Das Wichtigste ist die Feststellung, daß es Jehovas Zeugen als rechtliche Einheit nur auf der Ebene der einzelnen Versammlung gibt.

JZ (Jehovas Zeugen) sprechen von der Organisation oder der Gesellschaft und meinen damit die Konglomeration einer Anzahl von Rechtskörperschaften. Wenn man ihre Religion untersucht, ist es immer wichtig, zwischen "Jehovas Zeugen" und der "Wachtturm-Gesellschaft" (WTG) zu unterscheiden.

Vor allem gibt es die Watch Tower Bible & Tract Society of New York Inc.; ihr gehören und sie betreibt die verschiedenen Fabriken, Farmen und Büros in Brooklyn und im Norden New Yorks. Eine ältere Körperschaft, die Watch Tower Bible & Tract Society of Pennslyvania handelt als Holdinggesellschaft, und ihr gehört das Copyright auf alle Publikationen. Es ist diese Körperschaft, die die Stimmrechte für etwa tausend "stimmberechtigte" Mitglieder hält (sie wählen in dem Sinne wie die Mitglieder des Zentralkongresses der chinesischen KP), gewöhnlich altgediente ZJ. Gemäß einigen Versionen der WTG-Geschichte gibt es die zwei verschiedenen Korporationen in beiden Staaten aufgrund rechtlicher Konstruktionen im Gefolge der Ehescheidung des Gründers. Ähnliche Organisationen gibt es in anderen Ländern - das Ausmaß der rechtlichen und tatsächlichen Bindung an die US-Korporationen variiert je nach der örtlichen Rechtslage.

Großbritannien, wo das erste Auslandsbüro eröffnet wurde, nimmt eine Sonderstellung ein. Es hat nicht nur die eigene regionale Wachtturm-Gesellschaft, sondern es ist der Sitz der IBSA - International Bible Students Association [Internationale Bibelforscher-Vereinigung]. Sie ist im Besitz der Immobilien und dient als Fassade, um Kongresse in Großbritannien und den früheren Ländern des Commonwealth zu organisieren. Es gibt dort auch ein Bündel älterer Korporationen - erwähnenswert die Peoples' Pulpit Association [Volkskanzel-Vereinigung] (die letzthin nur noch als "Sündenbock" für einige der inakzeptableren Werke Russells gedient hat) - und ein Netz, das C.T. Russell für verschiedene Manöver nutzte, das aber eingemottet ist - darunter die United Cemeteries Corporation, eine Schein-Vermögensgesellschaft, die der mysteriöse "Spender" des berüchtigten Wunderweizens war; und die Tower Publishing Corporation, die auf kommerzieller Basis bis 1898 WT-Literatur produzierte (und die einfach ein Druckerei genannt wurde).

Aufgrund interner Unstimmigkeiten und eines heftigen juristischen Kampfes nach dem Tod des Gründers (der nachfolgende Präsident gab seine Präsidentschaft der Presse bekannt, bevor er überhaupt gewählt war) bildeten sich mehrere Splitterkorporationen. Die beiden größten in den Vereinigten Staaten sind bis heute die Layman's Home Mission und die Dawn Bible Students Association, die C.T. Russell weiter treu ergeben sind und seine Literatur drucken. Jehovas Zeugen kennen sie kollektiv und wenig freundlich als bösen Sklaven. Rutherford lehnte fast alles ab, was Russell glaubte, und griff öffentlich seine Unterstützung der USA im 1. Weltkrieg an, seine Pyramidenlehre, seine Bevorzugung reicher Leute und indirekt auch seinen Vollbart und sein Vegetariertum. Es blieb nichts übrig von seiner Theologie als eine leere Hülle und verschiedene negative Glaubenssätze und eine weitgehend verwässerte Version von Russells Fünf-Klassen-Theorie der Erlösung durch Christi Loskaufsopfer - und nach einigen ausgedehnten Manövern war Rutherford auch noch in der Lage, die Kontrolle über die Herausgabe des Wachtturms von einem Komitee von Frauen an sich zu reißen, das Russell in seinem Testament bestimmt hatte.

Der Loyalitätstest:

Gott gab der Kirche C.T. Russell als sein Sprachrohr. Wer behauptet, er habe die Wahrheit unabhängig von C.T. Russell kennengelernt, täuscht uns. Satan wird Menschen zu dem Glauben veranlassen, Russell sei nicht der Kanal gewesen. (Watchtower 15.09.1922, Seite 279, engl.)

Wenn man Rechtsdokumente der Gesellschaft liest, erfährt man nur die halbe Geschichte. Formal operiert die Religion als Rechtskörperschaften und Versammlungen, informell als Jehovas Zeugen. Beispielsweise gibt es das Direktorium der Wachtturm-Gesellschaft, das als Körperschaft existiert - doch die eigentlichen Entscheidungen trifft seit 1976 die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas, und keine der beiden Körperschaften hat rechtlichen Status. Ein weiterer Begriff, der häufig gebraucht wird, ist der "treue und verständige Sklave" aus dem Matthäusevangelium: theoretisch meint er alle etwa 8.500 Personen der "himmlischen Klasse" (der Gesalbten) - in der Praxis bezieht er sich immer auf die leitende Körperschaft. In gleicher Wiese haben die offiziellen Rechtsverhältnisse zwischen den Zweigbüros und der Weltzentrale wenig mit den wirklichen Kontrollsträngen zu tun, die nicht durch Körperschaftsrecht, sondern durch zeugeninternes Recht mit Kirchentribunalen und der Strafe der Exkommunikation aufrechterhalten werden. Dies gilt auch für die Beziehungen zwischen den Versammlungen, die in den meisten Ländern autonome Körperschaften mit Immobilienbesitz sind, und der Mutterorganisation. Dieser Status der einzelnen Versammlungen läuft dem zentralistischen, kontrollierenden Wesen der Wachtturm-Gesellschaft zuwider, und der neueste Trend geht dahin, den Besitz auf höherrangige Gesellschaften zu übertragen, wie es schon immer in London, England, der Fall war, wo nicht die Ortsversammlung die Eigentümerin ist, sondern die "London Company of Bible Students".

Im Gegensatz zur Rechtsstruktur der Wachtturm-Gesellschaft kann man die tatsächliche Struktur der Zeugen Jehovas mit der Form eines Stundenglases vergleichen. An der Spitze steht ein Komitee von etwa einem Dutzend älterer Männer, die den Anspruch erheben, geistgesalbt zu sein (d.h. zu den 144.000 Priesterkönigen aus Offenbarung zu gehören; nur noch 8.617 von ihnen lebten im April 1994). Dies ist die leitende Körperschaft (LK), die in allen Lehr- und Organisationsfragen entscheidet und die die routinemäßige Verwaltung der Kirche auf Unterkomitees überträgt, die sich mit dem Schreiben, der Lehre, den Fabriken usw. befassen. An diesem Gremium werden zwei Trends deutlich: In der Vergangenheit tendierte die LK dazu, eine akklamatorische Körperschaft für die Entscheidungen des WT-Präsidenten zu sein, doch mit dem Ende einer beständigen Linie von "Orakeln", was die Lehre angeht - Russell, Rutherford und Franz (obwohl "Präsident" Knorr auf Rutherford folgte, war er ein Manager und kein Verkündiger, und in seiner Zeit besorgte Franz die Lehr- und Übersetzungstätigkeit) - und der Palastrevolution von 1976, als die LK nach einem langen Kampf von der Wachtturm-Gesellschaft und ihrem Präsidenten die Macht an sich riß, hat sich dies geändert, und erfahrene "nichtgesalbte" Zeugen Jehovas wurden den Unterkomitees als Helfer zugewiesen - dies ist mit der abnehmenden Zahl derer, die ein himmlisches Leben erwarten, bedeutsam geworden. Damit ist eine neue Klasse, die Nethinim, geschaffen worden, die zwischen den Gesalbten und derGroßen Volksmenge liegt. Diese Komiteestruktur findet sich auch in den untergeordneten Zweigbüros (den sogenannten Bethels), die durch einen Zweigaufseher geführt werden; ein Zonenaufseher besucht und überwacht die Zweige in einem Gebiet der Welt im Auftrag der Brooklyner Weltzentrale. Die Verwaltung dieser Büros ist minutiös in dem Handbuch Branch Office Procedure niedergelegt, das nur höhere Funktionäre lesen dürfen; es gibt auch eine Hausordnung für den einfachen Bethelangehörigen, die den optimistischen Titel In Einheit beisammenwohnen trägt.

Am anderen Ende befinden sich die Versammlungen - sie können alles sein, von der Familie in einem entlegenen Gebiet bis zu einer großen städtischen Versammlung mit 150 oder mehr Mitgliedern; die Tendenz geht zu etwa 70-90 regelmäßigen Besuchern, wobei die Versammlungen geteilt werden, wenn sie zu sehr anwachsen. Sie kommen zweimal in der Woche zusammen: gewöhnlich am Sonntagmorgen zu einer 45-minütigen Ansprache, einer Ausarbeitung eines Konzeptes der WTG, und einer einstündigen "Diskussion" eines vorherbestimmten Wachtturm-Artikels (Diskussion ist aus folgendem Grund in Anführungszeichen gesetzt: die Fragen sind als Fußzeilen auf den Seiten abgedruckt, die Antworten finden sich in den Absätzen, und die ganze Veranstaltung wird von einem Ältesten auf der Bühne geleitet). Dann gibt es noch einmal eine Zusammenkunft, gewöhnlich am Donnerstagabend, mit einer einstündigen öffentichen Redeschule (Ansprachen für Männer und Jungen, Rollenspiele für Frauen) und eine 45-minütige Reihe festgelegter kürzerer Ansprachen, Fragen und Antworten oder Demonstrationen, die sich generell auf den Predigtdienst oder das Alltagsleben beziehen. Diese Zusammenkünfte werden durch ein gemeinsames Gebet sowie ein Lied aus dem WT-eigenen Liederbuch eröffnet und geschlossen.

Wie bereitserwähnt sind Versammlungen auf dem Papier gewöhnlich rechtlich autonome Vereinigungen, die oft eigene Gebäude besitzen, obwohl sie von der Organisation straff geführt werden: Die zwei Arten Funktionäre - Ältester und Dienstamtgehilfe (Diakon) - werden nichtdurch die Versammlung ernannt, sondern dem Zweigbüro des jeweiligen Landes von den Ältesten der Versammlung vorgeschlagen und von oben ernannt (oder entlassen); dies gilt auch für Vollzeitdiener (Pioniere), die es in drei Abarten gibt: Sonderpioniere, die direkt vom nationalen Zweigbüro ernannt werden, eine geringe finanzielle Zuwendung erhalten und wenigstens 120 Stunden pro Monat im Dienst verbringen sollen; allgemeine Pioniere, die in der jeweiligen Ortsversammlung (nach Bestätigung durch das Zweigbüro) ernannt werden, die wenigstens 840 Stunden pro Jahr (~70 pro Monat) arbeiten müssen; und Hilfspioniere, die für jeweils einen Monat 50 Stunden lang tätig sind - von Ältesten und Dienstamtgehilfen, die keine Pioniere sind, wird gewöhnlich erwartet, daß sie wenigstens für einen Monat im Jahr als Hilfspioniere arbeiten. Diese hierarchische Anordnung war das Werk Rutherfords; Russells Versammlungen waren kongregationalistisch zugeschnitten, und viele ihrer Mitglieder überlebten die Änderung hin zur Zentralisierung nicht. Die Versammlung ist noch weiter eingeteilt in Zellen, sogenannte Gruppen, die sich einmal pro Woche in einer Privatwohnung treffen, um ein zugeteiltes WT-Buch mit Fragen und Antworten durchzunehmen (mit einigem Glück bei Tee und Kuchen), und die die Grundeinheiten der Organisation im Tür-zu-Tür-Dienst sind.
Um ihre Entscheidungen in die Tat umzusetzen, bedient sich die leitende Körperschaft, wenn es angebracht ist, einer hierarchischen Organisation in Verbindung mit einzelnen Korporationen. (Don Adams, WT-Gesellschaft, Bonham, Texas 1986; aus einer eidesstattlichen Erklärung)

Die beiden Hälftender Organisation werden zusammengehalten durch zwei Konstrukte mit den entsprechenden Funktionären, den Kreisen (Diözesen) und den Bezirken (Erzdiözesen). Kreise sind teilweise aufgrund geographischer Verhältnisse und der Mitgliederzahl organisiert, und obwohl sie zur Organisation gehören und eigene Kontenführung und Besitz haben (gewöhnlich die Wagen der Kreisaufseher und manchmal Kongreßsäle), sind sie weniger formal und autark als die Diözesen der traditionellen Kirchen. Die zwei Hauptaufgaben eines Kreises bestehen in der Ausrichtung besonderer Zusammenkünfte (ein zweitägiger, der Kreiskongreß, und ein eintägiger, der Tagessonderkongreß), denen der Kreisaufseher (KA) vorsitzt, und zwei Besuchen des KA pro Jahr in jeder Versammlung (allerdings wachsen die Kreise schneller, als KA vorhanden sind, und nicht jeder Versammlung werden zwei Besuche abgestattet). Diese einwöchigen Besuche dienen der vermehrten Aktivität in der Versammlung, Zusammenkünften des KA mit den Ältesten, Dienstamtgehilfen und Pionieren und dem Schreiben von Berichten durch den KA - um die Ortsversammlung anzuspornen und das nationale Zweigbüro zu informieren. Der KA ist ein engagierter "Mann der Gesellschaft" (wenigstens bis zu seinem Burnout), und er hält ein strenges Auge auf Abweichungen einzelner Versammlungen von der Norm - das geht sogar so weit wie bis zum Spielen von Musik: KA haben Versammlungen, in denen zu Klavierbegleitung gesungen wurde, davon in Kenntnis gesetzt, daß die WTG die Anweisung herausgegeben hat, "um der Einheitlichkeit willen" Musik von Bändern zu spielen, die die WTG geliefert hat.

Über ihn wacht wiederum der Bezirksaufseher (BA), der den jährlichen Bezirkskongressen vorsitzt und der jeden Kreis (und eine "Gastversammlung") zur Zeit des jeweiligen Bezirkskongresses besucht. Nur für den Fall, daß KA und BA anfangen, sich eine persönliche "Hausmacht" zu verschaffen, werden sie nach jeweils drei Jahren in einen anderenLandesteil geschickt - sie agieren als Verbindungsglieder zwischen den beiden Hälften, aber sie gehören fest zur Organisation. In der Vergangenheit haben sich KA und BA ganz auf die WTG verlassen und besaßen gerade das, was in ihr Auto paßte, und sie haben sich wegen Unterkunft und Ausgaben auf die Versammlungen und wegen einer Beihilfe auf die WTG verlassen. Neuerdings geht der Trend dahin, daß sie ihre eigene Wohnung haben, sowohl für die Ruhezeiten zwischen den Besuchen als auch als Rückzugsraum. Der Begriff Aufseher selbst ist die Wiedergabe des griechischen Wortes episkopos in der Neuen-Welt-Übersetzung, gewöhnlich im Deutschen als Bischof übersetzt.