Die Wachtturm-Gesellschaft gibt für Jehovas Zeugen monatlich ein internes Mitteilungsblatt heraus, 'Unser Königreichsdienst', der als wesentliche Grundlage für die wöchentliche 'Dienstzusammenkunft' dient.

In der Beilage zur Ausgabe vom August 2002 wird das Thema behandelt: "Christliche Loyalität bekunden, wenn ein Verwandter ausgeschlossen ist".

Da die Praxis des Gemeinschaftsentzugs mit seinen Folgen in vielen Familien schon sehr viel, ja erschreckend viel Leid verursacht hat, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, die gegebenen Anweisungen und Argumente mit den Aussagen der Schrift, der Bibel, zu vergleichen, etwas, wozu die WTG Andersgläubige stets auffordert, dies hinsichtlich der Lehren ihrer eigenen Religion zu tun. Der Inhalt der erwähnten Beilage, der nicht nur für ausgeschlossene Personen gilt, sondern auch für solche, welche die Gemeinschaft freiwillig verlassen haben, ist im wesentlichen eine Wiedergabe des immer noch aktuellen Wachtturms vom 15.12.1981 in Verbindung mit dem WT vom 15.4.1988. Ungewöhnlich für einen Königreichsdienst-Artikel ist die Darstellung mit vorgedruckten Fragen zu jedem Absatz, was daraufhin weist, dass der Artikel intensiv besprochen werden soll. Da alles, was von der 'Organisation', der WTG, kommt, als 'Speise zur rechten Zeit' angesehen wird, kann man daraus schließen, dass in den 20 Jahren seit dem Erscheinen des WT vom 15.12.1981 das Verhalten vieler Zeugen zumindest gegenüber ausgeschlossenen Verwandten etwas gelöster, menschlicher geworden war und das Mißfallen der WTG erregte, so daß eine intensive 'Erinnerung' für nötig gehalten wurde.

Die Anweisungen der Beilage werden schon im Titel mit der Frage der Loyalität verbunden! Doch Loyalität gegenüber wem? Christliche Loyalität! Also gegenüber Christus und gegenüber Gott? Ich möchte diesen Anspruch ernst nehmen und untersuchen, ob die Bibel das, was der Artikel fordert, ebenfalls verlangt, oder ob vielleicht hier Menschen Regeln aufstellen, deren Beachtung sie von den Gläubigen einfordern. Dabei soll der Grundsatz aus 1.Korinther 4:6 als Grundlage dienen, nicht über das hinaus zu gehen, was geschrieben steht.

Zuvor zwei Bemerkungen

  1. es mag vorkommen, dass Personen mit bestimmten Verwandten aus persönlichen und wichtigen Gründen keinen Kontakt zu haben wünschen, ja diese meiden. Eine solche Entscheidung ist das Recht jedes einzelnen, die er oder sie nach eigenem Gewissen und unter persönlicher Verantwortung zu treffen hat. Dieses individuelle Recht wird hier nicht angetastet oder in Frage gestellt;
  2. der in der Bibel vertretene Grundsatz der 'Gemeindezucht' oder auch Exkommunikation wie z.B. in Matthäus 18 wird hier ebenfalls nicht in Frage gestellt; vielmehr ist zu fragen, ob die Art der Praxis und der Durchführung dieser Gemeindezucht laut der genannten Beilage dem biblischen Beispiel entspricht oder gerecht wird.

Was wird gesagt?

Die Beilage besagt:

Gottes Wort gebietet Christen, keinen Umgang oder keine Gemeinschaft mit jemandem zu haben, der aus der Versammlung ausgeschlossen wurde.

Dabei wird 1.Korinther 5:11 zitiert, wo es heißt:

Nun aber habe ich euch geschrieben, keinen Umgang zu haben, wenn jemand, der Bruder genannt wird, ein Unzüchtiger ist oder ein Habsüchtiger oder ein Götzendiener oder ein Lästerer oder ein Trunkenbold oder ein Räuber, mit einem solchen nicht einmal zu essen.

Hier werden einige Tatbestände schweren Fehlverhaltens gegenüber Mitmenschen aufgezählt: ich will sie zwar nicht als einen abgeschlossenen Katalog ansehen - denn dann wäre ja zum Beispiel ein Mörder nicht auszuschließen, und manche Begriffe sind auch nicht einfach zu definieren, wie z.B. Habgier (ich habe auch noch nie erlebt oder gehört, dass jemand aus Habgier ausgeschlossen wurde, was wirklich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie genau die WTG jede kleine sittliche Verfehlung auf sexuellem Gebiet 'erforschen' läßt) - aber ich möchte dennoch davor warnen, diese Tatbestände beliebig zu erweitern, wie das - nicht nur bei JZ - geschehen ist. Dann werden bald die Raucher ausgeschlossen, bald die Alkoholkonsumenten, dann Frauen, welche Hosen oder kurze Röcke tragen, Personen, die eine bestimmte Art von Musik hören, usw. Und von der WTG und JZ werden sogar solche wie Ausgeschlossene behandelt, die sich lediglich die Freiheit nahmen, die Gemeinschaft zu verlassen, eine Freiheit, die ihnen offiziell von der WTG zugesichert wird. Und gegenüber jedem Zeugen, der etwa mit solchen Personen spricht, sind Sanktionen in der Schwebe, die zum eigenen Ausschluß führen können und oft schon geführt haben.

Doch zurück zu dem zitierten Bibeltext: heißt 'keinen Umgang zu haben' nicht mit jemandem sprechen dürfen, nicht einmal grüßen oder für einen Gruß danken? Das kann wohl kein Leser aus diesem Text ableiten. Und nicht essen? Es ist auch der WTG nicht unbekannt, dass ein gemeinsames Mahl zu der damaligen Zeit und (auch heute noch) im Orient sehr viel mehr über Gemeinschaft aussagt als ein gemeinsames Essen heute in der modernen Welt, wo man aus einem gemeinsamen Essen durchaus noch nicht auf weitere Gemeinsamkeiten, etwa gar auf 'geistige Gemeinschaft', schließen kann.

Dass die von der Beilage des Königreichsdienstes geforderte Verhaltensweise - hier besprochen bezüglich verwandter Personen, aber natürlich erst recht gültig gegenüber nicht verwandten Menschen - auch anders ausgelegt werden kann, lehrte die WTG selbst in ihrem WT vom 1.11.1974, wo sie über den gleichen Bibeltext und das gleiche Thema schrieb und sagte:

...(1.Kor. 5:11). Einen reuelosen Sünder wie 'einen Steuereinnehmer' zu behandeln, (Matthäus 18:17) bedeutet demnach, mit ihm keine Freundschaft zu pflegen. Wie das Beispiel Jesu indes zeigt, bedeutet es nicht, dass man den Betreffenden als einen Feind betrachten müßte oder ihm nicht einmal die allgemein übliche Höflichkeit und Rücksichtnahme erweisen dürfe. ... Was ausgeschlossene Familienangehörige (keine minderjährigen) betrifft, die außerhalb des Hauses wohnen, so muß jede Familie selbst entscheiden, in welchem Ausmaß sie mit solchen Umgang haben möchte. Es ist nicht Sache der Ältesten der Versammlung, darüber zu entscheiden.

Wieso die unterschiedliche Auslegung innerhalb von nicht einmal 10 Jahren? Die Bibel hatte sich nicht geändert! Aber man ist wohl bereit, diesen Text zu biegen, wie man ihn gerade brauchen will. 'Biblische' Verfahrensweise?

Jedenfalls sagt der Text aus 1.Korinther 5:11 nichts von reden, grüßen, sich unterhalten, einfach sich menschlich, christlich verhalten zu dürfen bzw. nicht zu dürfen. Deshalb führt die Beilage wie auch der WT vom 15.12.1981 den Text aus 2.Johannes 10 an, um diese offensichtliche Lücke zu füllen; dort heißt es:

Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht', dann erklärt man dazu: 'Ein einfacher Gruß kann der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein. Möchten wir bei einem Ausgeschlossenen diesen ersten Schritt tun?

Von welcher Lehre ist hier die Rede? Die WTG empfiehlt stets, Bibeltexte im Kontext, im Zusammenhang, zu lesen. Wenn sie das hier täte, würde sie aus Vers 7 schon erkennen, dass hier von Personen gesprochen wurde, die nicht 'Jesus Christus, im Fleisch gekommen, bekennen'. Es geht hier nicht um die sich so häufig ändernden Lehren der WTG oder einer anderen Gemeinschaft, sondern um die Grundlage des christlichen Glaubens.

Noch eine weitere Frage ist zu klären: wer sind die Personen, von denen Johannes spricht? Familienangehörige, Verwandte, Freunde oder Bekannte? Übereinstimmend zeigen alle Bibelkommentatoren, dass es damals christliche (siehe 3.Johannes 5-8) wie auch nicht christliche, u.a. gnostische Wanderprediger gab, die bei ihren Glaubensgenossen, manchmal sogar mit Empfehlungsbriefen, vorübergehend Unterkunft und Verköstigung suchten und empfingen. Die Praxis dieser Wanderprediger hielt sich nachweislich lange Zeit. Und von solchen Wanderpredigern spricht hier Johannes: hier sollten sich Christen vor Betrügern hüten. Es handelte sich hier um fremde Personen, nicht um Personen aus dem Bekannten- und Verwandtenkreis. Diesen Text zur Begründung eines 'biblischen' Redeverbots, ja sogar Grußverbots gegenüber ehemaligen Zeugen zu gebrauchen, ist völlig willkürlich, hat nur das Ziel, JZ möglichst vor kritischen Gedanken ehemaliger Zeugen zu isolieren. Erschreckend ist vielmehr, dass die meisten Zeugen, selbst wenn sie die Verfahrensweise der WTG nicht gut heißen, nur selten selbst die angeblichen biblischen Grundlagen solcher Behauptungen und Anweisungen untersuchen. Doch will man auch hier wohl nicht in den Verdacht der 'Abtrünnigkeit' oder auch nur des 'unabhängigen Dankens' geraten!

Der Fall in Korinth

Wie verlief denn der Fall in Korinth, als die dortige Versammlung es versäumt hatte, in einem besonders schweren Fall sexuellen Fehlverhaltens aktiv zu werden? Paulus ermahnte sie (1. Korinther 5:1-2) und die Versammlung reagierte. Später bekundete der Betroffene Reue, und Paulus schrieb in 2. Korinther 2:6-7:

Dem Betreffenden genügt diese Strafe von den meisten (der Gemeinde), so daß ihr im Gegenteil vielmehr vergeben und ermuntern solltet...

Die meisten haben sich also an den Maßnahmen der Kirchenzucht beteiligt, aber eben nicht alle. Vielleicht waren die anderen, die sich nicht beteiligten, Verwandte, gute Bekannte, Freunde; auf jeden Fall wurden sie weder gerügt noch selbst diskriminiert oder gar ausgeschlossen. Sie hatten die Freiheit, nach eigenem Gewissen zu handeln. Das haben JZ nicht!

Im Gegenteil! Die schon oft zitierte Beilage spricht von Verwandten, also von Vater, Mutter, Kindern usw., wenn sie den WT vom 15.04.1988 zitiert und sagt:

Höchstwahrscheinlich ist es möglich, so gut wie gar keinen Kontakt mit diesem Verwandten zu haben. Doch selbst wenn gewisse familiäre Angelegenheiten einen Kontakt erfordern würden, würde man diesen gewiß auf ein Minimum beschränken. ... Loyale Christen sollten sich bemühen, keinen unnötigen Kontakt zu solchen Verwandten zu haben,...

Hier werden Menschengebote über Gottes Gebote gestellt, denn Gottes Wort sagt, man solle Vater und Mutter ehren, Väter sollen Frau und Kinder lieben, Frauen ihren Mann bzw. ihre Kinder lieben, Kinder ihre Eltern achten usw. Diese Gebote wurden nicht aufgehoben, nur weil ein Glied der Familie etwa den christlichen Glauben verließ. Es geht hier auch nicht um Menschen, die gläubige Christen verfolgen, sondern hier sind es ja Menschen, die von ihrer Religion angewiesen werden, ihre Angehörigen - und erst recht Freunde und Bekannte - in einer Weise zu ächten, wie das die Bibel nirgendwo verlangt. Dadurch wurden viele Familien zerrüttet oder gar zerstört.

Die WTG spricht von 'biblischer Verfahrensweise'. Diese ihre Verfahrensweise ist nicht biblisch! Ihre Vorschriften gehen weit über das hinaus, was die Schrift sagt! Sie gewährt dem Einzelnen keine Gewissens- und Entscheidungsfreiheit, keine selbständige Verantwortung und Möglichkeit zur Initiative gegenüber ehemaligen Glaubensgenossen. Im Gegenteil, wer sich den Anweisungen nicht unterwirft, steht in der Gefahr, von Ältesten, die nicht in die Bibel, sondern in die Anweisungen schauen, selbst ausgeschlossen zu werden.

Hier ist der Weg der Schrift eindeutig verlassen worden!