Niemand machte sich große Gedanken über das Buch, als es 1949 veröffentlicht wurde, und eigentlich erregte es auch in den Jahren danach kein großes Aufsehen. In den letzten beiden Jahrzehnten jedoch hat das Buch 1984 von George Orwell eine weitaus größere Leserschaft erreicht.

Orwell zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die durch politische Ideologien Gehirnwäsche bis an den Punkt betreibt, wo keine anderen Gedanken mehr toleriert werden. Obwohl die Chancen heute schlecht stehen, daß eine politische Organisation jemals eine solche Kontrolle über das Leben von Menschen ausüben könnte, haben ironischerweise religiöse Sekten das Fahrwasser aufgenommen. Damit ein totalitäres ideologisches System wirklich funktionieren kann, müssen alle Untertanen dieses Systems nicht nur einfach daran glauben, sondern dies auch mit Begeisterung tun. Selbst im kommunistischen Rußland, das einmal fast Orwells Welt glich, war es unmöglich, alle Leute für die Ideologie zu gewinnen. Doch wahre Gedankenkontrolle ist in religiösen Kreisen in einer Weise verwirklicht worden, die Politiker vor Neid erblassen ließe.

Seelische Krüppel

Jemand hat einmal gesagt, religiöse Sekten würden aus ihren Anhängern seelische Krüppel machen, und wenn es dem Opfer gelingt, die Gruppe zu verlassen, muß es einen Kampf führen, um wieder ein normales" Glied der Gesellschaft zu werden. Warum geschieht dies?

Oft lehren solche religiösen Gruppen ihre Anhänger, zu vermeiden, normale Gefühle zu zeigen; ob man nun jemanden umarmt, ob man singt oder tanzt, weint oder lacht oder was auch immer. Wenn man jemandem sagt, ein solches Zeigen von Gefühlen sei "unerwünscht", dann muß er neue Verhaltenskodizes entwickeln, die eher auf Menschenfurcht als auf Gottesfurcht beruhen. Solche abrupten Änderungen in den Reaktionen können zu psychologischen Problemen und zu Verwirrung führen. Aber es gibt weitere, bedeutsamere Probleme, die sich gewöhnlich entwickeln.

Wir wachsen in einer bestimmten Gesellschaft oder Kultur auf und entwickeln gewisse normative Verhaltensweisen auf die Umstände des Lebens. Wenn uns jemand schlägt, werden wir wütend auf ihn. Wenn er ein spaßiges Gesicht aufsetzt, lachen wir spontan. Wenn er uns anlächelt, lächeln wir zurück. Wenn jemand uns ablehnt, versuchen wir damit fertig zu werden, wenn es nicht um Entscheidendes geht. Mit anderen Worten, wir lernen, mit anderen auszukommen", damit wir in dieser Welt in der Lage sind, Freunde zu gewinnen, auch wenn wir nicht mit der Art einverstanden sind, wie andere leben oder welche philosophischen oder religiösen Ansichten sie haben. Das Interesse an Menschen spielt eine wichtige Rolle bei unserer Bereitschaft, mit anderen trotz Unterschieden auszukommen. Doch was passiert, wenn wir anfangen, mehr an uns selbst oder die Kleingruppe, der wir angehören, zu denken und eine Klique zu bilden? Dann setzen wir uns entweder körperlich oder psychologisch von anderen ab. Vielleicht haben wir nicht einmal mehr mit denen Umgang, die wir einmal als gleichrangig ansahen. Auf religiösem Gebiet ist dies der erste Schritt zum Sektendenken.

Wie wird Cliquendenken zu Sektendenken? Zwischen beiden besteht nur ein schmaler Grat. Dieser Grat ist im allgemeinen überschritten, wenn Menschen mit Sektenmentalität versuchen, Gott mehr in die Sache hineinzuziehen, und den Glauben an ihre Sichtweise wesentlich für eine Rettung machen. Die Angst, in Harmagedon sein Leben zu verlieren, reicht vielleicht als Beweggrund, das Glaubensgebäude zu ändern! Wenn nicht, wird die Angst, Freunde und Angehörige zu verlieren (und vielleicht noch verbale und physische Kränkungen zu erleben), den nötigen Beweggrund zur Änderung liefern. Während die Behandlung Außenstehender durch eine Klique gewöhnlich durch Distanziertheit gekennzeichnet ist oder dadurch, daß man auf den "Außenstehenden" herabblickt, kann die Behandlung, die einem eine Sekte angedeihen läßt, auf psychologischen, seelischen und vielleicht (wie im Falle von Jonestown) sogar auf realen Mord hinauslaufen.

1984 ist ein Zeugnis, wie dieser Grundsatz auf politischem Gebiet wirkt. Da viele Religionen wie Jehovas Zeugen, Mormonen, die Weltweite Kirche Gottes usw. einfach eine "vergeistigte" Form von Herrschaft sind und viel "politische" Tätigkeit damit verbunden ist, besteht eine enge Analogie. Ich habe darum einige Auszüge aus dem Buch 1984 ausgewählt, um die Ähnlichkeit zwischen der Wachtturm-Welt und der Orwells aufzuzeigen.  (Anmerkung des Übersetzers: Die Zitate sind der im Ullstein-Verlag erschienenen Übersetzung von Michael Walter [ISBN 3-548-23410-0] entnommen).

Zu Beginn des Buches zeichnet Orwell das Bild einer Weltmacht, die sich mit der Wahrheit und mit historischen Aufzeichnungen versucht, um sich den Anstrich zu geben, immer "recht" zu haben. Die Weltmacht ist Ozeanien, und Eurasien ist der Rivale. Es wird auch der "Große Bruder" oder die "Gesellschaft" erwähnt. Man denke an die Ähnlichkeiten zwischen diesem politischen System und der "Mutter" Organisation der Zeugen Jehovas, die gleichfalls als "Gesellschaft" bezeichnet wird (ein Begriff, der sowohl im Wachtturm benutzt wird als auch in der kommunistischen Welt benutzt wurde, um die Tatsache zu verbergen, daß die wahre Herrschaft in den Händen einer Handvoll Männer liegt). An dieser Stelle kann ich nicht widerstehen, den Wachtturm vom 1. Juli 1957, Seite 403, anzuführen, wo gesagt wird, wenn wir im Licht der Wahrheit wandelten, müßten wir nicht bloß Jehova Gott als Vater, sondern auch seine Organisation als "Mutter" anerkennen.

Wir kommen nun zu den Auszügen aus dem Buch 1984.

... das Fürchterliche dabei war, daß alles wahr sein konnte. Wenn die Partei in die Vergangenheit eingreifen und von diesem oder jenem Ereignis behaupten konnte, es hat nie stattgefunden - dann war das doch gewiß erschreckender als Folter und Tod?

Die Partei sagte, daß Ozeanien sich nie mit Eurasien verbündet hatte ... Aber wo existierte dieses Wissen? Nur in seinem eigenen Bewußtsein ... Und wenn alle anderen die von der Partei oktroyierte Lüge akzeptierten - wenn alle Berichte gleich lauteten -, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. "Wer die Vergangenheit kontrolliert", lautete die Parteiparole, "kontrolliert die Zukunft, wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit." ... Es war ganz einfach. Es erforderte nichts weiter als eine nicht abreißende Siegesserie über die eigene Erinnerung. "Realitätskontrolle" nannte man das, in Neusprech: "Doppeldenk". (Seite 39)

Wie wirklich ist die Wirklichkeit - oder das, was wir als Wirklichkeit wahrnehmen? Wenn eine Organisation die Macht besitzt, die Geschichte zu verändern, welche Schrecken könnten verübt werden? Die Geschichte kann nur auf lange Sicht in Büchern aufgezeichnet werden - aber was, wenn die Bücher geändert werden?

Die leitende Körperschaft der Zeugen Jehovas weiß, daß sie die Kontrolle über die Vergangenheit besitzen muß, um die Zukunft zu kontrollieren. Wie? Grundsätzlich auf vier Weisen: Es wird verhindert, daß der durchschnittliche Zeuge Zugriff auf die Fehler oder Täuschungsmanöver der Vergangenheit hat, die Vergangenheit wird verklärt, die Vergangenheit wird als unwichtig abgetan, oder es werden die Bücher selbst verändert!

Für die leitende Körperschaft ist Wirklichkeit das, was sie jeweils als gegenwärtiges Licht vom "treuen und verständigen Sklaven" ansieht, womit sie natürlich sich selbst meint. Was in der Vergangenheit gelehrt wurde, soll nicht einmal mehr betrachtet werden; tatsächlich käme es schon einem Abfall vom Glauben gleich, wieder an frühere Ansichten zu glauben (die als "altes Licht" bezeichnet werden). Jehovas Zeugen müssen mit der Zeit Schritt halten!

Für einen Zeugen Jehovas bedeutet das, daß er eine "Reihe von Siegen" über seine Erinnerung davontragen muß; an das, was vor zehn Jahren gelehrt wurde, darf er sich heute nicht mehr erinnern, denn das würde das Verständnis der gegenwärtigen Wahrheit durcheinanderbringen. Sollte es nötig sein, jemandem die Lehren der Vergangenheit zu erklären, kann er komplizierte Erklärungen verwenden, daß Wahrheit nur relativ im Vergleich zum Fortschritt der Organisation zu sehen ist. Er muß bereit sein, die Vergangenheit zu verleugnen und sie doch unterbewußt akzeptieren und in seinem Denken kompensieren. Und bei allem muß er vorsichtig sein, damit er sich nicht selbst zum Narren hält.

... Seine Gedanken entglitten in die labyrinthische Welt des Doppeldenk. Zu wissen und nicht zu wissen, absoluter Wahrhaftigkeit innezusein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte ... zu vergessen, was vergessen werden mußte, um es sich dann wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn es gebraucht wurde, und es dann gleich wieder zu vergessen; und vor allem, eben dieses Verfahren auf das Verfahren selbst anzuwenden. Das war die höchste Finesse: bewußt die Unbewußtheit herbeizuführen und sich dann wieder des eben vollbrachten Hypnoseakts unbewußt zu werden. Allein schon das Begreifen des Wortes "Doppeldenk" beinhaltete den Gebrauch von Doppeldenk. (1984, Seite 39-40)

Beispielsweise zu wissen, daß die Wachtturm-Gesellschaft wirklich die Menschen dazu verführte, zu glauben, das Ende der Welt käme im Jahre 1975, und es doch zu verleugnen und dann die Verleugnung als wahrhaftig anzunehmen, absoluter Wahrhaftigkeit innezusein, während man sorgfältig konstruierte Lügen erzählte ... zu vergessen, daß die Wachtturm-Gesellschaft für 1914 das Ende der Welt vorhergesagt hatte und nicht die unsichtbare Wiederkehr Christi (die man für das Jahr 1874 glaubte); zu vergessen, was vergessen werden mußte, um es dann, wenn man darauf angesprochen wurde, wieder ins Gedächtnis zu rufen und einen Fehler zu nennen, um es dann einem anderen gegenüber wieder abzustreiten: das war die höchste Finesse! Und dann auf andere Religionsgemeinschaften weisen, die dasselbe tun, und sie zu beschuldigen, sie seien falschePropheten, heißt in doppelten Bahnen zu denken; daher der Vergleich mit Doppeldenk. Man bedenke, was die leitende Körperschaft selbst gesagt hat:

Allerdings hat es in der Vergangenheit Menschen gegeben, die erklärt haben, an einem bestimmten Tag werde die Welt untergehen ... Das "Ende" kam nicht. Sie hatten sich als falsche Propheten erwiesen. Warum? Warum hatten sie sich getäuscht? Sie hatten versäumt, darauf zu achten, daß alle Beweise vorhanden waren, die erforderlich sind, um biblische Prophezeiung zu erfüllen. Außerdem hatten diese Menschen die göttliche Wahrheit nicht, und es fehlte der Beweis, daß sie von Gott geführt und gebraucht wurden. (Erwachet!, 8. April 1969, Seite 23)

Wie kann die leitende Körperschaft so etwas sagen angesichts ihrer eigenen Geschichte falscher Prophezeiungen? Es läßt sich leicht belegen, daß sie mehrere Male das Ende der Welt vorhersagte. Es ist, wie Orwell sagt: "... zu vergessen, was vergessen werden mußte, um es sich dann wieder ins Gedächtnis zu rufen, wenn es gebraucht wurde, und es dann gleich wieder zu vergessen; und vor allem, eben dieses Verfahren auf das Verfahren selbst anzuwenden. Das war die höchste Finesse." Doppeldenk ist in der Tat das passende Wort dafür.

Selbsttäuschung ist etwas sehr Komplexes; ungefähr so, als wollte man eine Lüge hinter einer anderen verbergen. Man muß viele Faktoren in Betracht ziehen, wenn man jedesmal die Mißgriffe der Wachtturm-Gesellschaft entschuldigt. Wie völlig anders ist es doch, wenn man klar und einfach die Wahrheit sagt! Wie sehr ärgern sich doch oft Menschen über Jehovas Zeugen, weil sie nicht alles sagen, was sie zu einem Thema glauben, wie: "Wer allein wird in Harmagedon gerettet", oder: "Wer allein kann die Bibel verstehen."

Allein schon ein ungehöriger Gesichtsausdruck war einstrafbares Delikt. Es gab sogar ein Neusprechwort dafür: Blickdel. (1984, Seite 66)

Von einem Parteimitglied wird nicht nur verlangt, daß es die richtigen Ansichten, sondern auch, daß es die richtigen Instinkte hat. Viele der ihm abgeforderten Überzeugungen und Verhaltensweisen werden nie direkt formuliert und könnten auch nicht formuliert werden, ohne die dem Engsoz innewohnenden Widersprüche aufzudecken. Ist das Parteimitglied von Natur aus orthodox (in Neusprech: ein Gutdenker), dann wird es in allen Lebenslagen ohne Nachdenken wissen, was der richtige Glaube oder die erwünschte Emotion ist. Doch auf alle Fälle macht eine in der Kindheit durchlaufene geistige Schulung, die ihr Zentrum in den Neusprechwörtern Delstop, Schwarzweiß und Doppeldenk hat, es unwillig und unfähig, über irgendein Thema zu gründlich nachzudenken. (1984, Seite 212)

Aus persönlicher Erfahrung in sechs Jahren in der Wachtturm-Weltzentrale als Ältester und Fabrikaufseher, und gut bekannt als "Mann der Organisation", suchte ich gewissenhaft, der Inbegriff dessen zu sein, was ein Zeuge Jehovas sein soll. In der Realität konnte das nur erreicht werden, wenn man nicht nur den Wachtturm las, sondern auch wußte, wie das ganze System arbeitet und wie alle, die Verantwortung tragen, denken; wenn man ihre Beweggründe kennt und weiß, was sie am "funktionieren" hält. Würde man nur den Wachtturm lesen, ohne mit Jehovas Zeugen zusammenzukommen, bekäme man ein unrichtiges Bild der tatsächlichen Mentalität in der Organisation. Ich habe viel Zeit mit den älteren Angehörigen des Personals der Weltzentrale verbracht und täglich mit Menschen zusammengearbeitet, die dreißig oder noch mehr Jahre dazugehörten, auch aus der leitenden Körperschaft. Ich kannte ihre Denkweise ziemlich genau und konnte daher den effektivsten Weg ausmachen, im System voranzukommen, was ich auch tat. Wie in politischen Organisationen ist das Verständnis der Mentalität derer, mit denen man zu tun hat, der Schlüsselfaktor, um im System vorwärtszukommen. Man bekommt bald mit, warum bestimmte Entscheidungen getroffen werden und wer sie trifft. Man versteht, warum man zu bestimmten Vorgehensweisen greift und zu anderen nicht. Man erkennt auch, warum neue Regeln" aufgestellt, aber nicht gedruckt verbreitet werden, oder warum sie in Doppeldenk formuliert werden.

Das Ergebnis ist, daß zwei verschiedene Menschentypen sie auf zwei unterschiedliche Weisen auslegen werden. Der einfache Zeuge Jehovas wird beispielsweise die Feststellung: "Würde es von Weisheit zeugen, wenn ein Bruder aus einem Gebiet, wo dies nicht üblich ist, einen Bart trägt? Sein biblisch geschultes Gewissen könnte ihn bewegen, auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen" so auslegen, wie sie geschrieben steht; als eine Frage der Gewissensentscheidung. Doch ein Ältester oder ein organisationsbestimmter Zeuge würde eindeutig verstehen, daß es hier um eine neue Haltung geht, die der WACHTTURM einnimmt; klar zu verstehen als: Wenn du wie ein Bruder behandelt werden möchtest oder wenn du willst, daß man dir Verantwortung in der Versammlung überträgt, solltest du dir besser keinen Bart wachsen lassen! (Oder wenn du einen hast, rasier ihn besser ab!)

Oft wurden in den Zeitschriften oder im Königreichsdienst (einem internationalen, monatlich erscheinenden Blatt) Dinge veröffentlicht, die von den durchschnittlichen Zeugen nicht völlig verstanden wurden, aber wenn man alle Hintergrundinformationen kannte, ergab sich eine ganz neue Perspektive. Beispielsweise sagte ein Artikel im Königreichsdienst in den späten siebziger Jahren, die Gesellschaft würde es nicht mehr zulassen, daß Zeugen Jehovas große Versammlungen mit Sonderansprachen oder -programmen hielten, ohne daß die Gesellschaft in der Sache die Leitung hätte. Der durchschnittliche Zeuge hielt das nur für eine weitere Vorschrift, doch ein paar Personalangehörige kannten den wahren Grund dafür.

Anscheinend war einer der Ältesten, Colin Quackenbush, regelmäßig herumgereist und hatte Sonderansprachen für Jugendliche gehalten, die im ganzen Land gut besucht waren. Die leitende Körperschaft sah mit Neid, wie ein solches Programm mehr Aufmerksamkeit erregte als ihr eigenes. Doch selbst in der Weltzentrale verstanden nur wenige, worum es ging. In seinem Buch Der Gewissenskonflikt gibt Raymond Franz weitere Einsichten in den Fall preis. Franz gehörte viele Jahre lang selbst zur leitenden Körperschaft, und deshalb waren ihm die Vorgehensweisen dort gut bekannt.

Warum zeigt sich die leitende Körperschaft nicht ganz einfach und gibt ihre Maßstäbe für Kleidung und Vorschriften und Verhaltensregeln bekannt, so daß in diesen Angelegenheiten keine Fragen auftauchen? Sie behauptet zwar, dem individuellen Gewissen einen weiten Spielraum zu lassen, doch der eigentliche Grund ist der, daß es der Bibel widerspricht, wenn Christen Regeln für andere aufstellen (Röm. 7:6; 9:31, 32; Gal. Kap. 3). Das weiß sie auch, aber dennoch meint sie, es müsse eine Vielzahl von Vorschriften geben, damit alle im Gleichschritt mit der leitenden Körperschaft gehen. So gibt es ungeschriebene Gesetze, die nur durch den Geist derer bestimmt werden, die in Verantwortung stehen und so als Ausleger dieser Vorschriften für die einfachen Zeugen agieren. Üblicherweise übernehmen Kreisaufseher (reisende Vertreter, die mehreren Versammlungen vorstehen) diese Rolle als Ausleger. Sie lernen durch besondere Schulung, das Denken der Gesellschaft zu durchschauen und geben dann dieses Licht" an die Ältesten der Ortsversammlungen weiter.

Wenn ein Zeuge den herrschenden Geist in der Organisation genau bestimmen will, wird er, wie Orwell sich ähnlich ausdrückt, "in allen Lebenslagen ohne Nachdenken wissen, was der richtige Glaube oder die erwünschte Emotion ist". Einer der schwierigen Aspekte meiner gegenwärtigen Aufgabe ist nicht etwa, die Zeugen davon zu überzeugen, daß die Gesellschaft unrecht hat, sondern vielmehr, ihnen zu zeigen, was die Gesellschaft tatsächlich lehrt und glaubt. Wenn der einzelne nie ein "orthodoxer" Zeuge war, kann das zu Beginn recht verwirrend sein. Wer aber den Geist der Organisation in sich hatte, der wird die Täuschung durchschauen oder sich weigern, weiter darüber zu sprechen, weil ihn das zu sehr niederschmettert.

... die Überlegungen, die eventuell zu einer skeptischen oder rebellischen Haltung führen könnten, werden durch seine früherworbene innere Disziplin von vornherein unterbunden. Die erste und einfachste Stufe dieser Disziplin kann sogar schon kleinen Kindern beigebracht werden und heißt in Neusprech: Delstop. Delstop bezeichnet die Fähigkeit, geradezu instinktiv auf der Schwelle jedes riskanten Gedankens haltzumachen. Es schließt die Gabe mit ein, Analogien nicht zu begreifen, logische Fehler zu übersehen, die simpelsten Argumente mißzuverstehen, wenn sie Engsoz-feindlich sind, und von jedem Gedankengang, der in eine ketzerische Richtung führen könnte, gelangweilt und abgestoßen zu werden. (1984, Seite 212-213)

Sehr früh lernt ein Zeuge Jehovas, seine Vermutungen niederzuhalten, wenn sie sich gefährlichem Terrain zuwenden. Entweder spürt er, daß sie ihn im Verhältnis zu seinen Mitzeugen in Gefahr bringen (die ihn mit Argwohn betrachten werden), oder er geht den beschwerlichen Weg und öffnet seinen Mund und wird entsprechend zurechtgewiesen! Er lernt sehr schnell, daß er sich im gegenwärtigen Licht bewegen muß und nicht der Organisation vorangehen darf. Er darf nicht unabhängig denken. Die leitende Körperschaft wird in seinem Denken nun sein ein und alles sein. Das ist der einzige "sichere" Weg.

Ein Zeuge lernt, automatisch "verwirrende" Gedanken beiseitezuschieben, wie sie vielleicht aufkommen, wenn er von Haus zu Haus geht und jemand nimmt ihm das Wahrheits-Buch aus der Hand und schlägt es bei Seite 13 auf, wo es heißt:

Wir müssen nicht nur prüfen, was wir persönlich glauben, sondern auch, was die Religionsgemeinschaft lehrt, der wir angehören mögen. Sind ihre Lehren voll und ganz im Einklang mit Gottes Wort, oder stützen sie sich auf die Überlieferungen von Menschen? Wenn wir die Wahrheit lieben, brauchen wir uns vor einer solchen Prüfung nicht zu fürchten. Jeder von uns sollte aufrichtig wünschen, Gottes Willen uns betreffend kennenzulernen und ihn dann zu tun. ("Die Wahrheit, die zu ewigem Leben führt")

Der Wohnungsinhaber an der Tür könnte nun versuchen, mit dem Zeugen zu argumentieren und die eigene Logik des Buches zu benutzen: "Warum untersuchen wir also nicht die Geschichte des WACHTTURMS in den vergangenen 100 Jahren?" Gewöhnlich erwidert der Zeuge mit einem starren Gesichtsausdruck oder er fragt zurück: "Waren sie einmal ein Zeuge?" Mit anderen Worten: Woher wissen Sie so viel über uns? Damit weigert man sich, einem logischen Argument zu folgen, das von anderen kommt, während man gleichzeitig versucht, selbst logische Argumente anzubringen. Der Zeuge wird von jedem Gedankengang gelangweilt oder abgestoßen sein, der nicht von ihm selbst stammt und der sich als für seinen sicheren Stand in der Organisation gefährlich erweisen könnte.

Kurz gesagt, Denkstop bedeutet schützende Dummheit. Aber Dummheit allein reicht nicht. Im Gegenteil, strikte Orthodoxie verlangt eine ebenso vollständige Kontrolle über die eigenen Denkvorgänge, wie sie ein Schlangenmensch über seinen Körper besitzt.Die ozeanische Gesellschaft fußt letztlich auf dem Glauben, daß der Große Bruder allmächtig und die Partei unfehlbar ist. Aber da in Wirklichkeit weder der Große Bruder allmächtig noch die Partei unfehlbar ist, bedarf es einer nicht nachlassenden Flexibilität im Umgang mit Tatsachen. Das Schlüsselwort lautet hier: Schwarzweiß. Es besitzt, wie so viele Neusprechwörter, zwei einander widersprechende Bedeutungen. Einem Gegner gegenüber gebraucht, meint es die Angewohnheit, im Widerspruch zu den offenkundigen Tatsachen impertinent zu behaupten, Schwarz sei weiß. Einem Parteimitglied gegenüber gebraucht, bedeutet es die loyale Bereitschaft zu sagen, Schwarz sei weiß, wenn die Parteidisziplin dies verlangt. Aber es bedeutet ebenfalls die Fähigkeit zu glauben, daß Schwarz Weiß ist, und darüber hinaus zu wissen, daß Schwarz Weiß ist, und zu vergessen, daß man jemals das Gegenteil geglaubt hat. Dies erfordert eine ständige Veränderung der Vergangenheit, die durch jenes Denksystem ermöglicht wird, das eigentlich alles übrige in sich einschließt und das in Neusprech den Namen Doppeldenk trägt. (1984, Seite 213)

Die Wachtturm-Gesellschaft ruht sich auf dem Glauben aus, die Mutter" Organisation könne einen nicht in die Irre führen. Wenn sie später bloßgestellt wird, weil sie einen Fehler gemacht oder einer Lüge Vorschub geleistet hat, ist man besser dran, wenn man bei dem Fehler bleibt oder nach der Lüge lebt, als daß man auf eigene Faust die Wahrheit erkennt! Mann kann nichts verkehrt machen, wenn man weiterhin im Gleichschritt mit der Mutter" marschiert. So ist sie praktisch unfehlbar (obwohl sie das gleichzeitig abstreitet). So herrscht innerhalb des WACHTTURMS (wie bei dem Großen Bruder) das unermüdliche Bemühen seitens der Schreibabteilung, flexibel mit der Wahrheit" umzugehen und stets bereit zu sein, irgendeine lächerliche Analogie zu finden, damit sie zeigen können, daß sie wirklich auf dem richtigen Kurs sind. So wird das Beispiel eines Schiffes gebraucht, das, um von "Punkt A" zu "Punkt B" zu gelangen, hin und wieder kreuzen oder eine Zickzacklinie fahren muß (siehe den Wachtturm vom 15. Mai 1982, Seite 27-29). Oder man gibt vielleicht die Erklärung, Jehova Gott wollen einen nur "prüfen", indem er zuläßt, daß die "Mutter" Organisation zu dem Glauben verleitet, die Welt ende zu einem bestimmten Zeitpunkt, wobei sie doch gut genug weiß, daß es nicht dann geschehen würde.

Doch wenn eine andere Religion ihre Lehre ändert, kritisiert sie die leitende Körperschaft sehr schnell mit den Worten aus Epheser 4:14:

... damit wir nicht mehr Unmündige seien, die wie von Wellen umhergeworfen und von jedem Wind der Lehre hierhin und dorthin getrieben werden durch das Trugspiel der Menschen, durch List im Ersinnen von Irrtum.

Interessanterweise sagt der Wachtturm vom 15. August 1976 auf Seite 490:

Es ist eine schwerwiegende Sache, Gott und Christus zuerst auf eine bestimmte Weise zu vertreten, dann festzustellen, daß das Verständnis wichtiger und grundlegender Lehren der Bibel falsch war, aber danach ausgerechnet zu den Lehren zurückzukehren, die man aufgrund jahrelangen Studiums als verkehrt erkannt hatte. Christen dürfen hinsichtlich solch grundlegender Lehren nicht unschlüssig oder gar wankelmütig sein. Wenn sie es wären, wie könnte man ihnen dann Vertrauen schenken und sich auf ihre Aufrichtigkeit oder auf ihr Urteilsvermögen verlassen?

Wenn sie das nur auf sich selbst anwenden würden! Interessant ist Orwells Kommentar:

Denn das Geheimnis der Herrschaft liegt darin, den Glauben an die eigene Unfehlbarkeit mit der Fähigkeit zu kombinieren, ausden Fehlern der Vergangenheit zu lernen. (1984, Seite 216)

Das ist der höchste Wunsch aller intelligenten Sekten: absolute Macht mit Unfehlbarkeit und der Fähigkeit zu kombinieren, aus falschen Prophezeiungen und verkehrter Handlungsweise zu lernen.

Die Mutter Organisation wünscht zu jeder Zeit absolute Loyalität. Sie beansprucht, ein Prophet wie Hesekiel und Jeremia zu sein (siehe den Wachtturm vom 1. Januar 1983, Seite 26-27). Sie beansprucht, für Jehova Gott, den Schöpfer des Universums, ein Sprachrohr zu sein und weigert sich doch, auch die Verantwortung eines Propheten zu tragen. Gemäß ihrer Bibelausgabe in 5.Mose 18:20-22 sind sie falsche Propheten, wenn man sie im Lichte ihrer eigenen Geschichte untersucht. Manchmal gebraucht sie die Entschuldigung: "Wir sind keine falschen Propheten, weil wir unsere Fehler zugeben." Nun, dann habe ich Neuigkeiten für den Leser: Jeder falsche Prophet, der das Ende der Welt für eine bestimmte Zeit vorhersagt, gibt seinen Fehler am Tag danach zu! Wie sonst sollte er seine Anhänger festhalten?

Aber genau das ist der Wunsch der leitenden Körperschaft: absolute Macht, und dazu der Verantwortung für ihre Fehler ledig sein. Wer könnte sich mehr wünschen?

Natürlich werden einige sagen, der Wachtturm sei nicht inspiriert. Doch damit haben sie genau das nicht zur Kenntnis genommen, was die Angehörigen der leitenden Körperschaft im Laufe der Jahre gesagt haben! Beispielsweise sagte Fred Franz, der vorletzte Präsident, im Olin Moyle-Prozeß in Schottland 1943, ohne es näher auszuführen, Jehova selbst sei der Herausgeber der Zeitschrift, und was darin stehe, sei direkt das Wort Gottes (#25962597 der Mitschrift)! Der Watchtower vom 1. Juli 1943 (nur englisch) führt auf Seite 203 aus, wie Jehova die "Wahrheit" an den "treuen und verständigen Sklaven" weitergibt: "Er (Jehova) benutzt die 'Sklavenklasse' nur, um die Auslegung zu verbreiten, nachdem das Höchste Gericht unter Jesus Christus sie offenbart hat."

Bezüglich des Engelwesens, das der Prophet sah und in Hesekiel 43:6 beschrieb, heißt es in dem Buch Rechtfertigung, geschrieben von Joseph Rutherford (dem zweiten Präsidenten), in Band III, Seite 250, der "Mann" sei ein himmlischer Bote und stelle die himmlischen Boten oder Engel des Herrn dar. Ohne Zweifel würden sie die Anweisung des Herrn an den Überrest zuerst vernehmen und dann würden diese unsichtbaren Boten die Anweisung an den Überrest weitergeben. So hätten die Engel des Herrn seit 1919 Dienst für den Überrest verrichtet.

Ein weiterer wichtiger Punkt, den Orwell erörtert, hängt eng mit Doppeldenk zusammen, daß nämlich bei einer erfolgreichen Manipulation der Gedanken die Person nicht mehr das Gegenteil von dem sagt, was sie denkt, sondern daß sie das Gegenteil von dem denkt, was richtig ist. Wenn jemand beispielsweise seine Unabhängigkeit und Integrität völlig aufgegeben hat und sich als etwas betrachtet, das dem Staat gehört, fühlt er sich frei, weil er die Diskrepanz zwischen Wahrheit und Falschheit nicht mehr wahrnimmt. Insbesondere trifft dies auf Ideologien zu. Wie die Inquisitoren, die ihre Gefangenen folterten, glaubten, daß sie im Namen christlicher Liebe handelten, lehnt die Partei jeden Grundsatz ab und verunglimpft ihn, für den die sozialistische Bewegung ursprünglich stand, und sie tut dies im Namen des Sozialismus." Der Inhalt wird ins Gegenteil verkehrt, und doch glauben die Menschen, die Ideologie bedeute das, was sie sagt.

Das ist der am meisten beängstigende Aspekt an den Täuschungen der leitenden Körperschaft. Durch ein schlaues Gehirnwäscheprogramm ist es ihr nicht nur gelungen, vier Millionen Menschen zu dem Glauben zu verleiten,schwarz sei weiß und Tag sei Nacht, sie hat sie auch noch gelehrt, dies nicht in Frage zu stellen!

Jesus sagte, um in das Königreich Gottes zu gelangen, müßten wir wiedergeboren werden (Joh. 3:3, 7). Er sagte, daß wir wirklich Gemeinschaft mit ihm haben müßten, um Leben zu erlangen (Joh. 6:53, 54). Er sagte, daß wir nicht auf die hören sollten, die behaupten, Christus sei insgeheim oder unsichtbar zurückgekehrt; er komme vielmehr wie ein Blitz (Matth. 24:23-27) und selbst seine Feinde würden ihn sehen (Offb. 1:7)! Er sagte, er käme zurück, um seine Kinder mit sich heimzunehmen (1. Thess. 4:14-17). Der Schreiber des Hebräerbriefes sagt, Jesus sei eindeutig keinEngel (Hebr. Kap. 1), und der Apostel Johannes sagt, Jesus habe das Wesen und die Natur Gottes (obwohl er nicht der Vater ist; siehe Johannes 1:1).

Vorsicht! Eine Handvoll Männer in New York bestreitet, daß der Leser das Recht hat, irgendeine der genannten Verheißungen auf sich zu beziehen!

Daran zu denken, (und vier Millionen sind es noch) daß ich von einer Organisation eine solche geschickte Gehirnwäsche erhalten hatte, die fast alles beiseitegefegt hatte, wofür die christliche Kirche fast 2000 Jahre lang stand, um sich dann selbst als die christliche Kirche auf diesen Platz zu stellen, ist gelinde gesagt beängstigend. Man kann nicht einfach untätig dasitzen und ihr erlauben, solch eine Kontrolle über Menschen auszuüben. Sie hat es fertiggebracht, ihre Anhänger davon zu überzeugen, daß Wahrheit etwas ist, das in einem relatives Verhältnis zur Politik der Organisation steht. Intellektueller Selbstmord! Sie hat alles abgelehnt, was der Feind" (die Christenheit) zu sein beansprucht, um es dann für sich selbst zu beanspruchen.

Wir wollen uns in Liebe denen zuwenden, die innerhalb dieser Organisation ihren Kampf führen. Wir müssen für unsere Brüder und Schwestern, die noch drin sind, normale Menschen sein (keine religiösen Spinner), und sie an unserem Leben erkennen lassen, daß das Christentum etwas Wahrhaftiges ist, daß man in Christo seinen Sinn auf Menschen richtet, nicht auf Organisationen (Kol. 1:27).