihrem Vater gesprochen, so lange er noch ein Angehöriger Israels war, denn nach Gottes Strafe war er ja nicht mehr am Leben, dann müsste man die Frage stellen, ob ein von einem menschlichen Rechtskomitee verhängter Gemeinschaftsentzug wohl gleichzusetzen sei mit einer Gerichtsverhandlung Gottes. Das wird im Ernst wohl niemand bejahen, obwohl es Leute gibt, die die Auffassung vertreten, ein Gemeinschaftsentzug würde vom 'ewigen Leben' abschneiden. Wer ist eigentlich nach Meinung der WTG der Richter über Leben und Tod?
  4. Fällt Kritik eigentlich immer unter eine in den Punkten 1-6 angeführte Haltung? Wenn dies der Fall wäre, wie konnte dann Paulus den Petrus öffentlich kritisieren, eine Säule der Kirche? Und wie kann dann die Bibel jeden Christen auffordern, 'alles zu prüfen, aber das Gute zu behalten' oder 'ständig zu prüfen, ob sie im Glauben sind' oder 'die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind'? Im Gesetz brauchte man nicht zu prüfen, da stand Gebot oder Verbot klar umrissen fest. Aber nun war der Heilige Geist auf alle Christen ausgegossen. Sie hatten 'alle Kenntnis' und daher konnten und sollten sie prüfen, ob die Dinge die gesagt wurden, dem Worte Gottes und der Lehre Jesu entsprachen oder vielleicht von persönlichen und menschlichen Gedanken, die wir ja alle haben, beeinflusst waren. Übten sie dann Kritik, weil sie ihrer Pflicht zu prüfen nachgekommen waren, dann bedeutete das sicher nicht Abfall oder Rebellion gegen Gott, ja nicht einmal Missachtung ihrer Brüder, denn diese hatten das gleiche Recht, die gleiche Pflicht. Wahrheit braucht das Licht einer Prüfung nicht zu scheuen!
  5. Schon gar nicht kann man die Punkte wie Rebellion, Stolz, Hochmut, Unzufriedenheit, Murren usw. anführen, wenn jemand auf Grund seines Bibelstudium in einem Punkt zu einem anderen Verständnis kommt, vielleicht etwas als falsch erkannt hat. Muss er nun schweigen und das Falsche um der Einheit willen vertreten, damit er nicht mit Korah verglichen wird, bis dann endlich auf höchster Ebene der WTG eine solche Lehre geändert wird? Muss er so lange Glauben und Einheit vortäuschen? Alles, was nicht aus Glauben kommt, ist Sünde! Hier zwingt die WTG ihre Gläubigen zu Unaufrichtigkeit und zum Verzicht auf ihre eigene Verantwortung vor Gott.

Als Ergebnis kann ich nur feststellen, dass nach meinem Eindruck viel gedankliche Unruhe unter Jehovas Zeugen herrschen muss, wenn so großer Nachdruck gelegt wird auf die Anerkennung der Autorität der WTG, aber auch, dass es der WTG viel mehr um ihre Autorität als um ein freies und im biblischen Sinn begeistertes Erforschen der Wahrheit geht. Man hält die Gläubigen in Abhängigkeit, in Schuldbewusstsein und in einem Zustand gegenseitigen Misstrauens, ob nicht der Nachbar vielleicht ein moderner Korahtit ist. Eine Änderung der Politik der WTG in Richtung einer freien und geisterfüllten Gemeinschaft unter Christus war für mich nicht zu erkennen.