Wie Sekten die Realitäten umdeuten
Grundlage meiner Betrachtung ist Der Wachtturm vom 15. Januar 2010.
Dieser Essay beschäftigt sich mit einer der Säulen der Glaubenswelt der Zeugen Jehovas: Abhängigkeit. Sie bedeutet den Verzicht auf selbstbestimmtes Denken, Reden und Handeln sowie die Verleugnung oder Abspaltung unerwünschter Teile der Persönlichkeit.
Der getaufte Zeuge Jehovas hat dieses Abhängigkeitsverhältnis bejaht, es ist Teil seiner durch die Glaubensgemeinschaft veränderten Persönlichkeit geworden. Dass er "Jehova" oder richtiger: der Wachtturm-Gesellschaft "gehört", stört ihn nicht, im Gegenteil, er stimmt diesem Abhängigkeitsverhältnis zu.
Da er nicht hinterfragt, zweifelt oder abwägt, ermöglicht er es seinen Geistesherren, ihn zu manipulieren und zu konditionieren. Und den Geistesherren fällt es leicht, dem formbar gemachten Geist des Abhängigen die "biblischen Wahrheiten" als "Speise zur rechten Zeit" vorzusetzen:
Jehova bot den Israeliten etwas sehr Kostbares an, als er zu ihnen sagte: "Ihr werdet bestimmt mein besonderes Eigentum aus allen Völkern werden." (Exodus 19, 5) Heute haben wir als Glieder der Christenversammlung ebenfalls die Ehre, Jehova zu gehören — ein Vorrecht, das nie enden muss.
Die Analogie zwischen "Volk Gottes"— damals (Israel) und "Volk Gottes"— heute Zeugen Jehovas ist schnell hergestellt, leicht zu verstehen und zu verinnerlichen.
Dabei wissen weder "Verführer" noch "Verführter" etwas von der Usurpation des jüdischen Glaubens und damit seiner vollständigen Neu- und Umdeutung durch die Gelehrten des aufkommenden neuen Glaubens: des Christentums. Nichts wissen sie darüber, dass dies kleine unbedeutende Bergvolk sich für seine Bedürfnisse die passende Gottheit schuf, der sie Identität und eine eigene Erzählung verdankte und die ihr half, sich in der von übermächtigen Feinden wimmelnden Umwelt zu orientieren und ihnen Selbstbewusstsein zu verleihen (nach Gedanken aus: "Keine Posaunen vor Jericho" von Israel Finkelstein und Neil A. Silberman). Auch haben sie keine Ahnung davon, dass die Schriften eines "Paulus" die alten Schriften theologisch neu aufbereitet, ihnen eine "christliche" Deutung verpasst und sie in deren logischer, stringenter Konsequenz zugleich überflüssig gemacht hatten.
Nichts von alledem erfährt der Gläubige in den Spalten des Wachtturms und zwar deshalb, weil dessen Verfasser in dieser Hinsicht ebenso unwissend sind wie er selbst. Stattdessen gibt es eine vereinfachte Aufbereitung des Bibelkontextes, verbunden mit eingängigen Anweisungen, die der Gläubige leicht nachvollziehen kann und die er ohnedies nicht mehr zu hinterfragen in der Lage wäre.
Nun also zu der "logischen" Konsequenz des eingangs Festgestellten:
Jehova zu gehören bringt allerdings auch Verantwortung mit sich. Mancher fragt sich deshalb vielleicht: Kann ich den Erwartungen Jehovas überhaupt gerecht werden? Und was ist, wenn ich einen Fehler mache? Lässt er mich dann fallen? Wenn ich Jehova gehöre, bin ich dann noch ein freier Mensch?
Zur Erinnerung:
Bei dem besprochenen Wachtturm handelt es sich um eine gruppeninterne Schrift. Wie alle Ausgaben mit Datum vom 15. des Monats ist auch diese nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Während in den Schriften für das interessierte Publikum von Paradies, Gerechtigkeit, dem "Abwischen jeder Träne", dem Ende von Schmerz, Geschrei und Trauer, von unvorstellbaren Wonnen in der "verheißenen neuen Welt" die Rede ist, spricht man mit den bereits Bekehrten Klartext.
"Es bringt Verantwortung mit sich", heißt nichts anderes als: Das Paradies gibts nicht zum Nulltarif. "Jehova" stellt Erwartungen an seine "Diener", denen sie gerecht werden müssen.
Man soll sich davor hüten, Fehler zu machen, es könnte nämlich sein, dass "Jehova" nicht nur der Paradiesschöpfer ist, sondern auch der "Rachegott". Auch stellt die Religionsgemeinschaft Freiheit unter Vorbehalt. Ich werde später darauf zurückkommen, wenn ich ein Phänomen beleuchte, das in seiner manipulativen Kraft nicht zu unterschätzen ist. Doch dazu später.
Gehen wir erst einmal im Text weiter:
Derartige Bedenken sind verständlich. Befassen wir uns aber erst einmal mit einer anderen wichtigen Frage: Warum ist es nur zu unserem Besten, Jehova zu gehören?
Bevor man auf die o. a. berechtigten Fragen eingeht, muss erst einmal die Nutzenrechnung aufgemacht werden: Was kostet es, Eigentum "Jehovas" zu sein? Was sind die Vorteile, was die Nachteile des zu unterzeichnenden Vertrags?
Und wenn etwas derart Fundamentales wie die persönliche Freiheit zur Disposition steht, sind die entsprechenden Textpassagen interessant.
Nichts von alledem erfährt der Leser. Zuerst soll der Boden für eine bereitwilligere Akzeptanz des später Folgenden bereitet werden:
Jehova zu gehören macht glücklich
Wie ist es Menschen ergangen, die Jehova gehörten?
Anhand zweier Beispiele zeigt die Religionsgemeinschaft, dass man nur dann glücklich und zufrieden sein kann, wenn man sich zu Jehova bekennt.
Von Rahab erfahren wir aus der Bibel kaum mehr, als dass sie zwei Spionen des Volkes Israel Unterschlupf gewährt hat.
Dann lesen wir von einer Moabiterin, namens Ruth, die sich dafür entschied, bei ihrer Schwiegermutter zu bleiben. Damit fügte sie sich unter das Gesetz Mose. Diese Ruth arbeitete als Ährennachleserin auf dem Feld eines gewissen Boas, was zeigt, dass es ihr in Wahrheit nicht wirklich gut ging, wenigstens nicht materiell. Schließlich gibt es doch noch eine Art Happy-End: Sie heiratet besagten Boas, was für die Geburt eines gewissen Jesus aus Nazareth noch von entscheidender Bedeutung sein wird... Über das weitere Schicksal ihrer Schwester Orpa hingegen erfährt man aus dem alten Buch nichts, außer dass sie zu ihrem Volk zurückkehrte.
Diese magere Ausbeute an "Historischem" hält indes die Religionsgemeinschaft keineswegs davon ab, die beiden Geschichten doch noch für ihre Zwecke zu gebrauchen. Sie bedient sich dann gern solcher Formulierungen wie:
... sicherlich praktizierte Rahab den lasterhaften Götzenkult der Kanaaniter...
und
wie froh muss sie gewesen sein, dass sie ihr früheres Leben hinter sich lassen konnte!...
Oder über Ruth:
Als junges Mädchen hatte sie wahrscheinlich Kamos und andere moabitische Götter verehrt. Doch sie lernte den wahren Gott Jehova kennen...
Das Denkschema ist klar, die Manipulation hat bereits stattgefunden. Wie die oben zitierten biblischen Beispiele 'belegen', macht die Abhängigkeit von "Jehova" glücklich, beendet ein nutzloses Leben im Götzendienst, hebt den Menschen aus einem erniedrigten Stand als Götzenverehrer empor zu einem würdigen Dasein als Anbeter und Sklave "Jehovas".
Das "wirkliche Leben" hat begonnen. Der Boden ist bereitet für die nun folgenden genauen Instruktionen, wie das Abhängigkeitsverhältnis zu "Jehova" — gemeint ist aber die Religionsgemeinschaft — gefestigt und ausgebaut werden kann und soll:
Was könnte unser kostbares Verhältnis zu Jehova gefährden?
Nun, da festgestellt ist, dass die Sklaverei "Jehovas" eine Freude ist und die Erhebung des Menschen und seine Befreiung bedeutet, geht es nicht mehr um die eingangs gestellten Fragen nach den Nachteilen des Vertrages. Keine Rede davon, dass die Anforderungen für das Individuum eventuell zu hoch seien, und "Jehova" es dann fallenlassen könnte. Auch vom möglichen Verlust der Freiheit ist jetzt keine Rede mehr. Stattdessen droht Gefahr! Das als kostbar apostrophierte Abhängigkeitsverhältnis zu "Jehova" ist unerwünschten Gefährdungen ausgesetzt, es droht das Abgeschnittenwerden von einer notwendigen Daseinsquelle.
Unter anderem erwähnt der Psalmist die "Pest, die im Dunkeln wandelt" und die "Vernichtung, die am Mittag verheert". Viele hat der "Vogelfänger" durch den ausgeprägten Wunsch nach Unabhängigkeit in die Falle gelockt.
Unabhängigkeit ist böse, verkehrt, nicht normal. Abhängigkeit ist gut, richtig, normal.
Der "Vogelfänger", eine eindrucksvolle Metapher für "das Böse", den biblischen Teufel oder Satan. Gleich dem Vogelfänger, der die Vögel aus dem Versteck heraus, also hinterhältig mit einer nicht sichtbaren Falle, fängt, fängt der Teufel Menschen, die das Kleingedruckte des Vertrags mit "Jehova" gelesen und ihn lieber nicht unterschrieben haben. Jeder, der es ablehnt, ein Sklave "Jehovas" zu werden und damit, wie ich schon erläuterte, den Vertrag mit der Religionsgemeinschaft nicht eingeht, ist nach der Lesart der Zeugen Jehovas "dem Vogelfänger auf den Leim gegangen". Normal wäre es, so glauben es diese Leute, mit Freuden Eigentum des Höchsten, "Jehova", zu werden. Wer dies ablehnt, mit dem kann etwas nicht stimmen, der ist nicht normal, also muss in Wirklichkeit eine fremde böse Macht dahinter stecken. Unabhängigkeit ist böse, verkehrt, nicht normal. Abhängigkeit dagegen ist gut, richtig, normal.
Andere hat er eingefangen, indem er Gier, Stolz und Materialismus propagiert.
Gier, die stärkste Triebfeder alles Lebenden und eben auch des Menschen ist nach Definition der Religionsgemeinschaft ebenfalls nicht normal, sie ist böse und verkehrt. Gier sprengt Ketten, Gier sorgt für Nachkommen, Gier treibt zum Handeln an, Gier verschafft Unabhängigkeit und Lebenstüchtigkeit. Sie macht den Menschen wach, geistig rege und veranlasst ihn, Fragen zu stellen und die Beantwortung solcher Fragen durch eigenes Forschen zu versuchen. Gier ist der Lebensmotor schlechthin.
Wissbegier will das Kleingedruckte jedes Vertrages vor der Unterschrift lesen. Neugier stellt Althergebrachtes in Frage und wagt das Risiko.
All dieses Streben ist dem "Sklaven Jehovas" zutiefst suspekt, hat er doch eine Umdeutung dieses Begriffes und seiner praktischen Wirkungen vorgenommen und ist die Gier für ihn der Ausbund teuflischer Gesinnung.
Stolz, als Ausdruck eines gesunden, starken Selbstbewusstseins erhöht die Chance auf einen Sexualpartner, da das Unscheinbare nicht zum Zuge kommt. Die Oberschwanzdeckfedern des Pfauenhahns legen hierfür beredtes Zeugnis ab. Stolz kann im Umgang mit Menschen eine zutiefst törichte Verhaltensweise sein, besonders dann, wenn das Individuum, das sich seiner befleißigt, in Wahrheit nichts eigenes Präsentables vorzuweisen hat.
Diese Unterscheidung braucht der Gläubige nicht, für ihn reicht die Klassifizierung dieser Eigenschaft als "teuflisch" und daher rundheraus abzulehnen.
Materialismus ist nach der Interpretation der Religionsgemeinschaft ein recht vieldeutiger Begriff, eine Geisteshaltung, die ausschließlich negativ, da "satanisch", konnotiert ist.
Wieder andere hat er durch nationalistisches oder evolutionistisches Gedankengut verführt oder durch die falsche Religion.
Beide Weltanschauungen in einem Atemzug zu nennen, ist voll beabsichtigt. Jeder kennt die Auswüchse eines verfehlten, ungezügelten, von blankem Chauvinismus durchtränkten Nationalismus, dessen unseliger Wesenskern zuletzt in dem grausamen, mörderischen NS-Regime offen zutage trat, dem in Europa 6.000.000 Juden, dazu ungezählte Sinti und Roma zum Opfer gefallen sind.
Evolutionismus [statt des Terminus "Evolution"] in dieselbe fanatische Ecke stellen zu wollen, ist unredlich, da hierdurch die ernsthafte Erwägung dieser Denkfigur als mögliches Modell zur Erklärung der stofflichen Welt erst gar nicht in Betracht gezogen wird. Vielmehr ist "Evolutionismus" genauso wie "Nationalismus" desselben "teuflischen" Ursprungs, weshalb der "Diener Jehovas" beide als Gefahr für seine gewählte Abhängigkeit erkennt und sie meidet.
Wenn die Religionsgemeinschaft von der "falschen Religion" spricht, meint sie damit sämtliche Religionen der Welt außer den Zeugen Jehovas.
Und viele sind der Unsittlichkeit auf den Leim gegangen. All diese "Plagen" haben den Glauben von Millionen Menschen ruiniert; ihre Liebe zu Gott ist erkaltet.
Unsittlichkeit, ein Terminus, der wohl bald nur noch in fundamentalistischen Religionskreisen eine sinnstiftende Bedeutung haben wird, da die mit diesem Begriff gemeinten völlig natürlichen sexuellen Betätigungen der Menschen einfach nicht in Kategorien von sittlich oder nicht sittlich einzuordnen sind. Eine aufgeklärte, säkulare, rechtsstaatlich verfasste Gesellschaft braucht solche untauglichen vormodernen Schwarz-weiß-Denkschemata nicht mehr, da sie nicht am Menschen und seinen elementaren Bedürfnissen orientiert sind.
Die Religionsgemeinschaft aber legt Wert auf ein solch starres Muster, das sie dem Gläubigen vorlegt, damit dieser sich in einer längst unübersichtlich gewordenen Welt zurechtfindet.
Unsere Liebe zu Gott bewahren
Wie schützt Jehova sein Volk vor all diesen Gefahren? In dem Psalm heißt es: "Seinen Engeln wird er deinetwegen Befehl geben, dich auf all deinen Wegen zu behüten." (Psalm 91, 11) Engel leiten und behüten uns, damit wir die gute Botschaft verkündigen können. Auch Älteste, die sich beim Lehren eng an die Heilige Schrift halten, bieten uns Schutz. Sie warnen uns vor falschen Überlegungen und sind für jeden da, der darum kämpft, eine weltliche Einstellung zu überwinden.
Da all das oben Angesprochene für einen "Sklaven Jehovas" veritable Gefahren darstellt, wendet sich nun der hier in Rede stehende Wachtturm-Artikel der Frage zu, wie man vor diesen Gefahren wirksamen Schutz finden kann und wo.
Nun mag an Engel glauben, wer daran glauben will und kann. Aber auch hier nimmt die Religionsgemeinschaft eine Umdeutung der Begrifflichkeiten vor. Mit Engeln sind nicht etwa "Schutzengel" gemeint, die dem Einzelnen bei echten Gefahrensituationen auf wundersame Weise das Leben retten. Die Engel der Zeugen Jehovas haben einzig die Aufgabe, das "Predigen der guten Botschaft" zu überwachen und zu leiten. Damit dieses Missionierungswerk möglichst störungsfrei verläuft, fungieren sie im Einzelfall auch mal als Schutzengel.
Eine viel wichtigere Hilfe beim Schutz vor den glaubenszersetzenden Gefahren aber leisten die "Ältesten", die Gemeindevorsteher in den einzelnen "Versammlungen", den Gemeinden der Zeugen Jehovas. "Sie warnen [...] vor falschen Überlegungen", das heißt nichts anderes als dass sie jegliches Gedankengut ihrer Schäfchen aufspüren, das dazu geeignet ist, den Glauben zu untergraben und das Individuum in ein selbstbestimmtes Leben zu entlassen.
Dabei lassen die Gemeindevorsteher ('Ältesten') diese "weltliche" Gesinnung gar nicht erst aufkommen und bekämpfen sie da, wo sie aufscheint. Zur Not greifen sie zu den von der Religionsgemeinschaft vorgeschriebenen Sanktionsmaßnahmen, bis zum Ausschluss des "uneinsichtigen Missetäters".
Nicht zuletzt ist da der "treue und verständige Sklave". Er sorgt für geistige Speise — Belehrung, die uns ausrüstet, nicht auf die Evolutionstheorie hereinzufallen, unmoralischen Verlockungen zu widerstehen, nicht nach Ansehen oder Reichtum zu streben und auf der Hut zu sein vor zahllosen weiteren schädlichen Wünschen und Einflüssen. Fragen wir uns einmal: Was hat uns bisher geholfen, diesen Gefahren die Stirn zu bieten?
Der "treue und verständige Sklave", ist die oberste Führungsriege der Zeugen Jehovas. Als "Kanal Gottes", verkündet er alle Direktiven und alle Glaubensinhalte. Er allein hat die Deutungshoheit über Glaubensfragen. Ihm soll der einzelne Gläubige folgen, seinen Interpretationen der Bibel und den daraus abgeleiteten Anweisungen ist stets unwidersprochen zu glauben und zu gehorchen. Der "Sklave" verfügt über das stetig "heller werdende Licht" aller "Erkenntnis" und aller "Weisheit Gottes".
Dieses Führungsgremium, das ausschließlich aus Männern besteht, hat verfügt, dass die Evolutionstheorie ein böser Fallstrick des Teufels ist, vor dem sich die Gläubigen in acht nehmen müssen. Die Männer verstehen etwas von den "unmoralischen Verlockungen", weswegen sie davor warnen. Und sie kennen die böse Falle, in die hineintappt, wer nach Ansehen und Reichtum strebt. Auch vor dieser Schlinge des "Vogelfängers" warnen sie die Gläubigen.
All diesen Gefahren entgeht jedoch nur, wer sich stets vergegenwärtigt, dass es nur einen wirksamen Schutz davor gibt: Den "Kanal Gottes".
Was müssen wir tun, um unter Gottes "Schirm" oder an seinem geheimen Ort zu bleiben? So wie wir ständig auf Gefahren achten, die unser Leben bedrohen könnten, wie zum Beispiel Unfälle, Verbrecher oder Krankheitserreger, müssen wir auch auf Gefahren für unseren Glauben achtgeben. Nutzen wir deshalb regelmäßig die Anleitung Jehovas, die er uns in biblischen Veröffentlichungen, bei den Zusammenkünften und durch Kongresse gibt. Und bitten wir Älteste um Rat. Sind wir nicht gern mit Brüdern und Schwestern zusammen, deren positive Eigenschaften uns zugutekommen? Ganz bestimmt hilft uns die enge Verbundenheit mit der Versammlung, weise zu handeln.
Gegen Ende dieses Essays möchte ich nun noch den eingangs erwähnten Faden wieder aufgreifen: In Verbindung mit der zu Beginn in Frage gestellten Freiheit sprach ich von einem Phänomen, das in seiner manipulativen Kraft nicht zu unterschätzen ist. Dieses Phänomen möchte ich nun anhand des letzten zitierten Abschnitts aus der Zeitschrift Der Wachtturm näher beleuchten.
Wer gibt uns Freiheit?
Gibt man seine Freiheit auf, wenn man Jehova gehört? Nein, ganz im Gegenteil. Wer zur Welt gehört hat keine Freiheit. Die Welt ist von Jehova weit entfernt und wird von einem grausamen Gott in Sklaverei gehalten. Hier einige Beispiele: Satans System übt wirtschaftlichen Druck aus und beraubt Menschen so ihrer Freiheit. Die trügerische Macht der Sünde hat viele fest im Griff. Ungläubige versprechen oft Freiheit, wenn sie eine Lebensweise anpreisen, die Jehovas Anleitung total entgegengesetzt ist. Doch jeder, der auf sie hört, wird schneller als gedacht feststellen, dass er in einem sittenlosen und entwürdigenden Lebensstil gefangen ist.
Was man hier unschwer erkennt, ist eine Umdeutung der durch das Individuum wahrgenommenen Wirklichkeit durch die Religionsgemeinschaft:
Die Abhängigkeit von "Jehova" (oder richtiger: die Abhängigkeit von der Religionsgemeinschaft) wird als Freiheit deklariert. Die freie Wirtschaftsordnung in einem sozialen Rechtsstaat ist aus Sicht der Gemeinschaft "Sklaverei unter Satan". Ganz normale Regungen und Triebe des Menschen und deren Befriedigung sind "Sünde". Die freie, selbstbestimmte Lebensweise unabhängiger, mündiger Menschen wird mit einem Ruch des Verbotenen belegt, das zu einem sittenlosen, entwürdigenden Lebensstil führe. Wer nicht genau nach "Jehovas Anleitung" lebt, gilt als sündig, fehlgeleitet, versklavt und unwürdig. Nur unter der Abhängigkeit von "Jehova" gibt es Würde, Freiheit, Lebenssinn und Perspektive. Frei nach George Orwell:
»Unwissenheit ist Macht. — Freiheit ist Sklaverei. — Krieg bedeutet Frieden.«
Diese Umdeutung der Realitäten hat der Gläubige nicht nur einmalig angenommen, er hat sie als Teil seiner Persönlichkeit verinnerlicht. Er nimmt jedoch nicht wahr, dass es eine bloß oktroyierte Realität ist. Dadurch ist er perfekt in die Sklaverei der Sekte eingebunden.
Der Gläubige gehört also ganz im Sinne der Ideologie nicht mehr sich selbst, sondern ist mit Haut und Haar zum Eigentum, zur Verfügungsmasse der Religionsgemeinschaft geworden.