Versammlungen haben eigene Disziplinierungsvorkehrungen, umgangssprachlich als Rechtskomitees und juristisch als "Kirchentribunale" bekannt. Diese werden ad hoc gebildet, wenn Mitglieder die Disziplin nicht einhalten.

Von Jehovas Zeugen wird erwartet, daß sie über die Fehlhandlungen von Mitgläubigen Meldung machen; doch dieses Prinzip erstreckt sich nicht auf die außerkirchlichen Bereiche - die Ältesten informieren nicht unbedingt die Behörden über Gesetzesverletzungen, von denen sie in Ausübung ihres Amtes Kenntnis erhalten, selbst wenn ein solches Vertuschen ernste kriminelle Folgen haben kann. [Siehe "'Eine Zeit zum Reden' - Wann?", Wachtturm, 1. Spetember 1987]. Der Rahmen für all dies findet sich nicht in offen zugänglicher WTG-Literatur, sondern in einer Reihe von Ältesten-Handbüchern, die vor den Laien streng verborgen gehalten werden (allerdings nicht für Laien mit Internet-Verbindung). Die entscheidende Frage in ersterer lautet: "Bereust du?", in den Handbüchern geht es um die Frage: "Akzeptierst du die Autorität der WTG?" - eine negative Antwort zieht praktisch den Ausschluß nach sich.

Die Bestrafung reicht von einem privaten Verweis zu einer vollständigen Ächtung - dem Gemeinschaftsentzug - mit einer Vielzahl von Maßnahmen dazwischen, z.B. dem öffentlichen Verweis, dem Ausschluß vom öffentlichen Vorlesen von Bibelstellen oder der Teilnahme an Treffen. Die hauptsächliche Drohung ist jedoch das soziale Stigma, das all diesem anhaftet. Das Rechtskomitee kommt auch zusammen, um über die Wiederaufnahme eines geächteten Mitglieds in die Versammlung nachzudenken. Eine spezielle Form der Quasi-Ächtung ist das Bezeichnen: dieser Maßnahme geht keine Untersuchung voraus, und sie wird durch eine Ansprache in einer regulären Zusammenkunft verfügt; gewisse Mitglieder oder Gruppen innerhalb der Versammlung, mit denen man den Kontakt einschränken sollte, werden dabei - ohne Namensnennung - genau bestimmt. Mitglieder, die von sich aus - aus welchen Gründen auch immer - keine Zeugen mehr sein wollen, werden in derselben Weise geächtet wie schwere Sünder, es wird gesagt, sie hätten sich von der Versammlung getrennt, auch wenn es die Zeugen sind, die das Band zerschneiden; in dem Buch Einsichten über die Heilige Schrift heißt es, wer willentlich die Christenversammlung verlasse, werde dadurch Teil des Antichrists. Wer daher ausdrücklich die WTG ablehnt, wird von den Zeugen weit mehr gebrandmarkt oder gehaßt als Personen, die biblische Gesetze übertreten haben oder die das Christentum ablehnen.

Aufgrund einer falschen Übersetzung von 2. Johannes 9-11 gehören zu einer Ächtung auch einfache Grüße wie "Guten Tag". Der Wachtturm vom 15. Dezember 1981 warnt, "daß ein einfacher Gruß der erste Schritt zu einer Unterhaltung und vielleicht sogar zu einer Freundschaft sein kann." Das Verbot schließt sogar "unnötigen" Kontakt mit geächteten Angehörigen ein. Disziplinierungsmaßnahmen können bereits ergriffen werden (und wurden es auch), wenn ein Zeuge einfach nur Umgang mit Ex-Zeugen hat. Neuere Berichte haben einen weiteren verbalen Kunstgriff offenbart - den impliziten Ausschluß; dies kann z.B. geschehen, wenn bekannt wird, daß ein Zeuge bei Wahlen seine Stimme abgegeben hat. Ein Rechtskomitee kann dann ohne Zusammenkunft mit dem Betroffenen bekanntgeben, daß derjenige sich selbst die Gemeinschaft entzogen habe. Die Handlung wird als implizite Absichtserklärung gewertet. Ein Beispiel, wo dies wegen eines nur seltenen Versammlungsbesuchs gesagt wurde, stammt aus einem Brief, den ein Kirchenältester neulich einem Mitglied schrieb: "Wenn ich dich nicht bald in der Versammlung sehe, muß ich den Ältesten in der Versammlung K... empfehlen, daß sie von der Bühne verlesen, du habest dir selbst die Gemeinschaft entzogen und wünscht keinen Kontakt mehr zur Versammlung."

Es ist schon merkwürdig, daß Handlungen wie Wählengehen oder seltener Versammlungsbesuch zur sofortigen Bestrafung ohne Komiteesitzung führen, Handlungen gegen ausdrückliche biblische Verbote - Hurerei und Stehlen - aber nicht. Dieses Spiel mit Synonymen und Wortneubildungen für Ad hoc-Begründungen oder Strafverfolgung ist Teil eines breiteren WTG-Verhaltensmusters.