Zorn, Wut gar, Bedauern, Mitleid, Anteilnahme, dann wieder Rachegelüste ("Eigentlich müßte man diesen miesen, tatterigen, skrupellosen, religiös-fanatischen Alt-Herren-Club mal so richtig aufmischen und anschließend dichtmachen.") - Dies ist das Spektrum meiner Gefühlslage nach der Lektüre seines Buches "Der Gewissenskonflikt".

Allein die Alternative des Untertitels ging mir gehörig gegen den Strich: "Menschen gehorchen oder Gott treu bleiben?". Dazu kann ich nur sagen: Weder-noch. (Ach, übrigens: Ich bin ex Zeuge Jehovas und Atheist. Alles klar?)

Ja, ich räume ein: Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie es so manchem Zeugen Jehovas ergeht, wenn er (oder sie, um der Gleichberechtigung die Ehre zu geben) erste Zweifel gegenüber so mancher "geoffenbarter Wahrheit", wie sie von diesem "Alt-Herren-Club", genannt "Leitende Körperschaft", verkündet wird, hegt. Und kommt einem in diesem Stadium des Vielleicht-sich-Entfernens auch noch dieses Buch unter die Augen, dann, ja gewiß, kann so mancher Prozeß enorm beschleunigt werden. Für einen ernsthaft gläubigen Zeugen Jehovas müssen diese Enthüllungen des Innenlebens des inneren Kerns der Organisation einen regelrechten Schock bewirken. Die unglaubliche Skrupellosigkeit, Chuzpe, ja Dreistigkeit in der Entgegengesetztheit der Argumentationslinien (immer "biblisch begründet") in der Frage der "christlichen Neutralität" gegenüber den Betroffenen - hier in Mexiko, da in Malawi - macht einen fassungslos. Solche Heuchelei, sowie die Bereitschaft, um materieller Vorteile willen und zur Verteidigung von Macht- und Besitzansprüchen, buchstäblich über Leichen zu gehen (es sind ja 'nur' Afrikaner), sind empörend und dürfen nicht unter den Teppich gekehrt werden.

Solch abstoßende Doppelbödigkeit kann ganz bestimmt so manches Glaubensgebäude und Weltbild zum Einsturz bringen oder doch zumindest schwer erschüttern.

Auch die Methoden, die angewandt wurden, um den Namen und guten guten Ruf des Authors erst zu verunglimpfen und schließlich möglichst zu zerstören, sind ekelerregend. Das alles ist mir doch sehr zu Herzen gegangen und hat mich in meinem Innersten aufgewühlt; ich gebe es zu.

Ich will aber nicht über die m.E. sehr bedenklichen Seiten dieses Buches schweigen. Auch diese sollten erörtert werden:

Raymond Franz muß bei der Abfassung des Buches mindesten 60 Jahre alt gewesen sein. (Sein genaues Alter habe ich aus dem Text nicht erinnerlich. [Möglicherweise habe ich die Stelle auch schlicht überlesen])

Mich verwundert die Tatsache, daß er sisch in ideologischer Hinsicht nicht wirklich von den Lehren der Zeugen Jehovas entfernt hat. Stattdessen habe ich den Eindruck, das Gedankengut eines besonders ehrlichen, aufrichtigen und wahrhaft frommen, bibeltreuen Zeugen Jehovas gelesen zu haben.

Zu jedem neuen Kapitel seines Buches beruft er sich - vorzugsweise - auf den Apostel Paulus und in für mich besonders verstörender Art auch in dessen selbstherrlichen Duktus.

Immer wieder habe ich beim Lesen gedacht: "Oh! ein neuer Heiliger ist erstanden!" Als Atheist, der dazu auch noch nicht der Norm eines "wahren Christen" entspricht, nämlich der einzig zugelassenen sexuellen Ausrichtung zu entsprechen, fühle ich mich durch seine Zeilen völlig ausgegrenzt. Denn, wie er sinngemäß ausführt, gibt es sogenannte ehrbare oder reine Motive, kein Zeuge Jehovas mehr sein zu können, und es gibt andere, selbstsüchtige Motive: Stolz, materielles Gewinnstreben, Machtstreben, Streben nach Einfluß und Ansehen, oder einfach das sinnliche Vergnügen.

R. Franz hat selbstredend reine, ehrbare Gründe, kein Zeuge Jehovas mehr zu sein: Sein "christliches Gewissen" ließ es einfach nicht mehr zu, 'einer Organisation anzugehören, die zwar von sich behauptet, Gott zu dienen, deren Macheneigenschaften in Wirklichkeit aber diese Behauptung Lügen strafen.'

Franz reiht sich ohne allzugroße Bedenken in eine lange AHnenreihe religiös verfolgter, "ehrlicher Christenmenwschen" ein, zu denen Luther, Jan Hus, gar die Apostel Petrus und Johannes und nicht zuletzt der "große" Apostel Paulus zählen.

Diese Art des Diskurses, dieses kindlich-naive Wörtlichnehmen der Bibel kann ich mir nur mit seinen amerikanisch-puritanisch, bibeltreuen Wurzeln erklären.

Aber diese frömmelnde, bigotte Art des Denkens - vielleicht auch Handelns - ist mir doch zutiefst suspekt. Wie mag ein solcher Mensch wohl über meinesgleichen (nicht hetero) denken. Ich glaube, vor seinem gerechten, reinen Urteil könnte ich nie und nimmer bestehen.

Es ist für mich sehr bestürzend, im 21. Jahrhundert feststellen zu müssen, daß die frömmelnde Religiösität, trotz der Jahrhunderte beispielsweise der Renaissance und trotz der großen, denkerischen Leistungen beispielsweise eines Immanuel Kant des Zeitalters der Aufklärung, immer noch nicht zu überwinden gelungen zu sein scheint.

Daß ein über 60jähriger Mann mit einer solchen Erfahrung im Zentrum der Macht es gedanklich nicht über den fundamentalistisch interpretierten biblischen Deutungstellerrand hinaus gebracht hat und sich scheinbar nicht wirklich der zutiefst verborgenen Mechanismen der Ideologien an sich bewußt geworden ist, macht mich, gelinde gesagt, doch sehr nachdenklich.

Bleibt mir am Schluß ihm selbst und allen anderen, die den Weg einer Entfernung von den Zeugen Jehovas angetreten haben, zu wünschen, daß ihnen mehr als "nur" christliche Gedankengänge vergönnt seien, um die "Käseglocke" der Ideologie(n) anzuheben, darunter hervorzukriechen und keine Angst vor echter Gedankenfreiheit zu haben.

Bernd Galeski

auch interessant