Dies ist ein weiterer Begriff, der wie Geisteskontrolle emotionell und polemisch überfrachtet und damit sinnlos geworden ist.

Doch merkwürdigerweise kommt von einem ZJ auf diesen Vorwurf die Antwort: "Nein, aber wir sind geistig rein" - eine weitere Zuflucht zu einem Synonym, obwohl man argumentieren könnte, das letztere klinge nach gründlicherem Schrubben als Gehirnwäsche!

Ein etwas wertneutralerer Begriff ist Gedankenkontrolle: dies ist zu einem Teil zwangsweise psychologische Kontrolle, die in den offiziellen Definitionen die übliche Skala an Furcht vor einem Ausschluß, Gruppenzwang, Unterdrückung anderer Meinungen, Furcht vor bösen Mächten abdeckt - das klassische Sektengebräu. Kontrolle ist immer noch ein gefühlsbetonter und fremd anmutender Begriff; niemand glaubt, einer Gedankenkontrolle zu unterliegen, wenn er nicht gerade gefoltert wird - Einfluß, Anregung oder gar Verführung sind wahrscheinlich bessere Begriffe. Ein ZJ selbst spricht von geistiger Anpassung oder Anziehen der neuen Persönlichkeit. Wir werden hier das eher als Gattungsbegriff gebrauchte Wort Gedankenreform verwenden.

Es ist ein nüchterner, alltäglicher Effekt, und wenn er nicht existieren würde, käme es ständig zu Rechtsstreitigkeiten gegen Werbeagenturen wegen Betrugs. Doch die Werber sind keine Betrüger - sie kennen die Techniken, die Bedürfnisse und Markentreue erzeugen und Schuldgefühle und soziale Unsicherheit manipulieren, und sie setzen sie zum Nutzen ihrer Kunden wirkungsvoll ein. Es wäre naiv, zu sagen, Coca-Cola sei hauptsächlich Zuckerwasser; es ist ein umfassendes Wertesystem, an dem der Verbraucher teilhat. Die meisten Kleinkinder sind in der Lage, das Wesentliche zu erfassen, um den Sinn ihrer Eltern zu ändern und sie um den kleinen Finger zu wickeln. Die Wachtturm-Gesellschaft hat selbst vor dem weitverbreiteten Wesen von Gedankenreform gewarnt:

Im Wachtturm vom 15. April 1955 wird Adlai Stevenson mit der in Look vom 16. November 1954 erschienenen Aussage zitiert, Konformität und Gedankenkontrolle seien in den USA gerade dann wieder aufgetaucht, als man die Welt ermahnte, gegen die Tyrannei des Sowjetfaschismus festzustehen. Früher seien Sklaven körperlich ausgebeutet worden; heute stände man in Gefahr, geistige Roboter zu werden.

Gedankenreform kann weiter gehen als einfache Manipulation des Verhaltens - bis zur Änderung des kompletten Wertesystems einer Person. Leider gehen die meisten Menschen davon aus, das könne ihnen nicht passieren, wenn sie nicht gerade in einem chinesischen Umerziehungslager irgendwo in Korea sitzen. Aber selbst das wäre ein auffallend simpler und schmerzloser Prozeß: Die Wachen würden Gespräche beginnen, wie schön es in den USA war und wie glücklich sich der Soldat schätzen dürfe, zu diesem Land zu gehören. Allmählich führte man den Soldaten dazu, daß er zugab, daß es in diesem amerikanischen Traum ganz kleine Probleme gebe, und allmählich machte man diese Probleme immer größer, bis die USA der Satan selbst waren. Man warnte die US-Soldaten während des Koreakrieges in Übungsfilmen im voraus, daß diese Methode angewendet werde. Weniger raffinierte Regime haben zu offenem Zwang, zu Folter und Entbehrungen gegriffen, um dem Prozeß nachzuhelfen - die raffiniertesten sind in der Lage, dasselbe nur mit einem leichten Hinweis auf Gewalt zu erreichen, oder im Falle von Religionsgemeinschaften: mit dem Hinweis auf den Zorn Gottes und der Drohung mit Angriffen von Dämonen und ewiger Vernichtung. Der naivste, harmloseste, nicht gewalttätige Christ ruft vielleicht einen göttlichen Feuersturm herab, der alles übertrifft, was ein kommunistischer Geheimpolizist mit seinen Waffen erreichen konnte - "sie können den Leib töten, Gott aber die Seele", und es gibt kein Geschoß zu kaufen, das jemanden in die ewige Verdammnis schickt.

Die Technik wirkt nach drei grundlegenden Prinzipien:

1. Kein Mensch ist 100%-ig vollkommen, aber auch nicht 100%-ig unvollkommen. Von einem Glas kann man immer sagen, es sei entweder noch halb voll oder schon halb leer. Wenn man nur sucht, wird man immer Fehler finden - oder bei allen menschlichen Fehlern auch etwas Gutes.

2. Wir sind alle davon überzeugt, daß niemand "bei uns eine Sinnesänderung bewirken" kann - so überzeugt, daß wir in dem Fall, daß doch jemand eine Sinnesänderung bewirkt, augenblicklich zu rationalisieren beginnen, warum wir unseren Sinn änderten, oder uns selbst überzeugen wollen, daß wir unsere neue Überzeugung ja eigentlich schon immer hegten.

3. Wir alle laufen mit einer Menge nicht überprüfter Annahmen über die Welt umher, gewöhnlich weitergegeben von der Familie und der Allgemeinheit. Sie werden selten bezweifelt, und ihnen überlagert ist noch eine riesige Metastruktur anderer Überzeugungen, Hoffnungen und Grundsätze.

So kritisiert im genannten Beispiel der Wächter an keiner Stelle des Prozesses die USA, er läßt den Soldaten diese Dinge selbst herausfinden. Aus diesem Grund, weil der GI selbst zu seinen Schlußfolgerungen gelangt ist und sie ihm nicht von außen aufgezwungen worden sind, können sie so elementar in sein Weltbild eindringen. So wirkt auch die Einführung in eine Sekte am besten, wenn man den Aspiranten nicht sagt, was sie denken sollen, sondern sie an einer Gedankenkette entlangführt, die sie veranlaßt, "Dinge selbst herauszufinden". Dann ist es mit großem Streß verbunden, wenn sie Fragen "mit eigenen Worten" beantworten sollen, auch wenn das Wesentliche der Antwort schon vorliegt. In der ZJ-Sprache heißt dies, die "sich die Wahrheit zu eigen machen."

Wenn alle Werte und Annahmen, auf denen die eigene Persönlichkeit beruht, plötzlich in Frage gestellt werden, dann ist das mit enormem Streß verbunden. Und wenn ein netter Mensch eine alternative Ideologie bereitliegen hat, die auf einen wartet, kann man in diese "hineinschlüpfen"; sie wird das neue Weltbild dessen ausmachen, der eine Gehirnwäsche erhielt. In der Vorgehensweise, der Dauer und der Häufigkeit gleicht diese Technik auffallend dem, was ZJ tun: erster Besuch an der Tür, Nachbesuch, Bibelstudium. Nach und nach werden die Überzeugungen eines Menschen in bezug auf Kirche, Wissenschaft oder menschliche Herrschaft zerschlagen, und dann kann unbemerkt die neue Ideologie deren Platz einnehmen. Derjenige, der die Gehirnwäsche durchführt, ist sich dieses Prozesses ebenso wenig bewußt wie das Opfer, das Vorgehen scheint einfach natürlich zu sein..

Überdies kann die Erfahrung einer Gedankenreform dem Opfer alles andere als negativ erscheinen. Dazu ein Zitat aus dem Buch Thought Reform and the Psychology of Totalism(Seite 238):
Nichtsdestoweniger kann eine Gedankenreform auch einen ernstgemeinten therapeutischen Effekt haben. Personen aus der westlichen Welt haben ständig berichtet, sie hätten daraus einen Nutzen gezogen und seien seelisch gestärkt worden, sie seien gegenüber den eigenen Gefühlen und denen anderer empfindsamer geworden, sie seien flexibler und hätten in menschlichen Beziehungen mehr Selbstvertrauen.

Eine weitere Technik, ohne die man die Methoden der ZJ bei der Evangelisierung, von Lexikonverkäufern und Politikern nicht verstehen kann, beschreibt den Prozeß der "sofortigen Intimität", der oberflächlichen Freundschaft. Wiederum haben die meisten Menschen noch nie davon gehört; wer die Technik anwendet, ist sich dessen meist nicht einmal bewußt. Den ZJ sagt man in ihren Schulungsversammlungen, sie sollten sich Notizen über persönliche Einzelheiten des potentiellen Bekehrten machen; fragen, was in ihrer Kirche abläuft; nachforschen, welche Themen sie interessieren; eine Unterhaltung über ihre offensichtlichen Hobbys führen; sehr freundlich lächeln - nicht aus persönlichem Interesse, sondern, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen und ihnen das Gefühl zu geben, man sei an ihnen interessiert.
Wie Wild mögen sich Personen in schweren Nöten fühlen; sie sind vom Anschein der Normalität getäuscht worden, hinter dem eine tödliche Gefahr lauert. (Benjamin D. Singer, "Crazy Systems & Kafka Circuits" Social Policy 11 (1980))

Damit ist die in der Vereinigungskirche ([Munies] aber nicht nur dort) bekannte Methode des Love Bombing gemeint: ein sofortiges Erweisen von Freundschaft und Zuneigung, das besonders bei alleinlebenden und depressiven Menschen wirkt. Ein Ex-Mitglied der London Church of Christ (LCC) fühlte sich von der Sekte durch "das unglaublich angenehme Wesen vieler Personen, die ihm begegneten", angezogen, aber er fand heraus:
Der äußerliche Erweis von Wärme und Zuneigung maskierte, was hinter der Bühne ablief. Die Kirche zog es vor, viel von dem, was sie glaubte und praktizierte, vor Außenstehenden verborgen zu halten. Beispielsweise sagte man Besuchern nicht, daß die LCC-Organisation sich als die einzig wahre christliche Kirche ansieht, daß alle anderen auf ewig verdammt seien und das es unausgesprochen auf der Tagesordnung steht, alle Besucher zu bekehren.

Man braucht hier LCC nur durch WTG (Wachtturm-Gesellschaft) ersetzen. Die Zahlen der Bekehrungen helfen erklären, warum ZJ gewöhnlich sehr begeistert sind, wenn ein Neubekehrter ins Haus steht. So hieß es Ende 1958 in einem Wachtturm, die 'ganze Welt liege in der Macht dessen, der böse ist', was daran zu sehen sei, daß 99,9 % der Menschheit auf der Seite Satans ständen.

Die folgenden Richtlinien sind dem streng vertraulichen Handbuch Gebt acht auf euch selbst und auf die ganze Herde entnommen, das nur ZJ-Ältesten zugänglich ist. Es enthält die grundlegenden Prinzipien, wie man sicherstellt, daß sich potentielle Aspiranten wohlfühlen; es zeigt eine Offenheit, wie Neubekehrte alte Freundschaften aufgeben sollen, die in der Literatur für die Öffentlichkeit fehlt (in der Tat werden viele ZJ leugnen, daß so etwas geschieht), nicht zuletzt, weil dies eines der klassischen Merkmale ist, an denen eine Sekte zu erkennen ist:
Neue Mitverbundene bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Wenn Neue zum ersten Mal in den Königreichssaal kommen, fühlen sie sich vielleicht fremd; wir möchten ihnen dieses Gefühl nehmen und ihnen statt dessen das Gefühl herzlicher Freundschaft vermitteln. Wenn du bemerkst, daß ein Neuer allein dasteht oder sich nur mit demjenigen unterhält, der mit ihm studiert, dann ergreife die Initiative, geh hin und begrüße ihn, und mache ihn mit anderen bekannt. Weist die Ordner an, Neue zu begrüßen, und erinnert sie gelegentlich daran. Lehrt alle Brüder und Schwestern, von sich aus Neue anzusprechen und mit ihnen bekannt zu werden. Kommt unbedingt frühzeitig zu den Zusammenkünften, und bleibt nach dem Programm noch eine Weile, damit ihr andere ermuntern und ihnen helfen könnt. Ihr könnt auch bei anderen Gelegenheiten mit Neuen Gemeinschaft pflegen, indem ihr sie vielleicht zu Hause besucht oder sie zu euch einladet. Durch dieses persönliche Interesse erkennen sie, daß unter Jehovas Volk echte Liebe herrscht (Joh. 13:35). Dadurch wird auch das Vakuum ausgefüllt, das entsteht, wenn sie frühere Bekanntschaften und weltliche Unterhaltung aufgeben. (Ausgabe 1991, Seiten 22, 23)

Das Ältestenhandbuch der ZJ zeigt auch einen weiteren entscheidenden Punkt an diesem Prozeß auf: den Rückzug aus der sogenannten bösen Welt (zu der Mutter Teresa ebenso gehörte wie Radovan Karadzic) - man läßt alte Freunde fallen, schränkt den Kontakt mit Angehörigen ein, beschneidet den privaten Umgang mit Arbeitskollegen und schafft damit ein "Vakuum", das die Zeugen mit einer neuen sozialen Struktur auszufüllen versuchen. Man wird damit vollkommen von ihnen abhängig. Dies hat einen zweifachen Effekt: man begrenzt den Zugang von Nichtzeugen-Literatur und schafft für einen ZJ, der vielleicht abtrünnig wird, eine soziale Krisensituation, die exponentiell mit der verbrachten Zeit in der Sekte wächst - bis zu einem Punkt, wo er vielleicht in Gefahr steht, alle Freunde und Angehörigen zu verlieren, ein Rezept für Suizide und Depressionen - oder man hält den Mund und macht wie bisher weiter. [British Journal of Psychiatry, Juni 1975, Seiten 556- 559 mit einem Bericht über eine australische Studie: "Mitglieder dieser Gemeinde werden mit größerer Wahrscheinlichkeit in eine psychiatrische Klinik eingewiesen als Angehörige der Gesamtbevölkerung."]

Das folgende Zitat beschreibt das Vorgehen von Sekten und ihre Mittel und Wege, wie sie Mitglieder aufnehmen und an sich binden:
Im allgemeinen binden Gruppen neue Mitglieder an sich, indem sie eine Atmosphäre bedingungslosen Akzeptierens schaffen, Unterstützung geben und ein neues Weltbild vermitteln, das die Lösung aller bestehenden Probleme bietet. Die Bindung (oder Bekehrung) bringt Erfahrungen intensiv empfundener Gefühle oder einer Änderung der Wahrnehmung mit sich. Sie schafft auch die Befreiung von neurotischen Fehlhaltungen und ein Gefühl des Wohlseins. Dem Bekehrten dienen diese Erfahrungen zur Einschätzung der Mission der Gruppe ... Aspiranten erfahren mit der Zugehörigkeit eine befreiende Wirkung. Das heißt, je enger sie sich den Mitgläubigen und den Werten der Gruppe verbunden fühlen, um so größer ist die Befreiung aus ihrem seelischen Kummer; je mehr sie sich seelisch von der Gruppe distanzieren, um so größer die Erfahrung von Streß. Dieser Effekt der Befreiung dient als Grundlage, die Fügsamkeit in die Gruppennormen zu stärken, da er implizit Konformität mit größerem Wohlbefinden belohnt und Entfremdung mit Streßgefühlen bestraft. Er hält Mitglieder auch davon ab, die Gruppe zu verlassen, weil sie konditioniert sind, den Streß zu vermeiden, der resultiert, wenn man die guten Seiten der befreienden Wirkung losläßt. (Marc Galanter, Cults: Faith, Healing, and Coercion, Anhang A)

Noch ein bemerkenswertes Zitat aus George Orwells 1984:
Es ist für ihre Struktur absolut unabdingbar, daß es zu keinem Kontakt mit Ausländern kommt, außer in beschränktem Maße mit Kriegsgefangenen und farbigen Sklaven ... Wäre ihm der Kontakt mit Ausländern gestattet, würde er feststellen, daß sie ganz ähnliche Menschen sind wie er und daß das meiste, was er über sie gehört hat, Lügen waren. Die hermetisch abgeriegelte Welt, in der er lebt, würde aufgebrochen, und die Angst, der Haß und die Selbstgerechtigkeit, von denen seine Kampfmoral abhängen, könnten verfliegen ... Der Bürger Ozeaniens darf nichts von den Leitsätzen der beiden anderen Philosophien wissen, sondern man lehrt ihn, sie als barbarischen Frevel an der Moral und dem gesunden Menschenverstand zu verabscheuen. (George Orwell, 1984, Teil II, Kapitel IX, Seiten 196, 197)