Betrachtungen zu Der Wachtturm 15. Mai 2008
Die Bergpredigt Jesu als Bestandteil seiner Lehre und des Neuen Testaments zählt wahrscheinlich zu den bekanntesten Teilen der Bibel; ihr hohes Ethos wird allseits anerkannt; das Wort Jesu „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen“ ist als goldene Regel weithin bekannt und sprichwörtlich geworden. Darum schätzen auch Nichtchristen, wie zum Beispiel Mahatma Gandhi, diesen Teil der Bibel sehr, und man kann viele Kommentare mit guten Gedanken über die Bergpredigt lesen, ja viele schreiben ausführlich und sehr positiv über sie.

Das tut auch Der Wachtturm vom 15. Mai 2008 in zwei für die Betrachtung im sogenannten Wachtturmstudium vorgesehenen Artikeln. Doch warum erinnern mich diese Ausführungen so an das Wort Jesu im Matthäus 23:3: „Alles nun, was sie euch sagen, dass ihr halten sollt, das haltet und tut es; aber nach ihren Werken sollt ihr nicht tun; sie sagen es wohl und tun es nicht“?

So erwähnt der Wachtturm auf Seite 6 die Worte Jesu aus Matthäus 5:23-24, wonach ein Israelit seine Opfergabe für den Altar lassen sollte, wenn er sich bewusst wäre, dass ein Bruder etwas gegen ihn habe, und er solle zuerst Frieden schließen, Versöhnung herbeiführen, dann solle er sein Opfer darbringen. Nun schreibt der Wachtturm richtigerweise, daß unsere Opfer heute anderer Art wären als die der damaligen Israeliten, und er sagt in Absatz 19, dass Jesus seine Weisung nicht auf bestimmte Opfer beschränkt habe. Jedes Opfer sei gegebenenfalls zurückzustellen. Doch dann wird plötzlich Einhalt geboten. Wie oft schon haben Jehovas Zeugen ihren Predigtdienst als Schlachtopfer der Lobpreisung gemäß Hebräer 13:15 bezeichnet. Sollten sie dann nicht diese „Opfer“ einstellen, bis sie Frieden untereinander geschlossen haben? Denn der persönlichen Spannungen und Streitigkeiten sind viele. Aber das möchte die leitende Körperschaft doch wohl nicht, daß man in solchen Fällen den Predigtdienst (befristet) aufgibt. Das wäre doch wohl gegen die Interessen der Organisation.

Auf den Seiten 8-11 bringt der Wachtturm noch folgende Gedanken, wobei auch das Gebot der Feindesliebe hervorgehoben wird:

Wir „segnen die, die uns fluchen“, sprechen also liebenswürdig mit ihnen. Und wir „beten für die, die uns verfolgen“ - die uns körperliche Gewalt antun oder uns „beleidigend“ behandeln... Würden wir nur die grüßen, die wir als „Brüder“ betrachten, wäre das nichts „Besonderes“... Die Pharisäer im ersten Jahrhundert spielten sich als strenge Richter über andere auf und stützten sich dabei auf unbiblische Traditionen... Wer so mit anderen umgeht, wie von Jesus beschrieben, lebt das Wesen des „Gesetzes“ aus.

In der Tat, gute Gedanken. Doch kann ich nicht verhindern, mich daran zu erinnern, wie Menschen behandelt werden, die aus Gewissensgründen die Organisation kritisierten oder sich von ihr trennten. Man schloß zum Beispiel eine Schwester aus der Gemeinschaft aus, nur weil sie mit einer ehemaligen Zeugin sprach und dies für christlich hielt. Und was ich für besonders schlimm halte: Jehovas Zeugen werden diese „Studienartikel“ betrachten, wären jedoch bereit und in der Lage, eine Woche später genau so bereitwillig Anweisungen über das völlig entgegengesetzte Verhalten gegenüber anderen Menschen, ja selbst gegenüber nahen Angehörigen wie Vater und Mutter, anzunehmen, wenn es dem ,Sklaven' gefiele, diese Anweisungen wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen.

Auf jeden Fall: für Menschen, welche der Organisation kritisch gegenüberstehen oder mit den Zeugen die Bibel als Maßstab grundlegend betrachten möchten, gelten die oben genannten Verhaltensweisen nicht.

Christus der Herr hat wohl vergessen, diese Gruppe ausdrücklich von seinen Worten auszunehmen; das hat dann der „Sklave“ nachgeholt. Oder?

Solche Dinge, wie oben angeführt, zu schreiben und zu veröffentlichen in dem Wissen um das verordnete Verhalten gegenüber früheren Brüdern und Schwestern, ist das nicht Heuchelei?